»Ich«, sagte Rumata und verließ den Laden.
Er ging in die Schenke Zur grauen Freude, trank ein Glas irukanischen Säuerling, tätschelte der Wirtin die Wange, warf mit einem geschickten Schwertstoß den Tisch eines staatlichen Spitzels um, der ihn aus leeren Augen anstarrte, ging dann weiter in einen entlegenen Winkel und machte dort einen zerlumpten bärtigen Mann ausfindig, der ein Tintenfaß um den Hals hängen hatte. »Guten Tag, Bruder Nanin«, sagte er. »Wie viele Petitionen hast du denn heute geschrieben?«
Bruder Nanin lächelte verlegen und zeigte seine kleinen, schlechten Zähne.
»Heutzutage schreibt man wenig Petitionen, edler Don«, antwortete er. »Die einen glauben, daß das Bitten keinen Sinn hat. Und die andern rechnen damit, daß sie in allernächster Zeit auch ohne Bitten zugreifen können.«
Rumata neigte sich zu seinem Ohr und berichtete ihm, daß die Sache mit der Patriotischen Schule in Ordnung gehe. »Da hast du zwei Goldstücke«, sagte er zum Schluß. »Zieh dich anständig an und bring dich in Ordnung. Und wäge deine Worte … Zumindest die ersten Tage. Vater Kin, der Prokurator, ist ein gefährlicher Mensch.«
»Ich werde ihm meinen Traktat über Gerüchte vorlesen«, sagte Bruder Nanin heiter. »Ich danke Euch, edler Don.«
»Was tut man nicht alles zum Angedenken seines Vaters«, sagte Rumata. »Jetzt aber sag mir, wo ich Vater Tarra finde.« Bruder Nanins Lächeln verschwand plötzlich, und er begann nervös zu zwinkern. »Gestern war hier eine Rauferei«, sagte er. »Und Vater Tarra hat beim Trinken ein wenig über die Schnur gehauen. Und dann, er hat doch rote Haare … Sie haben ihm eine Rippe gebrochen.« Rumata gurgelte vor Ärger.
»Da habt ihr’s!« sagte er. »Und warum trinkt ihr so viel?«
»Manchmal ist es schwer, sich zu beherrschen«, sagte Bruder Nanin traurig.
»Das ist wahr«, sagte Rumata. »Na, da hast du noch zwei Goldstücke, und nimm dich seiner an!«
Bruder Nanin verbeugte sich tief und wollte seine Hand küssen. Rumata trat einen Schritt zurück.
»Na, na«, sagte er, »du hast schon bessere Späße gemacht, Bruder Nanin. Leb wohl!«
Im Hafen roch es wie sonst nirgends in Arkanar. Es roch nach Salzwasser und faulem Algenschlamm, nach Gewürzen, Teer, Rauch und verdorbenem Pökelfleisch, und aus den Tavernen drang ein ekelhafter Qualm von gekochtem Fisch und sauergewordenem Hausbier. In der schwülen Luft hing ein dichtes vielsprachiges Gefluche. An den Piers, in den engen Gängen zwischen den Lagerhäusern und um die Tavernen drängten sich Tausende Menschen, die alle irgendwie merkwürdig aussahen: heruntergekommene Matrosen, aufgeblasene Kaufleute, Fischer mit düsteren Mienen, Sklavenhändler, Mädchenhändler, fettgeschminkte Huren, betrunkene Soldaten, undefinierbare Gestalten, von Kopf bis Fuß mit Waffen behängt, und phantastische Vagabunden in zerlumpten Kleidern mit goldenen Reifen um die schmutzigen Handgelenke. Und alle waren erregt und übellaunig. Nach einem Erlaß Don Rebas konnte nun schon den dritten Tag kein Schiff, ja nicht einmal ein Kahn den Hafen verlassen.
An den Anlegestellen spielten die grauen Sturmowiki mit ihren rostigen Metzgerbeilen. Sie spuckten ins Wasser und bedachten die Menge mit frechen und schadenfreudigen Blicken. Auf den festgehaltenen Schiffen hockten in Gruppen zu fünft und zu sechst breitknochige kupferhäutige Männer in umgestülpten Pelzen und Kupferkappen: es waren angeheuerte Barbarensöldner. Sie taugten zwar im Nahkampf nichts, auf Entfernung aber, ebenso wie jetzt, waren sie mit ihren Blasrohren und den vergifteten Pfeilen sehr gefährlich. Aus der Ferne aber ragten die schwarzen Masten der Kriegsgaleeren der königlichen Flotte drohend zum Himmel. Von Zeit zu Zeit stießen sie feurigrote Rauchschwaden aus, die immer einen Fleck des Meeres in Brand setzten: man entzündete Öl zur Einschüchterung der wartenden Menge.
Rumata ging an der Zollkanzlei vorbei, wo vor verschlossenen Türen die Kapitäne vergeblich auf ihre Ausfahrtgenehmigung warteten, er schlug sich durch eine plärrende Menge, welche mit allem handelte, was ihnen gerade in die Hände fiel – von Sklavinnen und schwarzen Perlen bis zu Narkotika und dressierten Spinnen –, ging dann zu den Piers hinaus, warf einen raschen Seitenblick auf die öffentlich zur Schau gestellten Leichen in Matrosenuniform, die in der prallen Sonne schon völlig aufgedunsen waren, beschrieb einen Bogen entlang eines mit Gerümpel und Unrat übersäten Platzes und tauchte endlich in einer der übelriechenden Hafengassen unter. Hier wurde es ruhiger. In den Türen ärmlicher Spelunken dösten halbnackte Huren, an einer Straßenkreuzung lag ein volltrunkener Soldat mit eingeschlagener Nase und nach außen gestülpten Taschen, und die Wände entlang schlichen verdächtige Figuren mit bleichen Nachtgesichtern.
Rumata war hier zum erstenmal bei Tag, und anfangs wunderte er sich, daß er kein Aufsehen erregte. Die Leute, denen er begegnete, sahen mit ihren wäßrigen Augen entweder an ihm vorbei oder auch durch ihn hindurch, obwohl sie beiseite traten und ihm aus dem Weg gingen. Als er aber um eine Ecke bog und sich unvermittelt umwandte, konnte er gerade noch sehen, wie an die zwanzig verschiedenartige Köpfe, männliche und weibliche, zerzauste und kahle, augenblicklich in Türen, Fenstern und Verschlagen verschwanden. Da übertrug sich auf ihn die seltsame Atmosphäre dieser ekelerregenden Gegend, eine Atmosphäre nicht so sehr von Feindseligkeit oder Gefahr, sondern von einem unguten, habsüchtigen Interesse.
Er stieß mit der Schulter die Tür auf und betrat eine der Spelunken. Im halbdunklen Gastzimmer schlummerte hinter dem Schanktisch ein alter Mann mit einer unerhört langen Nase und dem Gesicht einer Mumie. Es waren keine Gäste da. Rumata trat unhörbar an den Schanktisch und zielte schon einen Knipser auf die lange Nase des Alten, als er plötzlich bemerkte, daß der schlafende Alte überhaupt nicht schlief, sondern ihn durch seine nackten, zusammengekniffenen Lider aufmerksam beobachtete. Rumata warf ein Silberstück auf das Pult, und die Augen des Alten öffneten sich gleich wie auf Knopfdruck.
»Womit darf ich dem edlen Don dienen?« erkundigte er sich geschäftig. »Etwas zum Beißen? Zum Riechen? Oder ein Mädchen?«
»Stell dich nicht dumm«, sagte Rumata, »du weißt genau, wozu ich hierher komme.«
»Eh-ehe! Das wird doch nicht der edle Don Rumata sein!« rief mit ungewöhnlicher Verwunderung der alte Mann. »Ich schau so vor mich hin … Da plötzlich, irgendwie ein bekanntes Gesicht …« Nach dieser langen Rede ließ der alte Mann wieder seine Lider sinken. Alles war klar. Rumata ging um den Schanktisch herum und kroch durch eine enge Tür in das Nachbarzimmer. In dem dunklen Raum war wenig Platz, und es roch penetrant nach saurem Bier. In der Mitte des Raumes stand hinter einem hohen Pult ein älterer Mann. Sein von Falten durchfurchtes Gesicht war über einen Stoß Papiere gebeugt, auf dem Kopf saß eine schwarze flache Kappe. Auf dem Pult flackerte eine schwache Ölfunzel, und in ihrem Dämmerlicht sah man nur die Gesichter der Männer, die unbeweglich an der Wand saßen. Auf seine Schwerter gestützt, ertastete sich Rumata einen Schemel an der Wand und setzte sich. Hier herrschten eigene Gesetze und eine eigene Etikette. Keiner der Anwesenden schenkte dem Hereingekommenen die geringste Aufmerksamkeit: Kommt ein Mensch herein, dann gehört es sich eben so, wenn es sich aber nicht so gehört, so zwinkert man nur einmal mit dem Auge, und der Mensch ist verschwunden. Man wird ihn dann auf der ganzen Welt vergeblich suchen … Der runzelige Alte kratzte eifrig mit seiner Feder, die Leute an der Wand verharrten unbeweglich. Von Zeit zu Zeit ließ der eine oder der andere von ihnen ein langgezogenes Seufzen hören. An den Wänden liefen, leichtbeinig und leise tappend, unsichtbare Molche hin und her, die nach Fliegen schnappten.
Die unbeweglichen Männer an der Wand waren die Anführer von Banden. Einige von ihnen kannte Rumata schon seit langem vom Sehen. An und für sich waren diese stumpfen Tiere nicht viel wert.
Ihre Psyche war nicht komplizierter als die eines mittleren Krämers. Sie waren dumm, brutal und konnten gut mit Messern und kurzen Knüppeln umgehen. Aber da war auch noch der Mann am Pult … Sie nannten ihn Waga Koleso, und er war allmächtig, kannte keinen Konkurrenten, der ihm seine Stelle als Oberhaupt aller verbrecherischen Kräfte des ganzen Landes streitig gemacht hätte – von den pitanischen Sümpfen im Westen Irukans bis hin zur Seegrenze der Handelsrepublik Soan. Von allen drei offiziellen Kirchen des Imperiums war er verflucht wegen ungebührlicher Hochmütigkeit, denn er behauptete, der jüngere Bruder des regierenden Fürsten zu sein. Er verfügte über eine ständige nächtliche Armee, deren durchschnittliche Stärke an die zehntausend Mann waren, hatte einige hunderttausend Goldstücke in seinen Truhen, und seine Agenten drangen bis in das Allerheiligste des Staatsapparates ein. In den letzten zwanzig Jahren hatte man ihn viermal hingerichtet, jedesmal im Beisein einer großen Volksmenge. Nach einer offiziellen Version schmachtete er jetzt gleichzeitig in drei der düstersten Verliese des Reiches, Don Reba aber hatte nicht zum erstenmal Befehle erlassen, »betreffend die aufrührerische Verbreitung von Legenden durch Staatsverbrecher und andere böswillige Personen über einen sogenannten Waga Koleso, der in Wirklichkeit gar nicht existiert und daher in den Bereich der Legende gehört«.
Gewissen Gerüchten zufolge berief eben dieser Don Reba einige Barone, welche über eine starke Rotte verfügten, zu sich und setzte ihnen eine Belohnung in Aussicht: fünfhundert Goldstücke für den toten Waga und siebentausend für den lebenden. Rumata selbst mußte seinerzeit nicht wenig Kraft und Geld aufwenden, um mit diesem Mann in Kontakt zu kommen. Waga rief in ihm eine heftige Abneigung hervor, war aber manchesmal äußerst nützlich, ja buchstäblich unentbehrlich. Außerdem erregte Waga Rumatas wissenschaftliches Interesse. Er war nämlich ein äußerst interessantes Exemplar in Rumatas Kollektion mittelalterlicher Monster, eine Person, der offenbar jegliche Vergangenheit fehlte. Waga legte schließlich die Feder weg, straffte seinen Rücken und sagte krächzend:
»Nun also, meine Kinderchen. Zweieinhalbtausend Goldstücke in drei Tagen. Und an Ausgaben bloß eintausendneunhundertsechsundneunzig. Fünfhundertvier kleine runde Goldstücke in drei Tagen. Nicht übel, meine Kinderchen, nicht übel …« Keiner rührte sich. Waga verließ seinen Platz hinter dem Pult, setzte sich in eine Ecke und rieb seine trockenen Handflächen kräftig gegeneinander.
»Das ist doch etwas, um euch zu erfreuen, meine Kinderchen«, sagte er. »Die Zeiten sind günstig, fruchtbare Jahre … Aber man muß hart arbeiten um sein täglich Brot. Ach, und wie hart! Mein älterer Bruder, der König von Arkanar, hat es sich in den Kopf gesetzt, alle gelehrten Menschen in seinem und meinem Königreich zu vertilgen. Na schön, Seine Weisheit muß es ja besser wissen. Und wer sind wir denn schon? Sollen wir seine Allerhöchsten Beschlüsse kritisieren? Indessen können, ja müssen wir einen Nutzen ziehen aus diesen seinen Beschlüssen. Und da wir seine treuen Untertanen sind, müssen wir ihm dienstbar sein. Da wir aber seine nächtlichen Untertanen sind, werden wir ihm unseren bescheidenen Anteil nicht ohne weiteres abtreten. Ihm fällt das natürlich nicht auf, und er wird uns daher auch nicht zürnen. Was gibt es?« Keiner muckste sich.