Als die Zeit herankam, in der ich etwa nach Assisi hatte reisen wollen, lag noch metertiefer Schnee. Erst im April begann das Frühjahr sich zu regen, und es kam eine bösartig rasche Schneeschmelze über unser Dorf, wie seit Jahren keine mehr gewesen war. Tag und Nacht hörte man den Föhn heulen, das Krachen entfernter Lauen und das erbitterte Brausen der Sturzbäche, welche große Felsstücke und zersplitterte Bäume mitbrachten und auf unsre armen, schmalen Grundstücke und Obstwiesen warfen. Das Föhnfieber ließ mich nicht schlafen, Nacht für Nacht hörte ich ergriffen und angstvoll den Sturm klagen, die Lauen donnern und den wütenden See an die Ufer branden. In dieser fiebernden Zeit der schrecklichen Frühlingskämpfe überfiel mich noch einmal die überwundene Liebeskrankheit so ungestüm, daß ich mich nachts erhob, mich ins Türfenster legte und unter bitteren Schmerzen Liebesworte an Elisabeth in das Getöse hinausrief. Seit der lauen Züricher Nacht, in der ich auf dem Hügel über dem Hause der welschen Malerin vor Liebe gerast hatte, war die Leidenschaft nie mehr so schrecklich und unwiderstehlich über mich Herr geworden. Es war mir oft so, als stünde die schöne Frau ganz nahe vor mir und lächle mich an und wiche doch bei jedem Schritt, den ich ihr näher träte, zurück. Meine Gedanken, mochten sie herkommen, von wo sie wollten, kehrten unabänderlich zu diesem Bilde zurück, und ich konnte gleich eifern Verwundeten es nicht lassen, immer wieder an der juckenden Schwäre zu kratzen. Ich schämte mich vor mir selber, was ebenso quälend wie nutzlos war, verwünschte den Föhn und hatte heimlich neben allen Qualen doch ein verschwiegenes, warmes Lustgefühl, ganz wie in Knabenzeiten, wenn ich an die hübsche Rösi dachte und die laue, dunkle Woge mich überlief.
Ich begriff, daß gegen diese Krankheit kein Kraut gewachsen war, und versuchte wenigstens ein bißchen zu arbeiten. Ich begann den Aufbau meines Werkes in Angriff zu nehmen, entwarf einige Studien und sah bald ein, daß dafür jetzt nicht die Zeit sei. Indessen liefen von überallher die bösen Föhnberichte ein, und im Dorfe selbst nahm die Not überhand. Die Bachdämme waren halb zerstört, manche Häuser, Scheunen und Ställe hatten starken Schaden gelitten, von der Außengemeinde trafen mehrere Obdachlose ein, überall war Klage und Not und nirgends Geld. In diesen Tagen war's, daß zu meinem Glück der Schulze mich auf sein Ratsstübchen holen ließ und mich fragte, ob ich willens sei, einem Ausschuß zur Abhilfe der allgemeinen Not beizutreten. Man traue mir zu, die Sache der Gemeinde beim Kanton zu vertreten und namentlich durch die Zeitungen das Land zur Teilnahme und Beisteuer zu bewegen. Mir kam es gelegen, gerade jetzt meine nutzlosen eigenen Leiden über einer ernsteren und würdigeren Sache vergessen zu können, und ich ging verzweifelt ins Zeug. In Basel gewann ich durch Briefe rasch einige Sammler. Der Kanton hatte, wie wir voraus wußten, kein Geld und konnte nur ein paar Hilfsarbeiter senden. Nun wandte ich mich an die Zeitungen mit Aufrufen und Berichten; Briefe, Beiträge und Anfragen liefen ein, und ich hatte neben der Schreiberei noch die Gemeinderatshändel mit den harten Bauernschädeln durchzufechten.
Die paar Wochen strenger, unentrinnbarer Arbeit taten mir gut. Als die Sache allmählich in eine geregelte Bahn gebracht und ich dabei minder notwendig geworden war, grünten ringsum die Matten und blaute der See harmlos und sonnig zu den vom Schnee befreiten Halden hinauf. Mein Vater hatte erträgliche Tage, und meine Liebesnöte waren gleich den schmutzigen Lawinenresten verschwunden und zerlaufen. In diesen Zeiten hatte früher mein Vater seinen Nachen gefirnißt, die Mutter hatte vom Garten her zugesehen, und ich hatte mein Auge auf des Alten Hantierung, auf die Wolken seiner Pfeife und auf die gelben Schmetterlinge gehabt. Diesmal war kein Nachen zum Anstreichen mehr da, die Mutter war lange tot, und der Vater hockte verdrossen in dem verwahrlosten Hause herum. An die alten Zeiten erinnerte mich auch Onkel Konrad. Häufig nahm ich ihn, vom Vater ungesehen, zu einem Gläschen Wein mit und hörte zu, wie er erzählte und seiner vielen Projekte mit gutmütigem Lachen und doch nicht ohne Stolz gedachte. Neue machte er zur Zeit nicht mehr, und das Alter hatte ihn auch sonst stark gezeichnet, trotzdem war in seinen Mienen und zumal in seinem Lachen etwas Knaben- oder Jünglinghaftes, das mir wohltat. Er war oft mein Trost und Zeitvertreib, wenn ich es zu Haus beim Alten nimmer aushielt. Nahm ich ihn zum Wein mit, so trottete er hastig neben mir her und bestrebte sich ängstlich, seine krummgewordenen, mageren Beine im gleichen Schritt mit meinen zu halten.
»Mußt Segel nehmen, Onkel Konrad«, munterte ich ihn auf, und über dem Segel kamen wir dann jedesmal auf unsern alten Nachen zu sprechen, welcher nimmer da war und den er wie einen lieben Toten beklagte. Da auch mir das alte Stück lieb gewesen war und nun fehlte, gedachten wir seiner und aller mit ihm passierten Geschichten bis ins kleinste.
Der See war so blau wie ehemals, die Sonne nicht minder feiertäglich und warm, und ich alter Bursche schaute oft den gelben Faltern zu und hatte ein Gefühl, als wäre seit damals im Grunde wenig anders geworden und als könnte ich ebensowohl mich wieder in die Matten legen und Bubenträume aushecken. Daß dem nicht so war und daß ich ein gutes Teil meiner Jahre auf Nimmerwiedersehen schon verbraucht hatte, konnte ich jeden Tag beim Waschen sehen, wenn aus der rostigen Blechschüssel mein Kopf mit der starken Nase und dem säuerlichen Mund mich anglänzte. Noch besser sorgte Camenzind senior dafür, daß ich nicht am Wandel der Zeiten irre ward, und wenn ich ganz in die Gegenwart gerückt sein wollte, brauchte ich nur die klamme Tischlade in meiner Stube zu öffnen, worin mein künftiges Werk lag und schlief, aus einem Paket verjährter Skizzen und aus sechs oder sieben Entwürfen auf Quartbogen bestehend. Ich öffne die Lade aber selten.
Neben der Pflege des Alten gab mir das Instandhalten unsres verlotterten Hauswesens reichlich zu tun. In den Dielen klafften Abgründe, Ofen und Herd waren defekt, rauchten und stänkerten, die Türen schlossen nicht, und die Leitertreppe auf den Boden, den ehemaligen Schauplatz der väterlichen Züchtigungen, war lebensgefährlich. Ehe hieran etwas getan werden konnte, mußte das Beil geschliffen, die Säge geflickt, ein Hammer entlehnt und Nägel zusammengesucht werden, dann galt es, aus dem faulenden Rest des ehemaligen Holzvorrates brauchbare Stücke herzurichten. Beim Reparieren der Werkzeuge und des alten Schleifsteins ging mir Onkel Konrad ein wenig an die Hand, doch war er zu alt und krumm geworden, um viel zu nützen. Also zerschliß ich mir meine weichen Schreiberhände am widerspenstigen Holz, trat den wackligen Schleifstein, kletterte auf dem allenthalben undicht gewordenen Dach umher, nagelte, hämmerte, schindelte und schnitzte, wobei mein etwas ins Feiste gediehener Adam manchen Tropfen Schweiß vergoß. Zuweilen hielt ich denn auch, namentlich bei der leidigen Dachflickerei, mitten im Hammerschlag inne, setzte mich zurecht, sog die halberloschene Zigarre wieder an, schaute in die tiefe Himmelsbläue und genoß meine Trägheit im frohen Bewußtsein, daß jetzt der Vater mich nimmer antreiben und schelten konnte. Kamen dann Nachbarsleute vorübergewandelt, Weiber, alte Männer und Schulkinder, so knüpfte ich zur Beschönigung meines Nichtstuns freundnachbarliche Gespräche mit ihnen an und kam allmählich in den Geruch eines Mannes, mit dem sich ein vernünftiges Wort reden lasse.
»Macht's warm heut, Lisbeth?«
»Allweg, Peter. Was schaffst?«
»'s Dach flicken.«
»Kann nit schaden, 's hat's allweg schon länger nötig gehabt.«
»Wohl, wohl.«.
»Was macht denn der Alte? Er wird leicht seine siebenzig alt sein.
»Achtzig, Lisbeth, achtzig. Was meinst, wenn wir einmal so alt sind? 's ist kein Spaß.«
»Wohl, Peter, aber jetzt muß ich weiter, der Mann will 's Essen haben. Mach's gut unterdes!«
»Adie, Lisbeth.«
Und während sie mit dem Napf im Tüchlein weiterpilgerte, blies ich Wolken in die Luft, sah ihr nach und besann mich, wie es nur käme, daß alle Leute so fleißig ihren Geschäften nachgingen, indes ich schon zwei volle Tage an der gleichen Latte herumnagelte. Schließlich aber war das Dach doch geflickt. Der Vater interessierte sich ausnahmsweise dafür, und da ich ihn unmöglich aufs Dach schleppen konnte, mußte ich ihm ausführlich beschreiben und über jede halbe Latte Rechenschaft ablegen, wobei es mir auf einige Prahlereien nicht ankam.
»'s ist gut«, gab er zu, »'s ist gut, aber ich hätt' nicht geglaubt, daß du dies Jahr noch fertig wirst.«
Wenn ich nun meine Fahrten und Lebensversuche beschaue und überdenke, freut und ärgert es mich, die alte Erfahrung auch an mir erlebt zu haben, daß die Fische ins Wasser und die Bauern aufs Land gehören und daß aus einem Nimikoner Camenzind trotz aller Künste kein Stadt- und Weltmensch zu machen ist. Ich gewöhne mich daran, das in der Ordnung zu finden, und bin froh, daß meine ungeschickte Jagd um das Glück der Welt mich wider Willen in den alten Winkel zwischen See und Bergen zurückgeführt hat, wo ich hingehöre und wo meine Tugenden und Laster, namentlich aber die Laster, etwas Ordinäres und Hergebrachtes sind. Da draußen hatte ich die Heimat vergessen und war nahe daran gewesen, mir selbst als eine seltene und merkwürdige Pflanze vorzukommen; nun sehe ich wieder, daß es nur der Nimikoner Geist war, der in mir spukte und sich dem Brauch der übrigen Welt nicht fügen konnte. Hier fällt es niemand ein, einen Sonderling in mir zu sehen, und wenn ich meinen alten Papa oder den Onkel Konrad betrachte, komme ich mir wie ein ordentlich geratener Sohn und Neffe vor. Meine paar Zickzackflüge im Reich des Geistes und der sogenannten Bildung lassen sich füglich der berühmten Segelfahrt des Oheims vergleichen, nur daß sie an Geld und Mühe und schönen Jahren mich teurer zu stehen kamen. Auch äußerlich bin ich, seit mein Vetter Kuoni mir den Bart stutzt und seit ich wieder Gürtelhosen trage und in Hemdärmeln herumlaufe, wieder ganz ein Hiesiger geworden und werde, wenn ich einmal grau und alt bin, unvermerkt meines Vaters Platz und seine kleine Rolle im Dorfleben übernehmen. Die Leute wissen bloß, ich sei jahrelang in der Fremde gewesen, und ich hüte mich wohl, ihnen zu sagen, was für ein lausiges Metier ich dort betrieben und in wieviel Pfützen ich gesteckt habe; sonst hätte ich bald meinen Spott und Übernamen weg. Sooft ich von Deutschland, Italien oder Paris erzähle, blase ich mich ein bißchen auf und komme selbst bei den ehrlichsten Stellen zuweilen in einige Zweifel an meiner eigenen Wahrhaftigkeit.
Und was ist denn nun bei so viel Irrfahrten und verbrauchten Jahren herausgekommen? Die Frau, die ich liebte und immer noch liebe, erzieht in Basel ihre zwei hübschen Kinder. Die andere, die mich liebhatte, hat sich getröstet und handelt weiterhin mit Obst, Gemüse und Sämereien. Der Vater, wegen dessen ich ins Nest heimgekehrt bin, ist weder gestorben noch genesen, sondern sitzt mir gegenüber auf seinem Faulbettlein, sieht mich an und beneidet mich um den Besitz des Kellerschlüssels.