Weston hatte bereits im Signalbuch geblättert und rief aus:»Von Spite: Segel in Sicht im Süden!»
Bolitho wandte sich ihm zu und betrachtete ihn. Weston war jetzt der dienstälteste Fähnrich, und an ihm nagte wohl Pears Rat, Mr. Frowd an seiner Stelle zum kommissarischen Leutnant zu befördern. Der» Rat «eines Kommandanten war so gut wie ein Befehl.
Bolitho hatte beinahe Mitleid mit Weston. Beinahe. Denn er war ungeschlacht, feist, streitsüchtig und würde einen schlechten Offizier abgeben, wenn er lange genug lebte.
«Gut. Behalten Sie die Spite im Auge. Ich werde dem Kommandanten noch keine Meldung machen.»
Bolitho setzte seinen Spaziergang auf dem Achterdeck fort. Die Luft wirkte frisch, aber wenn man stehen blieb, spürte man die Kraft der Sonne. Bolithos Hemd war klitschnaß, und die Schulterwunde schmerzte wie ein Schlangenbiß.
Der Kommandant der Korvette würde jetzt vermutlich Überlegungen anstellen und ungeduldig auf des Admirals Entscheidung warten, ob er zur näheren Untersuchung des fremden Schiffes beordert wurde.
Eine halbe Stunde verging. Rauch quoll fettig aus dem Kombüsenschornstein, und Molesworth, der Zahlmeister, erschien mit seinem Assistenten auf dem Weg zur Proviantlast, um die tägliche Ration Rum oder Branntwein auszugeben.
Ein paar Marineinfanteristen, die auf der Back die Abwehr von Enterern geübt hatten, marschierten nach achtern und gaben ihre Lanzen wieder ab. Es war auch ein kleines Kontingent vom Flaggschiff dabei, das die Lücken auffüllen sollte, bis regulärer Ersatz eintraf. Bolitho dachte an all die kleinen Erdhügel auf der Insel. Wen interessierten sie jetzt noch?
Weston rief:»Von der Spite, Sir: „Voriges Signal gestrichenen"
Wahrscheinlich also ein Holländer auf erlaubter Fahrt, jedenfalls war Cunningham beruhigt. Möglicherweise war das fremde Fahrzeug auch mit äußerster Kraft geflüchtet, sowie es die Bramsegel der Spite gesichtet hatte. Mißtrauen machte sich in diesen Tagen bezahlt.
Stockdale kam über das Achterdeck auf seinem Weg zur Steuerbordbatterie. Im Vorbeigehen flüsterte er Bolitho zu:»Der Admiral,
Sir.»
Bolitho straffte sich und wandte sich um, als Coutts aus dem Schatten in das grelle Sonnenlicht trat. Er legte die Hand an den Hut und fragte sich, ob Weston ihn absichtlich nicht gewarnt hatte.
Coutts lächelte unbekümmert.»Guten Morgen, Bolitho. Noch immer auf Wache, wie ich sehe. «Er hatte eine angenehme, ruhige Stimme, ohne jedes Pathos.
Bolitho erwiderte:»Nur noch wenige Augenblicke, Sir.»
Coutts nahm ein Glas und studierte mehrere Minuten lang die weit entfernte Spite. »Guter Mann, Cunningham. Wird mit etwas Glück bald Kapitän werden.»
Bolitho sagte nichts, dachte aber an Cunninghams Jugend, an sein» Glück«. Mit Coutts Segen würde er Kapitän werden, und wenn der Krieg andauerte, dann war er wahrscheinlich in drei we i-teren Jahren Flaggoffizier, sicher vor Degradierung und unaufhaltsam auf dem Weg nach oben.
«Ich kann Ihre Gedanken beinahe hören, Bolitho. «Coutts reichte Westen das Glas, ohne sich umzudrehen. Wieder war die Bewegung beiläufig, aber genau berechnet.»Grämen Sie sich nicht. Wenn Sie an der Reihe sind, werden Sie entdecken, daß eines Kapitäns Leben nicht nur aus Bordeaux und Prisengeld besteht. «Einen Augenblick lang wurde sein Blick hart.»Aber eine Chance bietet sich immer, allerdings nur denen, die etwas wagen und Befehlsausführung nicht als Ersatz für Eigeninitiative gelten lassen.»
Bolitho sagte:»Ja, Sir.»
Er wußte nicht, was Coutts damit andeuten wollte. Daß für ihn Hoffnung bestand? Oder wollte er damit lediglich seine Gefühle Pears gegenüber zum Ausdruck bringen?
Coutts zuckte mit den Schultern und fügte hinzu:»Essen Sie heute abend mit mir zusammen. Ackerman wird noch ein paar andere einladen.»
Wieder spürte Bolitho die jugendliche Frische und Härte in Coutts Stimme.
«In meinen Räumen natürlich. Ich bin sicher, daß der Kommandant nichts dagegen haben wird.»
Er schlenderte von dannen und nickte Sambell und Weston im Vorbeigehen zu, als seien sie Bauerntölpel auf dem Dorfanger.
Die neue Wache sammelte sich bereits auf dem oberen Batteriedeck, und Bolitho wußte, daß Dalyell ihn gleich ablösen würde. Im Gegensatz zu George Probyn kam er nie zu spät.
Bolitho war verwirrt von dem Gehörten. Er fühlte sich geehrt durch Coutts Interesse, das ihn aber gleichzeitig beunruhigte; es kam ihm vor wie Treulosigkeit Pears gegenüber. Er lächelte über seine Verwirrung. Pears mochte ihn möglicherweise gar nicht, weshalb also die Skrupel?
Dalyell erschien, blinzelnd im grellen Sonnenlicht. An seinem Rock hingen noch ein paar Krümel.»Wache ist angetreten, Sir.«»Danke, Mr. Dalyell.»
Sie blinzelten sich vergnügt zu, ihre Fröhlichkeit vor den Leuten hinter einer Maske von Förmlichkeit verbergend.
Quinn hatte die beiden von der Backbordtreppe aus beobachtet, während sie das übliche Gewühl bei der Wachablösung beaufsichtigten. Die Sehnsucht, seinen Schmerz endlich zu meistern, überkam ihn mit Macht. Bolitho hatte es nach seiner Verwundung geschafft oder zumindest die Erinnerung daran aus seinem Gedächtnis gestrichen, während er selbst noch jeden Schritt, jede Bewegung sorgfältig berechnen mußte. Er sagte sich ständig, daß sein für einen Augenblick aufwallender Mut kein Zufall ge wesen war, daß er zwar einmal versagt, aber dann gekämpft hatte, um den Fehler wiedergutzumachen. Doch er spürte, daß die Besatzung ihn beobachtete, sein Selbstvertrauen abschätzte. Dies war auch der Grund, weshalb er an der Treppe auf Bolitho wartete, bevor er zum Essen ging. Bolitho war sein Halt, seine einzige Chance, wenn es überhaupt noch eine für ihn gab.
Dieser nickte ihm zu.»Noch nicht hungrig, James? Man hat mir erzählt, wir bekämen heute besonders gutes Rindfleisch, lag erst knapp ein Jahr im Faß!«Er legte Quinn die Hand auf die Schulter.»Finde dich damit ab, James.»
Als Quinn ihn ansah und den plötzlichen Ernst in Bolithos Augen bemerkte, wußte er, daß diese Worte nichts mit dem Essen zu tun hatten.
Die Rahen waren gebraßt, und die gewaltige Fläche der Segel füllte sich knallend. Die Trojan lag auf ihrem neuen Kurs.
Bolitho blickte Cairns an und tippte an seinen Hut.»Kurs liegt an, Sir.»
Cairns nickte.»Schicken Sie bitte die Freiwache unter Deck.»
Als die Seeleute, so schnell sie konnten, verschwanden, warf Bo-litho rasch einen Blick auf Pears, der mit dem Admiral zusammen auf der Luvseite des Achterdecks stand.
Es war einer jener feurigen Sonnenuntergänge dieser Breiten. Die beiden Männer hoben sich als Silhouetten gegen den blutroten Himmel ab, ihre Gesichter lagen im Schatten. Es war kein Irrtum möglich, man spürte Coutts Gereiztheit, Pears verbissenen Eigensinn.
Das vergnügte Abendessen in der großen Kajüte schien schon weit zurückzuliegen. Coutts hatte den größten Teil der Unterhaltung mit Witz und guter Laune bestritten, Pausen gab es nur, wenn die Gläser nachgefüllt wurden. Er hatte die Leutnants in seinen Bann geschlagen — mit Geschichten über Intrigen und Korruption bei der Militärregierung in New York, über die großen, alten Londoner Häuser, deren Herren — und noch öfter Damen — , in ihren Händen die Zügel der Macht hielten.
Als erst einmal Pears und der Master ihre navigatorischen Berechnungen beendet hatten, war der Zweck der Fahrt und der Zielort wie ein Lauffeuer durch die Decks gegangen.
Es war also eine kleine Insel in einer ganzen Inselgruppe, die in der Monapassage zwischen Santo Domingo und Puerto Rico lag. Von den meisten wegen der schwierigen Navigation gemieden, war sie ein idealer Umschlagsort für Waffen und Munition, bestimmt für Washingtons wachsende Flotte von Versorgungsschiffen.
Als Coutts seine Hoffnung auf eine rasche Beendigung ihrer Mission begründet hatte, spürten Bolitho und die anderen seinen Eifer, seine Erregung bei der Aussicht auf einen schnellen Sieg. Diesmal sollte ihm niemand mit einer Warnung zuvorkommen, kein noch so schneller Reiter konnte die Nachricht vom Nahen der Briten übermitteln. Diesmal nicht. Mit der Breite des Atlantik in ihrem Rük-ken, der scharfäugigen Spite vor ihnen, hatte Coutts guten Grund zur Zuversicht.