Bolitho nickte. Cairns war achtundzwanzig, während er selbst knapp einundzwanzig Jahre zählte, aber der Abstand zwischen dem Ersten und dem Vierten Offizier war größer, als das Alter es ausdrückte. Er wartete ein wenig und fragte dann beiläufig:»Irgend etwas bekannt über des Captains Mission an Land, Sir?»
Cairns schien in Gedanken.»Ruf die Toppsgasten herunter, Dick, sie sind sonst so steifgefroren, daß sie nicht zupacken können, wenn das Wetter schlechter wird. Der Koch soll eine heiße Suppe ausgeben. «Er zog eine Grimasse.»Das wird dem geizigen Schmierlappen Freude machen. «Er blickte Bolitho an.»Welche Mission?»
«Nun, ich dachte, vielleicht bekommen wir neue Befehle. «Er hob die Schultern.»Oder so etwas Ähnliches.»
«Sicher, der Captain war beim Befehlshaber, aber ich bezweifle, daß wir etwas anderes zu hören bekommen als das übliche: erhöhte Wachsamkeit, Augen auf bei der Arbeit…»
«Verstehe. «Bolitho blickte zur Seite. Er wußte nie genau, wann Cairns völlig ernst war und wann nicht.
Dieser zog seinen Rock höher und hielt ihn über der Kehle zusammen.»Machen Sie weiter, Mr. Bolitho.»
Sie grüßten beide durch Handanlegen an den Hut, die Zwanglo-sigkeit für den Augenblick beiseite lassend, dann rief Bolitho:»Fähnrich der Wache!«Er sah, wie sich eine der im Schutz des Hängemattnetzes lehnenden Gestalten löste und auf ihn zulief.
«Sir!»
Es war Midshipman** Couzens, dreizehn Jahre alt, eines der
* Kapitän eines Kriegsschiffes
** Seekadett bzw. Fähnrich zur See
neuen Besatzungsmitglieder, die kürzlich mit einem Transport aus England gekommen waren. Rundgesichtig, ständig fröstelnd, glich er seine Unkenntnis mit einem Eifer aus, den weder seine Vorgesetzten noch das Schiff brechen konnten.
Bolitho informierte ihn über die zu erwartende Rückkehr des Kommandanten sowie wegen des Kochs und ließ dann zur Wachablösung pfeifen. Diese Anweisungen gab er mechanisch, ohne sich dessen wirklich bewußt zu sein. Dafür betrachtete er Couzens, sah aber nicht diesen, sondern sich selbst im entsprechenden Alter.
Auch er war damals an Bord eines Linienschiffes gewesen und wurde von jedermann gehetzt und schikaniert, so kam es ihm wenigstens jetzt in der Erinnerung vor. Einen aber hatte er wie einen Helden verehrt, einen Leutnant, der möglicherweise von seinem Vorhandensein kaum etwas wußte. Bolitho jedoch hatte sich auch später immer an ihn erinnert. Der war niemals grundlos wütend geworden, nahm auch nie seine Zuflucht zu Schikanen und Demütigungen, wenn er selbst vom Kommandanten getadelt worden war. Bolitho hatte gehofft, einmal so zu werden wie dieser Offizier. Er hoffte es noch immer.
Couzens antwortete eifrig und stramm:»Aye, aye, Sir.»
Auf der Trojan gab es neun Midshipmen, und Bolitho fragte sich mitunter, wie deren Leben später wohl verlaufen werde. Einige würden bis zum Flaggoffizier aufsteigen, andere dagegen vorher straucheln oder umkommen. Gewiß war unter ihnen auch die übliche Mischung von Tyrannen und echten Führernaturen, von Helden und Feiglingen.
Später, als die neue Wache schon unterhalb des Aufbaudecks gemustert wurde, rief einer der Ausgucksposten:»Boot in Sicht, Sir!«Dann nach einer kleinen Pause:»Der Kommandant!»
Bolitho warf rasch einen Blick nach unten auf das quirlende Durcheinander beim Antreten der neuen Wache. Der Kommandant hätte sich keinen ungünstigeren Augenblick aussuchen können.
Er rief hinunter:»Wahrschaut den Ersten Offizier! Fallreepsposten raus, dem Bootsmann Bescheid sagen!»
Gestalten flitzten in der Dunkelheit hin und her, und während die Marineinfanteristen schwerfällig zur Pforte stampften, ihre weißen, gekreuzten Brustriemen im schwachen Licht leuchtend, versuchten die Unteroffiziere, einigermaßen Ordnung in den Haufen der neuen Wache zu bringen.
Ein Boot tauchte auf aus dem Dunst und näherte sich rasch dem Fallreep; im Bug stand bereits kerzengerade der Bootsgast, Bootshaken bei Fuß.
«Boot ahoi?»
Sofort kam die laut gerufene Antwort des Bootssteurers: «Trojan!«Ihr Herr und Meister war also zurück. Der Mann, der — nächst Gott — jede Stunde und Minute ihres Lebens bestimmte, der belohnen, auspeitschen, befördern oder hängen konnte, entsprechend der jeweiligen Situation. Er weilte jetzt wieder unter ihnen, in ihrer überfüllten kleinen Welt.
Als Bolitho sich umsah, war Ordnung, wo vor kurzem noch Chaos zu herrschen schien. Die Seesoldaten waren angetreten, das Gewehr geschultert, kommandiert von dem sympathischen Hauptmann der Marineinfanterie d'Esterre, der mit seinem Leutnant vor der Front stand, anscheinend unempfindlich gegen Wind und Kälte.
Die Bootsmannsmaaten der Wache waren zur Stelle und feuchteten bereits die Lippen an, hatten die silbernen Pfeifen klar zum Seitepfeifen; Cairns, die Augen überall, wartete darauf, den Kommandanten zu empfangen.
Der Bootshaken griff in die Fallreepskette, die Gewehre wurden mit lautem Griff präsentiert, die Bootsmannsmaaten pfiffen ihren schrillen Salut. Des Kommandanten Kopf und Schultern tauchten auf, und während er seinen Zweispitz in Richtung Achterdeck hin lüftete, ließ er zugleich einen prüfenden Blick über das ganze Schiff schweifen, über seinen Kommandobereich.
Zum Ersten Offizier sagte er kurz:»Kommen Sie nach achtern, Mr. Cairns«, dann nickte er den Marineinfanteristen zu.»Gut gemacht, D'Esterre. «Er wandte sich abrupt um und fuhr Bolitho an:»Wieso sind Sie hier, Mr. Bolitho?»
Während er noch sprach, ertönten acht Glasen[1] von der Back her.
«Sie sollten doch schon abgelöst sein?»
Bolitho sah ihm ins Gesicht.»Ich nehme an, Mr. Probyn ist aufgehalten worden, Sir.«»So, das nehmen Sie an?»
Der Kommandant hatte eine scharfe Stimme, die wie ein Entermesser in das Heulen des Windes und das Knarren der Stengen schnitt.
«Die Verantwortung des Wachegehens beginnt mit der Ablösung. «Er blickte in Cairns unbeteiligtes Gesicht.»Das sollte doch nicht so schwer zu begreifen sein, denke ich.»
Sie gingen nach achtern, und Bolitho atmete tief und langsam aus.
Leutnant George Probyn, sein unmittelbarer Vorgesetzer, kam öfter zu spät zur Wachablösung, übrigens auch zum sonstigen Dienst.
Er war ein Sonderling in der Messe, mürrisch, streitsüchtig, verbittert, aber aus welchem Grund, das hatte Bolitho noch nicht herausgefunden. Er sah ihn die Steuerbord-Schanztreppe heraufkommen, vierschrötig, unordentlich, sich argwöhnisch umschauend.
Bolitho trat ihm entgegen.»Die Wache ist achtern angetreten, Mr. Probyn.»
Probyn wischte sich das Gesicht und schneuzte dann in ein rotes Taschentuch.
«Ich nehme an, der Captain hat nach mir gefragt?«Selbst diese paar Worte klangen bei ihm feindselig.
«Er hat gemerkt, daß Sie nicht da waren. «Bolitho roch Branntwein und fügte hinzu:»Aber er hat sich damit zufriedengegeben.»
Probyn winkte den wachhabenden Steuermannsmaaten herbei und sah flüchtig das Logbuch durch, das dieser ihm unter eine Laterne hielt.
Bolitho sagte müde:»Keine besonderen Vorkommnisse. Ein Seemann ist verletzt und ins Lazarett gebracht worden. Er fiel vom Bootsdavit.»
Probyn schnaubte verächtlich.»Schande. «Er klappte das Buch zu.»Sie sind abgelöst. «Finster brütend blickte er Bolitho nach und fügte drohend hinzu:»Wenn ich glauben müßte, daß mir jemand hinter meinem Rücken Schwierigkeiten macht.»
Bolitho drehte sich um und verbarg seinen Ärger. Meckere nicht, du Trunkenbold, die machst du dir schon selbst, dachte er.
Probyns grobe, polternde Stimme folgte ihm auf der Schanztreppe, als dieser seiner Wache die üblichen Anweisungen gab.
Während er leichtfüßig den Niedergang hinablief und dann weiterging zur Messe, überlegte Bolitho, was der Kapitän wohl mit Cairns zu besprechen habe.
Einmal unter Deck, umfing ihn die Trojan und hüllte ihn ein mit ihrer ganzen Vertrautheit. Die Gerüche nach Teer, Hanf, Bilge und Menschenleibern gehörten genauso zu ihr wie ihre Bordwände.