James White
Ambulanzschiff
Orbit Hospital Band
Für JACK COHEN, einem Verfechter der Wahrscheinlichkeit für die Existenz außerirdischen Lebens.
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY
Band 06/4971
Titel der englischen Originalausgabe AMBULANCE SHIP
Copyright © 1993 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne
Verlag GmbH & Co. KG, München ISBN 3-453-06222-1
ERSTER TEIL
Raumvogel
I
Das Aufklärungsschiff des Monitorkorps Torrance befand sich in einem Einsatz, der zwar äußerst wichtig, aber dennoch todlangweilig war. Genau wie den anderen Schiffen ihrer Flottille hatte man auch der Torrance einen relativ kleinen Bereich des Alls in Sektor neun zugeteilt — einen der vielen dreidimensionalen weißen Flecken, die immer noch auf den Weltraumkarten der Föderation auftauchten —, um Typ und Position der darin enthaltenen Sterne und die Anzahl der sie umkreisenden Planeten zu ergänzen.
Da ein mit zehn Mann besetztes Aufklärungsschiff nicht die Ausrüstung besaß, um eine Erstkontaktsituation zu meistern, hatte man der Besatzung strikt verboten, auf einem dieser Planeten zu landen oder sich ihm auch nur zu nähern. Falls sich unter den Planeten technologisch fortgeschrittene Welten befanden, würde man sie später anhand der Analyse der von ihnen ausgehenden Radiofrequenzstrahlung und anderen Strahlungsformen erkennen. Wie Major Madden, der Captain des Schiffs, der Besatzung gleich zu Beginn des Einsatzes erklärt hatte, würden sie lediglich Lichter am Himmel zählen — das wäre auch schon alles.
Natürlich konnte das Schicksal einer solchen Verlockung nicht widerstehen… „Hier Radar, Sir“, sagte eine Stimme aus dem Lautsprecher des Kontrollraums. „Wir empfangen ein Echosignal auf dem Nahbildschirm.
Entfernung zehn Kilometer, kommt langsam näher, nicht auf Kollisionskurs.“
„Erfassen und verfolgen Sie es mit dem Teleskop, und lassen Sie es uns bitte sehen“, erwiderte der Captain.
„Ja, Sir. Repeaterschirm zwei.“
Auf den Aufklärungsschiffen des Monitorkorps herrschte nur dann strenge Disziplin, wenn es die Umstände erforderten. Solche Umstände traten jedoch normalerweise nicht während eines simplen Kartographieeinsatzes auf, und deshalb erinnerten die. Stimmen, die aus dem Lautsprecher kamen, eher an eine lockere Diskussion als an eine Folge militärischer Meldungen.
„Es sieht aus wie ein… wie ein Vogel, Sir, und zwar mit gespreizten Flügeln.“
„Ein gerupfter Vogel.“
„Hat schon jemand berechnet, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, daß sich so etwas im interstellaren Raum plötzlich materialisiert?“
„Ich glaube, das ist ein Asteroid oder irgendeine flüssige Substanz, die zufällig zu dieser Form erstarrt ist.“
„Zwei Lichtjahre von der nächsten Sonne entfernt?“
„Ruhe bitte“, sagte der Captain. „Erfassen Sie es mit einem Analysator, und machen Sie dann Meldung.“
Es gab eine kurze Pause, und dann teilte eine Stimme mit: „Geschätzte Größe ungefähr ein Drittel dieses Schiffs. Es ist nichtreflektierend, nichtmetallisch, nichtmineralisch und…“
„Das ist ja wirklich ganz hervorragend, daß Sie mir erzählen, was es alles nicht ist“, unterbrach ihn der Captain trocken.
„Es ist organisch, Sir, und…“
„Ja?“
„Und es lebt.“
Einige Sekunden lang hielten die Stimmen im Lautsprecher des Kontrollraums und der Captain den Atem an, dann befahl Madden entschlossen: „Maschinenraum, Manövrierschub in fünf Minuten.
Astronavigation, bestimmen Sie den Kurs, und gehen Sie bis auf fünfhundert Meter heran. Geschütze, halten Sie sich bereit. Schiffsarzt Brenner soll sich auf einen Außeneinsatz vorbereiten.“
Die kurze Debatte war vorbei.
Während der darauffolgenden vier Stunden untersuchte Schiffsarzt Brenner das Wesen, zuerst aus sicherer Entfernung und später aus so unmittelbarer Nähe wie es sein Raumanzug nur zuließ. Er war sich sicher, daß der Analysator eine etwas zu optimistische Auffassung von dem gehabt hatte, was höchstwahrscheinlich ein noch nicht völlig erkalteter Leichnam war. Sicherlich stellte das merkwürdige Wesen keine Gefahr dar, denn es konnte sich nicht bewegen, selbst wenn es gewollt hätte; dafür sorgten der Überzug — der sich aus etwas zusammensetzte, das wie breite, flache Rankenfüßer aussah — und das steinharte Bindemittel, das diese zusammenhielt.
Später, als er gerade seinen Bericht an den Captain beendete, sagte Brenner: „Um zusammenzufassen, Sir: Das Wesen leidet an einer recht sonderbaren Hautkrankheit, die außer Kontrolle geraten ist und dazu führte, daß man es ausgesetzt hat — denn sicherlich ist es nicht aus eigener Kraft bis hierher geflogen. Alles deutet auf eine weltraumreisende Spezies hin, die Opfer eines Leidens ist, vor dem sie eine solche Angst hat, daß sie die Kranken noch lebend ins All aussetzt.
Wie Sie wissen, besitze ich nicht die Qualifikation, extraterrestrische Krankheiten zu behandeln, und das Lebewesen ist zu groß, um es an Bord zu nehmen. Wir könnten allerdings unsere Hyperraumhülle ausdehnen und es bis zum Orbit Hospital im galaktischen Sektor zwölf ins Schlepptau nehmen.
Das wäre doch mal eine angenehme Abwechslung von diesem alltäglichen Kartographieren. Außerdem bin ich da noch nie gewesen“, fügte Brenner hoffnungsvoll hinzu. „Wie ich gehört hab, sollen dort nicht alle Schwestern sechs Beine haben.“
Der Captain schwieg für einen Augenblick und nickte dann. „Aber ich war schon mal da“, bemerkte er grinsend. „Manche Schwestern haben sogar noch mehr als sechs…“
Eingerahmt im Heckbildschirm des Rettungsschiffs, hing im galaktischen Sektor zwölf die gewaltige Konstruktion des Orbit Hospitals wie ein riesiger, zylindrischer Weihnachtsbaum frei im Raum. Die meisten der zigtausend Fenster waren fast durchgehend hell erleuchtet, wobei die Beleuchtung in den verrücktesten Farbkombinationen und unterschiedlichsten Stärken ausfiel, um den jeweiligen Ansprüchen der Sehorgane der Patienten und Mitarbeiter gerecht zu werden. Auf den dreihundertvierundachtzig Ebenen dieser einmaligen Einrichtung konnten die Umweltbedingungen sämtlicher der galaktischen Föderation bekannten Spezies reproduziert werden — ein biologisches Spektrum, das bei den unter extremen Kältebedingungen lebenden Methanarten begann und über die eher normalen Sauerstoff- und Chloratmer bis hin zu den Exoten reichte, die von der direkten Umwandlung harter Strahlung lebten.
Zusätzlich zu den Patienten, deren Anzahl und physiologische Klassifikationen sich ständig veränderten, gab es medizinisches sowie Wartungspersonal, das sich aus mehr als sechzig verschiedenen Lebensformen mit ebenso vielen unterschiedlichen Verhaltensweisen, Körpergerüchen und Lebensanschauungen zusammensetzte.
Die Mitarbeiter des Hospitals konnten sich rühmen, daß für sie kein Fall zu groß, zu klein oder zu hoffnungslos war, und ihr fachliches Können und ihre tatkräftige Unterstützung stand in der gesamten Galaxis hoch im Kurs.
Das hochqualifizierte Personal des Orbit Hospitals erledigte seine Arbeit zwar mit viel Engagement, war aber nicht immer ganz ernsthaft bei der Sache, und Chefarzt Doktor Conway konnte sich nicht von dem Gedanken befreien, daß ihm jemand bei dieser Gelegenheit einen heimtückischen Streich spielen wollte.
„Selbst jetzt, wo ich es sehe, kann ich es noch nicht recht glauben“, sagte er.
Pathologin Murchison, die neben ihm stand, starrte kommentarlos auf das Bild der Torrance und ihres Schleppguts.