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»Wer da?« fragte eine klirrende Stimme. »Mach auf, Muga, ich bin’s«, sagte Rumata halblaut.

Die Riegel klirrten, die Tür öffnete sich einen Spalt, und Rumata zwängte sich ins Vorhaus. Hier war alles wie gewöhnlich, und Rumata seufzte erleichtert auf. Der alte Muga mit den silbergrauen Haaren und dem Wackelkopf nahm dem Herrn wie gewöhnlich Helm und Schwerter ab. »Was ist mit Kyra?« fragte Rumata. »Kyra ist oben«, sagte Muga. »Es geht ihr gut.«

»Ausgezeichnet«, sagte Rumata, während er sich den Gürtel abschnallte. »Und wo ist Uno? Warum kommt er mir nicht entgegen?« Muga nahm den Gürtel.

»Uno ist tot«, sagte er mit ruhiger, fester Stimme. »Er liegt im Dienerzimmer.«

Rumata schloß die Augen.

»Uno tot …«, wiederholte er. »Wer hat ihn umgebracht?« Ohne auf die Antwort zu warten, ging er ins Dienerzimmer. Unos Körper lag auf dem Tisch, er war bis zum Gürtel mit einem Laken bedeckt. Seine Hände lagen über die Brust gefaltet, die Augen hatte er weit aufgerissen, und sein Mund war zu einer Grimasse verzogen. Die Diener standen mit hängendem Kopf um den Tisch herum und hörten dem Gemurmel des Mönchs in der Ecke zu. Die Köchin schluchzte. Ohne seinen Blick von dem Knaben zu wenden, knöpfte sich Rumata den Kragen auf.

»Schweinehunde …«, sagte er. »Was sind das doch für Schweinehunde!« Er stolperte über etwas, ging ganz nahe zum Tisch, blickte in die toten Augen, lüftete das Laken ein wenig, legte es aber gleich wieder zurück.

»Ja, zu spät«, sagte er. »Zu spät … Hoffnungslos … Ach, Ihr Schweine! Wer hat ihn umgebracht? Die Mönche?« Er drehte sich zu dem Mönch hin, packte ihn am Genick, drückte ihn zu Boden und beugte sich über sein Gesicht. »Wer hat ihn umgebracht?« sagte er. »Einer von euch? Rede!«

»Es waren nicht die Mönche«, sagte hinter seinem Rücken mit ruhiger Stimme Muga. »Es waren die Grauen Soldaten …« Rumata starrte noch eine Weile in das abgemagerte Gesicht des Mönchs, in seine langsam sich erweiternden Pupillen. »Im Namen des Herrn …«, krächzte der Mönch heiser. Rumata ließ ihn los, setzte sich auf eine Bank zu Füßen des toten Knaben und begann zu weinen. Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen und weinte und horchte auf die gelassene, sirrende Stimme Mugas. Der alte Diener erzählte, wie sie kurz nach der zweiten Nachtwache im Namen des Königs gegen das Tor klopften und wie Uno schrie, sie sollten nicht öffnen; aber sie mußten dann doch aufmachen, weil die Grauen drohten, das Haus in Brand zu stecken. Sie drangen ins Vorhaus, verprügelten und fesselten die Diener und krochen dann die Stiege hinauf. Uno war an den Türen der oberen Gemächer postiert und begann aus seiner Armbrust zu schießen. Er hatte zwei Bolzen, und er schoß auch zweimal. Der zweite Schuß ging daneben. Die Grauen warfen ihre Messer, Uno fiel. Sie schleiften ihn herunter und wollten ihn schon mit Füßen treten und mit ihren Beilen auf ihn einschlagen, als die Schwarzen Mönche im Haus erschienen. Sie erschlugen zwei Graue, entwaffneten die übrigen, banden ihnen Stricke um den Hals und zerrten sie auf die Straße. Die Stimme Mugas verstummte, aber Rumata blieb noch lange sitzen, die Ellbogen auf den Tisch zu Füßen des toten Knaben gestützt. Dann erhob er sich schwer, wischte sich mit dem Ärmel die lange verhaltenen Tränen weg, küßte den Knaben auf die kalte Stirn, setzte mit Mühe einen Fuß vor den andern und ging nach oben.

Er war halbtot vor Müdigkeit und Erschütterung. Nachdem er sich irgendwie die Stiege hinaufgeschleppt hatte, durchquerte er das Gästezimmer, erreichte mit Mühe das Bett und ließ sich stöhnend mit dem Gesicht nach unten auf ein Kissen fallen. Kyra kam herbeigeeilt. Er war so erschöpft, daß er ihr nicht einmal dabei helfen konnte, als sie ihm die verschmierten Kleider abstreifte. Sie zog ihm die Stiefel herunter, dann weinte sie über seinem verschwollenen Gesicht, befreite ihn von der zerschlissenen Uniform und seinem Metalloplasthemd und weinte dann weiter still über seinem zerschundenen Körper. Erst jetzt fühlte er, daß ihn alle Knochen schmerzten, wie nach einer Tortur auf dem Rad. Kyra wusch ihn mit einem in Essig getauchten Schwamm; er aber zischte und keuchte, ohne seine Augen zu öffnen, durch die zusammengepreßten Zähne: »Ich hätte ihn erschlagen können … Neben mir hat er gestanden … Mit meinen Fingern ihm den Hals umdrehen … Ist das vielleicht ein Leben, Kyra? Fahren wir weg von hier … Das ist doch ein Experiment mit mir und nicht mit denen.« – Er bemerkte nicht einmal, daß er russisch sprach. Kyra blickte verängstigt auf die von Tränen gläsernen Augen und küßte ihn nur immer wieder stumm auf die Wangen. Dann deckte sie ihn mit geflickten Leintüchern zu (Uno hatte ja trotz allem keine neuen gekauft) und lief nach unten, um Glühwein für ihn zu bereiten. Er aber kroch mühsam vom Bett, stöhnte vor seelischen und körperlichem Schmerz und tappte bloßfüßig ins Herrenzimmer. Dort öffnete er im Schreibtisch eine Geheimlade, wühlte in der Apotheke und nahm einige Tabletten Sporamin. Als Kyra mit dem dampfenden Kessel auf einer schweren Silberplatte zurückkam, lag er schon wieder auf dem Rücken. Er fühlte, wie der Schmerz entwich, das Getöse in seinem Kopf verflog und wie sich sein Körper mit neuer Kraft und Unternehmungslust füllte. Als er den kleinen Kessel geleert hatte, fühlte er sich schon wieder ganz wohl, rief Muga und befahl, seine Kleider vorzubereiten.

»Geh nicht, Rumata«, sagte Kyra. »Geh nicht! Bleib zu Hause!«

»Ich muß, meine Kleine!«

»Ich habe Angst. Bleib hier … Sie werden dich umbringen!«

»Was du nicht sagst. Warum sollten sie mich umbringen? Sie haben doch alle Angst vor mir.«

Sie fing wieder an zu weinen. Sie weinte still und verhalten, als befürchte sie, ihn zu verärgern. Rumata zog sie auf seine Knie und strich über ihr Haar.

»Das Schlimmste ist schon vorbei«, sagte er. »Und dann, wir wollten doch wegfahren von hier …«

Sie beruhigte sich und drückte sich an ihn. Muga stand mit wackelndem Kopf gelassen neben ihnen und hielt die Hose mit den goldenen Schellen bereit.

»Aber vorher habe ich hier noch viel zu tun«, fuhr Rumata fort. »Heute nacht wurden zahllose Menschen umgebracht. Ich muß herausfinden, wer noch lebt und wer erschlagen ist. Und ich muß jenen beistehen, die man noch töten will.«

»Und dir, wer wird dir helfen?«

»Glücklich, der an andre denkt … Und außerdem wird uns beiden von mächtigen Leuten Hilfe zuteil.«

»Ich kann nicht an andre denken«, sagte sie. »Du bist halbtot zurückgekommen. Ich sehe doch: Man hat dich geschlagen. Und Uno haben sie ganz erschlagen. Wohin haben denn deine mächtigen Leute da geschaut? Warum haben sie das Morden nicht verhindert? Ich glaube dir nicht … Ich glaube nicht …«

Sie wollte sich aus seinen Armen befreien, aber er hatte sie fest umfaßt.

»Was soll man machen«, sagte er. »Diesmal sind sie ein wenig zu spät gekommen. Jetzt aber beobachten sie uns wieder und werden uns beschützen. Warum glaubst du mir heute nicht? Du hast mir doch immer geglaubt. Du hast doch selbst gesehen: Ich bin halbtot zurückgekommen, und schau mich jetzt an …!«

»Ich will dich nicht anschauen«, sagte sie und versteckte ihr Gesicht. »Ich will nicht wieder weinen.«

»Aber, aber! Diese paar Kratzer? Nicht der Rede wert …! Das Schlimmste ist schon vorbei. Zumindest für uns beide. Aber es gibt ganz hervorragende, gute Menschen, für die der Greuel noch nicht zu Ende ist. Und ich muß ihnen helfen.«

Sie seufzte tief, küßte ihn auf den Hals und befreite sich vorsichtig. »Komm heute abend«, bat sie ihn. »Kommst du?«

»Auf jeden Fall«, sagte er mit fester Stimme und lächelte. »Ich werde schon früher kommen und wahrscheinlich nicht allein. Erwarte mich zum Abendessen.«

Sie trat zur Seite, setzte sich in einen Lehnstuhl, umfaßte ein Knie mit beiden Händen und schaute Rumata zu, wie er sich anzog. Während er die Hose mit den Schellen anzog, murmelte er auf russisch vor sich hin (Muga ließ sich sogleich im Türkensitz vor ihm nieder und machte sich daran, die unzähligen Knöpfe und Spangen zu schließen), zog dann über sein sauberes Unterhemd wieder das Metalloplasthemd und sagte schließlich mit Verzweiflung in der Stimme: »So versteh mich doch, du meine Kleine, ich muß gehen! Was soll ich denn tun?! Ich kann einfach nicht hierbleiben!« Plötzlich sagte sie nachdenklich: »Manchmal verstehe ich nicht, warum du mich nicht schlägst.«

Rumata knöpfte gerade sein Rüschenhemd zu und erstarrte. »Was heißt das, warum ich dich nicht schlage?« fragte er verwirrt. »Kann man dich denn schlagen?«

»Du bist nicht nur ein guter, ein sehr guter Mensch«, fuhr sie fort, ohne ihm zuzuhören, »sondern du bist auch ein merkwürdiger Mensch, beinahe wie ein Erzengel … Wenn du bei mir bist, fühle ich mich stark. Jetzt zum Beispiel bin ich stark … Irgendwann werde ich dich einmal um etwas bitten. Wirst du mir einmal – nicht jetzt, sondern dann, wenn schon alles vorbei ist – von dir erzählen?« Rumata gab lange keine Antwort. Muga reichte ihm die orangefarbene Weste mit den roten Bändern. Rumata zog sie mit Verachtung an und schnallte den Gürtel fest.

»Ja«, sagte er schließlich. »Einmal werde ich dir alles erzählen, meine Kleine.«

»Ich werde warten«, sagte sie ernst. »Jetzt aber geh, laß dich nicht von mir ablenken.«

Rumata trat zu ihr hin und küßte sie mit seinen zerschlagenen Lippen fest auf den Mund. Dann zog er den Eisenreif von seinem Handgelenk und hielt ihn ihr hin.

»Steck dir das auf den linken Arm«, sagte er. »Heute wird wohl niemand mehr unser Haus beehren, wenn sie aber trotzdem kommen, zeigst du ihnen diesen eisernen Reif.«

Sie blickte ihm nach, und er fühlte, daß sie ihm in Gedanken etwas nachrief. – Ich weiß, sie denkt: Ich weiß nicht, vielleicht bist du der Teufel oder der Sohn Gottes oder ein Mensch aus überseeischen Märchenländern, aber wenn du nicht zurückkehrst, muß ich sterben. Er war ihr aber unendlich dankbar, daß sie schwieg, denn das Weggehen wurde ihm ohnehin ganz ungewöhnlich schwer – es war wie ein Kopfsprung von einem smaragdblauen, sonnigen Ufer in eine übelriechende Pfütze.

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