Während er wartete, bis der Zeremonienminister unter dem Klang von Fanfaren dreimal »zu Tisch!« rief, stand Rumata in einer Gruppe von Höflingen und hörte zum zehntenmal Don Tameos Geschichte von dem königlichen Mahl, an dem er, Don Tameo, vor einem halben Jahr die Ehre hatte, teilzunehmen. » … Ich komme an meinen Platz, wir stehen, kommt der König herein, er setzt sich, wir setzen uns auch, das Mahl nimmt seinen gewöhnlichen Verlauf. Und plötzlich, stellen Sie sich vor, teure Dons, plötzlich spüre ich, daß es unter mir naß ist … Naß! ich getraue mich weder, mich vom Fleck zu rühren noch mich umzudrehen oder auch nur nach unten zu greifen. Dann aber passe ich einen günstigen Augenblick ab und fahre mit der Hand nach unten. Und was glaubt ihr? Tatsächlich naß. Ich schnüffle an den Fingern – nein, riecht nicht nach irgendwas Besonderem. Welche Teufelei! Inzwischen geht das Essen zu Ende, alle erheben sich, mir aber, stellen Sie sich das vor, edle Dons, mir ist es irgendwie unheimlich, aufzustehen … Ich sehe, der König kommt auf mich zu – der König! Ich aber bleibe sitzen auf meinem Stuhl, wie ein Baron aus der tiefsten Provinz, der die Etikette nicht kennt. Seine Majestät tritt dicht an mich heran, lächelt huldvoll und legt mir eine Hand auf die Schulter. >Mein teurer Don Tameo<, sagt er, >wir sind schon alle aufgestanden und gehen uns das Ballett anschauen, Sie aber sitzen noch immer da. Was ist mit Ihnen, sind Sie vielleicht nicht satt geworden?< – >Eure Majestät<, sage ich, >lassen Sie mir den Kopf abschlagen, aber unter mir ist es feucht.< Seine Majestät geruhte zu lachen und befahl mir, aufzustehen. Ich erhob mich – und was glaubt ihr? Lautes Lachen ringsum. Edle Dons, ich bin das ganze Essen hindurch auf einer Rumtorte gesessen! Seine Majestät geruhte aus Leibeskräften zu lachen. >Reba, Reba!< sagte er schließlich. >Das sind alles Ihre Streiche! Machen Sie den edlen Don sauber, Sie haben ihm das Gesäß besudelt!< Don Reba biegt sich vor Lachen, zieht seinen Dolch und kratzt die Torte von meinem Hosenboden. Können Sie sich meine Lage vorstellen, edle Dons? Ich will es nicht verbergen, ich zitterte und bebte vor Furcht bei dem Gedanken, daß Don Reba, der vor allen erniedrigt worden war, sich an mir rächen würde. Glücklicherweise fand sich aber alles zum Guten. Ich versichere Sie, edle Dons, das war das glücklichste Ereignis meines Lebens! Und wie der König gelacht hat! Und wie seine Majestät zufrieden waren!«
Es ertönten die Fanfaren, der Zeremonienminister rief mit lauter melodischer Stimme zu Tisch, den einen Fuß ein wenig nachziehend, kam der König herein, und alle nahmen ihre Plätze ein. In den Ecken des Saales war die wachhabende Garde postiert, unbeweglich auf ihre beidhändigen Schwerter gestützt. Rumata hatte schweigsame Sitznachbarn. Rechts von ihm füllte den Sessel der bebende Schmerbauch des düsteren Vielfraßes Don Pifa, des Gatten einer berühmten Schönheit, und zu seiner Linken stierte der Dichter Gur ausdruckslos in seinen leeren Teller. Die Gäste blickten angespannt auf den König. Der König band sich eine mehr graue als weiße Serviette vor, fuhr mit einem raschen Blick über alle Schüsseln und langte nach einem Hühnerbein. Kaum hatten sich seine Zähne darin festgebissen, als auch schon hundert Messer mit Geklirr auf die Teller niedersausten und sich hundert Hände über die Schüsseln hermachten. Der Saal füllte sich mit Geschlürf und Geschmatz, der Wein rann in Strömen. Die Schnurrbärte der unbeweglich auf ihre beidhändigen Schwerter gestützten Gardisten gerieten in gierige Zuckungen. In früheren Zeiten war es Rumata bei solchen Anlässen übel geworden. Jetzt hatte er sich schon daran gewöhnt. Während er mit seinem Dolch den Schenkel eines Widders zerlegte, schielte er nach rechts und wandte sich aber gleich wieder ab: Don Pifa hing mit seinem Oberkörper über einem im ganzen gebratenen Eber und arbeitete sich hinein wie ein Bulldozzer. Hinter ihm blieben nicht einmal die Knochen zurück. Rumata hielt den Atem an und leerte auf einen Zug ein Glas Irukanischen. Dann wandte er sich leicht nach links. Der Dichter Gur stocherte lustlos mit einem Löffel in einer Schüssel Fleischsalat. »Schreibt Er etwas Neues?« fragte Rumata halblaut. Gur fuhr zusammen.
»Ich schreibe etwas …? Ich? Ich weiß nicht … ja, ja, vielerlei …«
»Gedichte?«
»Ja, ja … Gedichte …«
»Er schreibt abscheuliche Gedichte, Vater Gur.« Gur blickte ganz seltsam zu ihm auf. »Ja, ja, Er ist kein Poet!«
»Kein Poet … Manchmal denke ich darüber nach, was ich eigentlich bin, und wovor ich mich fürchte. Ich weiß nicht …« »Schau Er in seinen Teller und fahr Er mit dem Essen fort. Ich werd Ihm sagen, was Er ist. Er ist ein schöpferisches Genie, der Entdecker eines neuen Weges in der Literatur und des allerfruchtbarsten obendrein.« Auf den Wangen Gurs stieg eine leichte Röte auf. »In hundert Jahren, und vielleicht auch schon früher, werden Dutzende Dichter auf Seinen Spuren gehen.«
»Gott bewahr sie!« entfuhr es Gur.
»Jetzt werd ich Ihm sagen, wovor Er sich wirklich fürchtet.«
»Ich fürchte die Finsternis.«
»Die Dunkelheit des Abends?«
»Die auch. Denn in der Abenddämmerung sind wir in der Macht der Gespenster. Am meisten aber fürchte ich die Finsternis der Nacht, weil in der Nacht doch alles in gleicher Weise grau wird.«
»Gut gesagt, Vater Gur. Aber jetzt zu etwas anderem: Kann man Sein Werk noch haben?«
»Ich weiß nicht … und will es auch nicht wissen.«
»Sei Er jedenfalls versichert: Ein Exemplar befindet sich in der Hauptstadt, in der Bibliothek des Kaisers. Ein weiteres wird im Raritätenmuseum von Soan aufbewahrt. Und ein drittes ist in meinem Besitz.«
Gur nahm sich mit zitternder Hand einen Löffel Gelee. »Ich … ich weiß nicht …«
Mit seinen großen tiefliegenden Augen blickte er niedergeschlagen zu Rumata auf. »Ich möchte es gern lesen … wieder lesen …«
»Ich werde es Ihm mit Vergnügen zukommen lassen …«
»Und dann …?«
»Dann gibt Er es zurück.«
»Ja, ja, zurückgeben!« sagte Gur mit beißender Stimme. Rumata wiegte den Kopf.
»Don Reba hat Ihn sehr eingeschüchtert, Vater Gur.«
»Eingeschüchtert … Habt Ihr schon einmal Eure eigenen Kinder verbrannt? Was wißt Ihr vom Terror, von der Angst, edler Don?«
»Ich verneige mein Haupt vor dem, was Er durchmachen mußte, Vater Gur. Aber ich verurteile Ihn aus ganzer Seele dafür, daß Er aufgegeben hat!«
Da begann Gur, der Dichter, plötzlich so leise zu flüstern, daß ihn Rumata durch das allgemeine Schmatzen und Stimmengewirr bei Tisch kaum mehr verstehen konnte.
»Und was soll das alles? … Was ist Wahrheit? … Prinz Chaar liebte wirklich jene schöne kupferhäutige Frau … Sie hatten Kinder … Ich kenne ihre Enkel … Man hat sie tatsächlich vergiftet … Mir hat man aber erklärt, daß das alles erlogen sei … Man hat mir erzählt, daß die Wahrheit das ist, was dem König zum Segen gereicht … Alles übrige ist Lüge und Verbrechen. Mein ganzes Leben habe ich also nur Lügen geschrieben … Und erst jetzt schreibe ich die Wahrheit …« Er erhob sich plötzlich von seinem Platz und brüllte mit rhetorisch gezogener Stimme:
»Groß und ruhmreich wie die Ewigkeit
Der König, dessen Name Edelsinn!
Und es verblasset die Unendlichkeit,
Und es verflog der Prinzen Sinn!«
Der König unterbrach mit vollem Mund seine Kaubewegungen und starrte ihn stumpf an. Die Gäste zogen ihre Köpfe ein. Einzig Don Reba lächelte und klatschte ein paarmal fast unhörbar in die Hände. Der König spuckte einige Knochen auf den Teppich und sagte:
»Unendlichkeit? … Richtig. Ist verblaßt? … Gut! Du kannst weiter essen.«
Das Geschmatze und Gerede hob wieder an. Gur setzte sich. »Wie süß und angenehm es ist, dem König die Wahrheit ins Gesicht zu sagen«, sagte er heiser. Rumata schwieg eine Weile. Dann sagte er:
»Ich werde Ihm ein Exemplar Seines Buches bringen lassen, Vater Gur. Nur eine Bedingung. Er beginnt gleich, an einem neuen Werk zu schreiben.«
»Nein«, sagte Gur. »Zu spät. Soll Kiun schreiben. Ich bin schon vergiftet. Und überhaupt, mich interessiert das alles nicht mehr. Jetzt möchte ich eigentlich nur mehr eines – trinken lernen. Und dabei kann ich nicht … Der Magen schmerzt …«
Schon wieder eine Niederlage, dachte Rumata. Zu spät gekommen. »Hören Sie, Reba«, sagte plötzlich der König. »Wo ist denn der Quacksalber? Sie haben mir doch einen Arzt versprochen nach dem Mittagessen?«
»Er ist hier, Eure Hoheit«, sagte Don Reba. »Befehlen Sie, zu rufen?«
»Befehle ich? Da hört sich alles auf! Wenn Sie solche Schmerzen im Knie hätten, würden Sie quieken wie ein Schwein …! Lassen Sie ihn sofort bringen!«
Rumata lehnte sich in seinem Stuhl zurück, um besser zu sehen. Don Reba hob die Hand über seinen Kopf und schnalzte mit den Fingern. Die Tür ging auf, und in den Saal trat unter ständigen Verbeugungen ein gebückter alter Mann in einer bodenlangen Mantille, welche mit den Abbildungen von silbernen Spinnen, Sternen und Schlangen geschmückt war. Unter dem Arm hielt er eine längliche, flache Tasche. Rumata war besorgt und ein wenig enttäuscht: Er hatte sich Budach ganz anders vorgestellt. Ein weiser Mann und Humanist, der Autor des allumfassenden Traktats über die Gifte, konnte doch unmöglich so unruhig hin und her laufende entzündete Augen haben, vor Furcht bebende Lippen und ein klägliches, unterwürfiges Lächeln. Aber da fiel ihm der Dichter Gur ein. Offenbar war die Verfolgung eines irukanischen Spions ein literarisches Gespräch im Kabinett Don Rebas wert. Reba am Ohr zu fassen wäre schön, dachte er und schnalzte im Geist mit der Zunge. Ins Verließ sollte man ihn schleppen. Und den Folterknechten sagen: Da habt ihr einen irukanischen Spion, der sich als arkanarischer Sicherheitsminister verkleidet hat. Der König hat befohlen, aus ihm herauszubekommen, wo sich der echte Minister befindet. An die Arbeit! Und wehe euch, wenn er früher stirbt als in einer Woche … Er mußte sogar sein Gesicht mit der Hand bedecken, damit ihn niemand sehen konnte. Welch ein schreckliches Ding, dieser Haß …
»Na, na also, komm schon her, du Quacksalber«, sagte der König. »Ach du, mein Brüderchen, du Geistesriese. Na, setz dich her, setz dich, sag ich dir, und fang schon an!«
Der unglückliche Budach machte sich ans Werk. Sein Gesicht verzerrte sich vor Angst.
»Weiter, weiter«, maulte der König. »Mach schon weiter, sag ich dir! Auf die Knie mit dir, deine eigenen Knie werden dir doch nicht weh tun? Hat sie sich selbst geheilt, der Teufel! Und jetzt zeig einmal deine Zähne her! Sooo. Na, allerhand, deine Zähne.Wenn ich nur solche hätte … Und auch die Hände sind in Ordnung, kräftig. Gesund ist er, gesund, und trotzdem ein Geistesriese … Na ja … Also, mein Täubchen, mach weiter, kuriere mich, was stehst du da herum …«