„Das wäre ja lächerlich! Also muß es Schwierigkeiten mit den Patienten geben. Jedenfalls wollen sie uns wieder auf dem Schiff haben, und ich würde sagen, die Sache ist dringend.“
Prilicla haftete neben der Luftschleuse an der Wand und antwortete mehrere Sekunden lang nicht. Schließlich sagte er: „Entschuldigen Sie bitte die scheinbare Unhöflichkeit, mein Freund, aber meine Aufmerksamkeit galt gerade etwas anderem. Es ist zwar an der Grenze der Reichweite meiner Wahrnehmungsfähigkeit, aber ich hab eine intelligente Lebensform entdeckt.“
„Sutherland!“ rief Conway erregt.
„Das nehme ich wohl an, mein Freund“, entgegnete Prilicla, und er begann im Einklang mit Conways Gewissenskonflikt zu zittern.
Irgendwo in einem Umkreis von vielleicht hundert Metern steckte der vermißte Arzt der Tenelphi. Zwar war seine körperliche Verfassung nicht bekannt, aber eindeutig war er am Leben. Selbst mit Priliclas Hilfe könnte es eine Stunde oder länger dauern, ihn zu finden. Conway wollte den Mann unbedingt bergen und retten, und das nicht nur aus den üblichen Gründen, sondern auch weil der Arzt garantiert die Antwort darauf wußte, was mit den übrigen Offizieren der Tenelphi geschehen war. Andererseits verlangte man dringend die Rückkehr von ihm und Prilicla zur Rhabwar, und ohne triftigen Grund würde Fletcher niemals ein SOS senden.
Eigentlich konnte sich das Schiff selbst nicht in Schwierigkeiten befinden, also mußte es sich um ein Problem handeln, das die Patienten betraf.
Vielleicht hatte sich urplötzlich der Gesundheitszustand der Patienten so ernsthaft verschlechtert, daß selbst Murchison und Naydrad — zwei Wesen, die nicht ohne Grund in Panik gerieten — zugestimmt hatten, die beiden Ärzte auf diese Weise zur Rückkehr zu bewegen. Wie Conway plötzlich einfiel, könnten jedoch eine Ärztin und eine ebenso erfahrene Schwester vielleicht vorübergehend für die Versorgung der Patienten an Bord genügen, wenn schon wenig später zwei weitere Ärzte zu ihnen stoßen würden, von denen einer, nämlich Sutherland, größeres Wissen über die betreffende Krankheit besaß als das gesamte medizinische Personal auf dem Ambulanzschiff.
Kaum hatte Conway seine Entscheidung getroffen, hörte Prilicla zu zittern auf.
„Doktor, wir müssen uns trennen“, sagte Conway. „Offensichtlich werden wir dringend auf dem Schiff gebraucht, oder man will uns vielleicht auch nur dringend sprechen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, die Abkürzung zur Außenhaut zu nehmen? Finden Sie heraus, was es für ein Problem gibt, und helfen Sie den anderen, soweit es Ihnen möglich ist.
Aber entfernen Sie sich vom anderen Ende des Tunnels frühestens nach einer Stunde, nachdem Sie dort angekommen sind. Während dieser Zeit werden Sie mit der Rhabwar und über den Tunnel mit mir hier unten in Sichtkontakt stehen. Auf diese Weise können Sie Nachrichten in beiden Richtungen weitergeben.
Sie müßten das andere Ende des Tunnels in ungefähr zwei Stunden erreichen können, da kein Zickzackkurs mehr notwendig ist und die Zentrifugalkraft der Eigendrehung des Schiffs Ihnen schneller hindurchhelfen wird. Dadurch sollte mir genügend Zeit bleiben, Sutherland zu finden und mit seiner Bergung zu beginnen. Diese Aufgabe kann ich sowieso nur alleine erledigen, denn um ihn durch diesen Tunnel zu bringen, werden eher DBDG-Muskeln erforderlich sein als die gefühlvolle Anteilnahme eines Cinrusskers.“
„Der Ansicht bin ich auch, mein Freund“, erwiderte Prilicla, der bereits den Korridor entlang auf die Öffnung zuschwebte. „Selten hab ich einem Ihrer Vorschläge mit größerer Begeisterung zugestimmt…“
Die erste Überraschung, die Conway erwartete, als er durch die Luftschleuse ging, war das Licht. Er fand sich plötzlich in einer weitläufigen Raumflucht wieder, die, nach den an Boden, Decke und Wänden befestigten Überbleibseln der Ausrüstungsgegenstände zu urteilen, einst den Aufenthalts- und Freizeitbereich des Schiffs dargestellt hatte. Die Geräte, die man zum Trainieren in der Schwerelosigkeit und vielleicht auch für Wettkampfsportarten benutzt hatte, waren rigoros modifiziert worden, um als Gestelle und Ständer für die zum Schlaf in der Schwerelosigkeit notwendigen Doppelhängematten zu dienen. Abgesehen von einigen Abschnitten, die mit durchsichtigem Plastik verkleidet waren und Pflanzen enthielten, von denen einige noch immer eine grüne Färbung hatten, war die Innenfläche des riesigen Saals mit Betten und Möbelstücken übersät, die man den Bedingungen der Schwerelosigkeit angepaßt hatte. Es sah aus, als seien hier nach den ersten Meteoriteneinschlägen einst bis zu zweihundert Überlebende zusammen mit ihren Nachkommen einquartiert worden. Den äußeren Anzeichen nach zu urteilen, hatten sie hier eine lange Zeit gelebt.
Die zweite Überraschung war, daß es von ihnen keine anderen Spuren gab als die von ihnen benutzen Möbel und Ausrüstungsgegenstände. Wo aber waren die Leichname der Überlebenden der Katastrophe, die schon seit langem tot sein mußten?
Conway spürte, wie seine Kopfhaut vor Aufregung kribbelte. Er drehte seinen Anzuglautsprecher voll auf und schrie: „Sutherland!“
Es kam keine Antwort.
Er stieß sich quer durch den Saal zur gegenüberliegenden Wand ab, in der sich zwei Türen befanden. Eine davon stand einen Spaltbreit offen, und aus ihr drang Licht. Als er neben der Tür landete, wußte er, daß sich dahinter die Schiffsbibliothek befand.
Das lag nicht nur an den mit Büchern und Bandspulen ordentlich gefüllten Regalen, die sich an den Wänden und der Decke des leeren Raums entlangzogen, oder an den am Boden befestigten Lesegeräten und Scannern, und erst recht nicht an den modernen Bändern und tragbaren Aufzeichnungsgeräten, die die Offiziere der Tenelphi mit hierhergebracht hatten und die jetzt herren- und schwerelos durch den Raum trieben.
Conway wußte auch so, daß es sich um die Bibliothek handelte, weil er sowohl den Schriftzug auf der Tür als auch den Namen unter dem Schiffswappen entziffern konnte, das an der gegenüberliegenden Wand in Augenhöhe angebracht war. Als er auf dieses berühmte Wappen starrte, wurde ihm augenblicklich alles klar.
Er begriff jetzt, warum die Tenelphi Schwierigkeiten bekommen hatte, und warum die Offiziere von ihrem Schiff zum Wrack aufgebrochen waren und nur den Arzt als wachhabenden Offizier zurückgelassen hatten. Er verstand auch, warum sie es so eilig gehabt hatten, an Bord ihres eigenen Schiffs zurückzukehren, warum sie krank geworden waren und warum es so wenig gab, was er oder irgend jemand anders für sie hätte tun können.
Außerdem wußte er nun, warum Schiffsarzt Sutherland Schmiermittel statt Markierungsfarbe benutzt hatte, und er besaß eine ungefähre Vorstellung von der Situation, mit der sich der Arzt konfrontiert gesehen und die ihn zurück ins Wrack getrieben hatte. All das war ihm klargeworden, weil der Name und das Wappen des Schiffs in jedem Geschichtsbuch der Erde und auch in jedem der von Menschen besiedelten Planeten abgedruckt waren.
Conway schluckte und blinzelte den Schleier in den Augen weg, der vorübergehend seine Sicht beeinträchtigte hatte, und verließ langsam den Raum.
Der Schriftzug auf der anderen Tür hatte einst ›Sportausrüstungslager‹ gelautet, man hatte ihn jedoch durchgestrichen und darüber ›Lazarett‹ geschrieben. Als er die Tür aufschob, fand er den Raum dahinter ebenfalls erleuchtet vor, wenn auch nur schwach.
An den Wänden zu beiden Seiten der Tür waren die Borde der Ausrüstungsregale zu Kojen umfunktioniert worden, von denen zwei belegt waren. Die darin liegenden Leichen waren fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt und völlig deformiert, was zum einem an der Unterernährung und zum anderen daran lag, daß sie unter schwerelosen Bedingungen geboren worden waren und gelebt hatten. Anders als die ausgetrockneten Leichenteile, auf die Conway und Prilicla auf den äußeren Decks gestoßen waren, waren diese beiden der Atmosphäre ausgesetzt gewesen, und die Verwesung hatte eingesetzt. Doch war dieser Prozeß noch nicht weit genug fortgeschritten, um die Tatsache verschleiern zu können, daß die beiden Leichen der Klassifikation DBDG angehört hatten. Es handelte sich um einen alten Mann und ein kleines Mädchen, beide Terrestrier, die erst in den letzten paar Monaten gestorben sein mußten.