Er überlegte, was wohl aus Tracys anderem Schiff, der gekaperten Brigg geworden war, die er Revenge genannt hatte. Ob sie noch immer britische Geleitzüge angriff, reiche Ladung für willig angebotenes Prisengeld erbeutete?
Die Kabinentür flog auf, und Moffitt kam herein, einen Krug mit Rum und ein Glas in der Hand.
Er sagte:»Mr. Frowd meint, Sie könnten jetzt einen Schluck vertragen.»
Bolitho verabscheute Rum, aber er brauchte etwas Belebendes. Also trank er das gefüllte Glas auf einmal leer, obwohl er beinahe daran erstickte.
«Ist bei Mr. Frowd alles in Ordnung?«Er mußte ihn bald besuchen gehen, aber vorläufig wurde er noch an Deck benötigt.
Moffitt nahm das geleerte Glas und grinste bewundernd.»Aye, Sir. Ich habe ihn in seiner Koje festgelascht, dort ist er sicher.»
«Gut. Schicken Sie Buller zu mir.»
Bolitho lehnte sich zurück und fühlte, wie das Heck unter ihm erst hochstieg, dann wegsackte, während die See das Ruder wie ein Stück Treibholz schüttelte.
Buller kam in die Kajüte, den Kopf wegen der Decksbalken gesenkt.
«Sir?»
«Sie übernehmen die Aufsicht über die Lebensmittel. Suchen Sie sich jemanden, der kochen kann. Wenn es weiter abflaut, machen Sie das Kombüsenfeuer wieder an und sehen zu, daß die Leute etwas Heißes in den Magen bekommen.»
Buller zeigte seine starken Zähne.»Allright, Sir. «Dann war er auch schon wieder draußen.
Bolitho seufzte, das Aroma des Rums umwehte ihn wie eine Droge. Kommandokette. Er mußte sie aufbauen, niemand sonst war hier, der ihn hätte ermutigen oder tadeln können.
Sein Kopf fiel zur Seite, aber er schnellte mit plötzlichem Widerwillen hoch. Wie George Probyn, das war ein feiner Anfang! Er sprang auf und fluchte, als sein Kopf gegen einen Decksbalken krachte. Aber das machte ihn sofort wieder nüchtern.
Er ging weiter nach vorn, schwankend und sich bei den heftigen Bewegungen der Brigg festhaltend.
Winzige Kabinen auf beiden Seiten eines kleinen, quadratischen Raumes: die Messe. Vorräte, Schießpulver, dann weiter vorn im Gang schwankende Hängematten. Alles roch neu, bis hinunter zu den Messetischen, den großen Rollen aufgeschossenen, starken Tauwerks im Vorschiff.
Er fand den verwundeten Tracy in einer winzigen, noch nicht ganz fertiggestellten Kammer. Ein Seemann mit rotgeränderten Augen saß in einer Ecke, die Pistole in den Händen.
Bolitho betrachtete die Gestalt in der Koje: ein mächtiger, hartgesichtiger Mann von etwa dreißig Jahren, der trotz seiner fürchterlichen Wunden und des Blutverlustes sehr lebendig aussah. Aber mit dem an der Schulter abgerissenen Arm stellte er keine große Gefahr mehr dar.
Die anderen Verwundeten waren einigermaßen gut untergekommen und verhielten sich ruhig. Sie waren alle verbunden und mit Kissen, freien Hängematten, Decken und Kleidungsstücken einigermaßen gegen die heftigen Schiffsbewegungen abgestützt.
Bolitho hielt unter einer wild hin und her schwingenden Lampe inne und fühlte den Schmerz der Verwundeten, ihr fehlendes Verständnis der Situation. Er schämte sich, an seinen eigenen Vorteil zu denken. Die armen Teufel wußten nur, daß sie von ihrem Schiff weggeschafft wurden, das — gut oder schlecht — ihr Heim gewesen war. Wohin ging es jetzt? Mit irgendeinem heimkehrenden Schiff nach England, und dann was weiter? An Land geworfen, ein weiterer Haufen verkrüppelter Seeleute. Helden für die einen, Witzfiguren für die anderen.
«Bald bekommt ihr etwas Heißes zu essen, Jungs.»
Ein paar Köpfe wandten sich ihm zu. Einen Mann erkannte er als Gallimore, einen Seemann, der auf der Trojan als Anstreicher eingesetzt gewesen war. Er war durch Kartätschentreffer schwer verwundet, hatte den größten Teil der rechten Hand verloren und war von großen Holzsplittern im Gesicht getroffen worden.
Es gelang ihm zu flüstern:»Wo segeln wir hin, Sir?»
Bolitho kniete neben ihm nieder. Der Mann würde sterben. Er wußte nicht, wieso, aber es war ihm klar. Andere hier waren schwerer verwundet, trugen aber ihren Schmerz mit Trotz, mit wütender Resignation. Sie würden überleben.
Er antwortete:»Nach English Harbour. Die Ärzte dort können Ihnen helfen. Das werden Sie sehen.»
Der Mann faßte nach Bolithos Hand.»Ich will nicht sterben, Sir. Ich habe Frau und Kinder in Plymouth. «Er versuchte, den Kopf zu schütteln.»Ich muß doch nicht sterben, Sir?»
Bolitho fühlte einen Klumpen in seiner Kehle. Plymouth. Genausogut hätte es Rußland sein können.
«Ruhen Sie sich aus, Gallimore. «Er entzog ihm vorsichtig die Hand.»Sie sind unter Freunden.»
Er ging wieder nach achtern zum Niedergang, tief gebeugt wegen der Decksbalken.
Wind und Gischt waren ihm jetzt beinahe willkommen. Er fand Couzens mit Stockdale am Ruder, während Quinn sich mit zwei Seeleuten nach vorn hangelte.
Stockdale sagte mit seiner rauhen Stimme:»Alles hält gut, Sir. Mr. Quinn sieht nach den Luvbrassen. «Dann blickte er zum dunklen Himmel auf.»Der Wind hat noch einen Strich weiter geschralt, auch etwas abgeflaut.»
Der Bug hob sich himmelwärts und stürzte dann mit Donnern und Beben in ein Wellental. Es hätte genügt, einen Mann von den Rahen zu schleudern, wäre einer oben gewesen.
Stockdale murmelte:»Muß schlimm sein für die Verwundeten unten, Sir.»
Bolitho nickte.»Gallimore wird sterben, glaube ich.«»Ich weiß, Sir.»
Stockdale drehte das Rad ein paar Speichen weiter und sah das vibrierende Großmarssegel an, das prall wie ein Ballon an seiner Rah zerrte, als wolle es sich selbständig machen.
Bolitho musterte ihn. Natürlich wußte es Stockdale. Er hatte den größten Teil seines Lebens mit Leidenden und Sterbenden verbracht, erkannte den nahenden Tod mit sicherem Blick.
Quinn kam über das Deck nach achtern, taumelnd und strauchelnd bei jedem Sturz des Bugs in ein neues Wellental, der das ganze Schiff erzittern ließ.
Er rief:»Der Backbordanker hatte sich freigearbeitet, wir haben ihn wieder gekattet.»
Bolitho erwiderte:»Geh hinunter, stell zwei Wachen auf, nachher sprechen wir darüber.»
Quinn schüttelte den Kopf.»Ich möchte nicht allein sein, ich muß etwas zu tun haben.»
Bolitho dachte an den Mann aus Plymouth.»Geh zu den Verwundeten, James, nimm etwas Rum oder sonst etwas mit, was du unten findest, und gib es an die armen Teufel aus.»
Es wäre sinnlos gewesen, ihm von Gallimore zu erzählen, besser war es, den Sterbenden bis zuletzt am Trost, den die Flasche den Seeleuten spendet, teilhaben zu lassen.
Ein kleiner dunkler Italiener namens Borga schlüpfte mit Buller zusammen den Niedergang hinab. Also schien dieser bereits einen Koch gefunden zu haben. Hoffentlich war es eine gute Wahl. Heißes Essen nach einem harten Tag, das war etwas Gutes, konnte aber einen Aufruhr hervorrufen, wenn es nichts taugte. Er sah Stockdale an und mußte lächeln. Wenn sich das letztere einstellte, so würde es rasch erledigt werden.
Noch eine Stunde, und die Sterne schauten hervor, die rasenden Wolken waren vertrieben wie eine Bande Landstreicher.
Bolitho fühlte, daß die Brigg jetzt ruhig lag, und fragte sich, ob es wohl eintreten würde, was Bunce vorausgesagt hatte: zwei Tage Sturm, dann wieder Flaute.
Wie versprochen, wurde eine warme Mahlzeit fertiggestellt und zuerst an die Verwundeten ausgegeben, dann an die Seeleute, die in kleinen Gruppen zum Essenholen hinuntergingen.
Bolitho aß seinen Anteil mit großem Wohlbehagen, obgleich er nicht wußte, was es war. Es entpuppte sich dann als ein Gemisch aus gekochtem Fleisch, Hafermehl, gemahlenem Schiffszwieback, das Ganze mit etwas Rum abgeschmeckt. Er hatte noch nie etwas Derartiges gegessen, aber im Augenblick hätte das Mahl an der Tafel eines Admirals bestehen können.
Zu Couzens sagte er:»Tut es Ihnen jetzt leid, daß Sie unbedingt auf die White Hills wollten?»
Couzens schüttelte den Kopf, den Magen bis zum Bersten gefüllt mit Borgas erstem Produkt.