Tyrell griff nach seinem Sprachrohr und schrie:»Alle Mann an Deck, alle Mann klar zum Segel setzen!»
Er warf einen kurzen Blick auf Bolitho, der über das Schanzkleid hinausstarrte. Das Kaperschiff war nur vom Masttopp aus zu sehen. Aber wie gebannt schaute der Kapitän dorthin, wo es sein mußte, so, als ob er jedes einzelne Geschütz sähe, jede gähnende Kanonenmündung, genau wie an jenem Tag, an dem die Bonaventure den Widerstand der Miranda zur Seite gefegt hatte wie einen Abfallhaufen.
Graves trat auf Tyrell zu. Seine Augen ruhten auf den Seeleuten, die von den Befehlen noch immer verwirrt schienen.
«Es ist nicht leicht, vor einem Feind davonzulaufen«, sagte Tyrell.
Graves zuckte die Achseln.»Und wie steht es mit Ihnen? Ich dachte, Sie sollten mit diesem Ausgang zufrieden sein!«Er fuhr vor dem kalten Blick Tyrells zurück, fügte aber geschmeidig hinzu:»Für Sie wäre es doch wohl schwer, gegen einen Amerikaner zu kämpfen, oder?«Dann eilte er die Leiter hinunter zu seinen Leuten beim Fockmast.
Tyrells Augen verfolgten ihn.»Bastard!«Er sprach nur zu sich selbst und war von seiner eigenen Ruhe überrascht.»Bastard!»
Als er sich abwandte, sah er, daß Bolitho das Deck verlassen hatte.
Buckle deutete mit dem Daumen auf das Skylight.»Jetzt lacht er nicht mehr, Mr. Tyrell. «Seine Stimme klang grimmig.»Ich möchte sein Kommando nicht haben, nicht für alle Huren in Ply-mouth.»
Tyrell tippte an das Halbstundenglas und sagte nichts.
Wie anders ist er als Kapitän Ransome, dachte der Leutnant. Er würde weder Hoffnungen noch Befürchtungen mit jemand von ihnen geteilt haben. Und dieselben Seeleute, die nun bereits an den Wanten aufenterten, wären keineswegs überrascht gewesen, wenn er eine ähnliche Entscheidung wie Bolitho gefällt hätte. Aber sie glaubten, Bolitho könnte sie überallhin und gegen alle Chancen führen. Deshalb waren sie nun von seiner Entscheidung so verwirrt. Die plötzliche Erkenntnis bekümmerte Tyrell. Teilweise, weil Bolitho nicht verstand, vor allem aber, weil er derjenige war, der Bolitho hätte klarmachen sollen, wie fest sie alle zu ihm standen.
Ransome hatte sie immer benützt, aber nie geführt. Statt ein Beispiel zu geben, hatte er Regeln aufgestellt. Er dagegen. Tyrell blickte auf das Skylight, das jetzt geschlossen war, und in Gedanken hörte er wieder eine Mädchenstimme.
Graves kam nach achtern und tippte an seinen Hut. Angesichts der vielen beobachtenden Augen blieb sein Ton formell.
«Erlauben Sie, daß ich die Freiwache unter Deck entlasse, Sir?»
«Aye, nur zu, Mr. Graves. «Ihre Blicke kreuzten sich, dann wandte sich Tyrell ab.
Er schritt zur Reling und starrte zu den sorgfältig getrimmten Segeln, zu den sonnenverbrannten Toppsgasten auf den Rahen hinauf.
Der Freibeuter konnte sie jetzt unmöglich fangen, selbst wenn er sich noch so sehr anstrengte. Ein anderes Schiff vielleicht, einen Kauffahrer oder einen ahnungslosen Händler von den Bahamas, aber niemals die Sparrow.
Er sah den Bootsführer des Kapitäns bei den Wanten stehen.»Wie geht es ihm, Stockdale?»
Stockdale schaute ihn prüfend an, wie ein Wachhund einen möglichen Eindringling. Dann entspannte er sich ein wenig. Seine großen Hände hingen lose an beiden Seiten herunter.
«Er kommt sich vor wie an die Kette gelegt, Sir.»
Zornig blickte er auf das blaue Wasser hinaus.»Aber wir haben schon Schlimmeres erlebt, sehr viel Schlimmeres.»
Tyrell nickte. Aus Stockdales Augen war deutlich zu lesen, daß er die Wahrheit sprach.»Er hat in Ihnen einen guten Freund, Stockdale?»
Der Bootsführer wandte sein zerhauenes Gesicht ab.»Aye, ich habe ihn Dinge tun sehen, bei denen die meisten dieser Burschen hier zu ihren Müttern laufen und beten würden.»
Tyrell schwieg und rührte sich nicht. Er beobachtete das Profil des Mannes, in dessen Gehirn Erinnerungen auftauchten, Ereignisse, die so lebensnah waren, als ob sie erst gestern geschehen wären.
Stockdale sprach mit seiner wispernden Stimme:»Ich habe ihn wie ein Kind getragen. Ich habe ihn so außer sich vor Zorn gesehen, daß sich kein Totschläger in seine Nähe getraut hätte. Ein anderes Mal habe ich zugeschaut, wie er einen alten Mann in seinen Armen hielt, bis er starb, obwohl man für den armen Teufel wirklich nichts mehr tun konnte. «Er drehte sich um. Seine Augen blitzten erregt.»Mir fallen die rechten Worte nicht ein, sonst würden mir alle Leute zuhören wollen.»
Tyrell streckte eine Hand aus und berührte seinen muskulösen Arm.»Sie irren sich, Sie haben die rechten Worte gefunden. Danke, daß Sie mir etwas erzählt haben.»
Stockdale grunzte und ging schwerfällig zum Niedergang. Nie zuvor hatte er so gesprochen, aber irgendwie traute er Tyrell. Er war wie Bolitho ein Mann, nicht nur ein Offizier. Das genügte ihm.
Den ganzen Tag über rauschte die Sparrow in gischtsprühender Freiheit dem leeren Horizont entgegen. Die Wachen wechselten, Geschützübungen fanden statt, und ein Mann wurde ausgepeitscht, weil er nach einem Wortwechsel sein Messer gegen einen Kameraden gezückt hatte. Aber es gab keine Wettkämpfe an Deck, und als Heyward mit seinem Degen erschien, um eine neue Übungsreihe zu beginnen, fand er keine Teilnehmer. Auch Dalkeith kam nicht aus seinem Lazarett herauf, um ein paar Pistolenschüsse abzufeuern.
Bolitho blieb allein mit seinen Gedanken in der Kajüte. Er fragte sich, warum sein Befehl über den Kurs der Sparrow so schwer zu ertragen war. Kommando, Führerschaft, Befehlsgewalt waren nur leere Worte. Sie erklärten nicht seine wirklichen Gefühle, noch konnten sie böse Ahnungen wegwischen.
Wie der Konteradmiral es gesagt hatte, war der rechte Weg nicht immer beliebt oder am leichtesten zu gehen.
Als die Glocke die erste Hundewache ausläutete, hörte er wieder einen Schrei aus dem Masttopp.
«Wahrschau an Deck! Segel in Lee voraus!»
Bolitho zwang sich, am Tisch sitzen zu bleiben, bis Fähnrich Bethune nach unten kam und berichtete, daß sich das Segel kaum von der Stelle rührte. Das Schiff schien beigedreht zu liegen.
Auch jetzt noch zögerte er, bevor er an Deck erschien. Gab es eine neue Enttäuschung? Oder wieder die Notwendigkeit, einem Gefecht auszuweichen? Nur die Zeit und die Entfernung würden ihm Aufschluß geben können.
Graves hatte die Wache.»Wäre es eine unsrer Fregatten, Sir, könnten wir dann nicht umkehren und die Bonaventure angreifen?»
Heyward fügte hinzu:»Vielleicht könnten wir sie dann als Prise nehmen?»
Bolitho sah sie kalt an.»Und wenn es eine französische Fregatte ist, was dann?»
Er bemerkte, wie sie unter seinem Blick erstarrten.»Ich schlage vor, daß Sie Ihre Gedanken bei sich behalten.»
Aber das einsame Segel gehörte weder zu einem Freibeuter noch zu einem patrouillierenden Kriegsschiff. Als die Sparrow auf sie zuhielt, beobachtete Bolitho das fremde Schiff durch sein Glas. Er sah die Lücke in seinem Rigg, wo die Großstenge heruntergebrochen war wie ein Ast vom Baum. Die riesigen Schrammen an seinen Flanken bewiesen, wie hart Wind und See ihm zugesetzt hatten.
Buckle sagte leise:»Bei Gott, es muß den vollen Sturm abbekommen haben. Ich glaube, es ist ziemlich übel dran.»
Tyrell, der zur Großstengenrah hinaufgeklettert war, glitt an einer Backstage herunter auf Deck und berichtete.»Das Schiff kenne ich. Es ist die Royal Anne, ein Westindienfahrer.»
Buckle stimmte zu:»Aye, Sie haben recht. Sie setzte drei Tage vor uns Segel in Sandy Hook. Soll nach Bristol bestimmt sein, wie ich hörte.»
«Heißen Sie die Flagge.»
Bolitho schwenkte sein Glas langsam über die Decks des Schiffes. Er bemerkte die winzigen Figuren, die dort in Gruppen umherstanden, das zerbrochene Schanzkleid, wo eine riesige See wie ein stürzender Felsen an Bord gedonnert war. Ein trauriger Anblick! Spieren fehlten, Segel hingen in Fetzen. Der Kauffahrer mußte den ganzen Sturm ausgeritten haben, an dessen Rand sie in der Nacht entlanggesegelt waren.