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Um mir die gute Stimmung zu bewahren, nahm ich ein Boot und ruderte behaglich langsam in den warmen, lichten See. Es wollte Abend werden, und am Himmel hing eine einzige schöne, schneeweiße Wolke. Ich hatte sie fortwährend im Auge und nickte ihr zu, an die Wolkenliebe meiner Kindheit denkend, und an Elisabeth, und auch an jene gemalte Wolke Segantinis, vor welcher ich Elisabeth einmal so schön und hingegeben hatte stehen sehen. Die durch kein Wort und unreines Begehren getrübte Liebe zu ihr hatte ich nie so beglückend und reinigend empfunden wie jetzt, da ich beim Anblick der Wolke ruhig und dankbar alles Gute meines Lebens übersah und statt der frühen Wirren und Leidenschaften nur die alte Sehnsucht der Knabenzeit in mir fühlte – auch sie reifer und stiller geworden.

Von jeher war ich gewohnt, zum ruhigen Takt der Ruderschläge irgend etwas zu summen oder zu singen. Ich sang auch jetzt leise vor mich hin und merkte erst im Singen, daß es Verse waren. Sie blieben mir im Gedächtnis, und ich schrieb sie zu Hause auf, als Andenken an den schönen Züricher Seeabend.

Wie eine weiße Wolke
Am hohen Himmel steht,
So licht und schön und ferne
Bist du, Elisabeth.
Die Wolke geht und wandert,
Kaum hast du ihrer acht,
Und doch durch deine Träume
Geht sie bei dunkler Nacht.
Geht und erglänzt so selig,
Daß fortan ohne Rast
Du nach der weißen Wolke
Ein süßes Heimweh hast.

In Basel fand ich einen Brief aus Assisi für mich daliegen. Er war von Frau Annunziata Nardini und voll erfreulicher Nachrichten. Sie hatte nun doch einen zweiten Mann gefunden! Übrigens tue ich besser, ihn unverändert mitzuteilen.

Hochgeehrter und sehr lieber Herr Peter!

Erlauben Sie Ihrer treuen Freundin die Freiheit, Ihnen einen Brief zu schreiben. Es hat Gott gefallen, mir ein großes Glück zu bescheren, und ich möchte Sie auf den zwölften Oktober zu meiner Hochzeit einladen. Er heißt Menotti und hat zwar wenig Geld, doch liebt er mich sehr und hat schon früher mit Früchten gehandelt. Er ist hübsch, aber nicht so groß und schön wie Sie, Herr Peter. Er wird auf der Piazza Obst verkaufen, während ich im Laden bleibe. Auch die schöne Marietta vom Nachbar wird heiraten, jedoch nur einen Maurer aus der Fremde.

Ich habe jeden Tag an Sie gedacht und vielen Leuten von Ihnen erzählt. Ich habe Sie sehr lieb und auch den Heiligen, welchem ich vier Kerzen zu Ihrem Andenken gestiftet habe. Auch Menotti wird sehr froh sein, wenn Sie zur Hochzeit kommen. Wenn er unfreundlich gegen Sie sein sollte, werde ich es ihm verbieten. Leider hat sich gezeigt, daß der kleine Matteo Spinelli wirklich, wie ich stets gesagt habe, eine Bösewicht ist. Er hat mir oft Zitronen gestohlen. Jetzt ist er hinweggebracht worden, weil er seinem Vater, dem Bäcker, zwölf Lire stahl und weil er den Hund des Bettlers Giangiacomo vergiftet hat.

Ich wünsche Ihnen den Segen Gottes und des Heiligen. Ich habe große Sehnsucht nach Ihnen.

Ihre untertänige und treue Freundin

Annunziata Nardini

Nachschrift

Unsere Ernte war mäßig. Die Trauben standen sehr schlecht, auch Birnen gab es nicht genug, aber die Limonen waren sehr reichlich, nur mußten wir sie zu billig verkaufen. In Spello geschah ein schreckliches Unglück. Ein junger Mensch hat seinen Bruder mit einer Harke erschlagen, man weiß nicht weshalb, aber gewiß ist er eifersüchtig auf ihn gewesen, obwohl es sein eigener Bruder war.

Leider konnte ich der verlockenden Einladung nicht folgen. Ich schrieb meinen Glückwunsch und stellte meinen Besuch aufs nächste Frühjahr in Aussicht. Dann ging ich mit dem Brief und mit einem mitgebrachten Nürnberger Geschenk für die Kinder zu meinem Schreinermeister.

Dort fand ich eine unerwartete große Veränderung. Abseits vom Tisch, gegen das Fenster hin, hockte eine groteske, schiefe Menschengestalt in einem Stuhl, der wie ein Kindersessel mit einer Brustwehr versehen war. Es war Boppi, der Bruder der Meistersfrau, ein armer, halb gelähmter Verwachsener, für welchen nach dem kürzlich erfolgten Tod seiner alten Mutter nirgends sich ein Plätzchen gefunden hatte. Widerstrebend hatte ihn der Schreiner einstweilen zu sich genommen, und die beständige Gegenwart des kranken Krüppels lag wie ein Schrecken auf dem gestörten Hauswesen. Man hatte sich noch nicht an ihn gewöhnt; den Kindern graute vor ihm, die Mutter war mitleidig, verlegen und gedrückt, der Vater offenbar verstimmt.

Boppi hatte auf einem häßlichen Doppelhöcker ohne Hals einen großen, starkzügigen Kopf mit breiter Stirn, starker Nase und schönem, leidendem Munde sitzen, die Augen waren klar, aber still und etwas verängstigt, und die merkwürdig kleinen und hübschen Hände lagen fortwährend weiß und ruhig auf der schmalen Brustwehr.

Auch ich war befangen und verstimmt über den armen Eindringling, und zugleich war es mir peinlich, den Schreiner die kurze Geschichte des Kranken erzählen zu hören, während dieser daneben saß und auf seine Hände schaute, ohne von jemand angeredet zu werden. Krüppel war er von Geburt, doch hatte er die Volksschule durchgemacht und konnte jahrelang durch Strohflechten sich ein wenig nützlich machen, bis ihn wiederholte Gichtanfälle teilweise lahmten. Seit Jahren lag er nun entweder zu Bett oder saß in seinem sonderbaren Stuhl zwischen Kissen geklemmt. Die Frau wollte wissen, er habe früher viel und schön für sich gesungen, doch hatte sie ihn jahrelang nicht mehr gehört, und hier im Hause hatte er noch nie gesungen. Und während all dies erzählt und besprochen wurde, saß er da und blickte vor sich hin. Mir ward nicht wohl dabei, und ich ging bald wieder weg und blieb die nächsten Tage dem Hause fern.

Mein Leben lang war ich stark und gesund gewesen, hatte nie eine ernste Krankheit gehabt und die Leidenden, namentlich Krüppel, mit Mitleid, aber auch ein wenig verächtlich betrachtet; nun paßte es mir durchaus nicht, mein behaglich heiteres Leben in der Handwerkerfamilie durch die unerquickliche Last dieser elenden Existenz gestört zu finden. Ich verschob darum einen zweiten Besuch von Tag zu Tag und sann vergeblich nach, wie ich uns den lahmen Boppi vom Halse schaffen könnte. Es mußte sich irgendeine Möglichkeit finden, ihn mit geringen Kosten in einem Spital oder Pfründhaus unterzubringen. Mehrmals wollte ich den Schreiner aufsuchen, um mit ihm darüber zu beraten, doch scheute ich mich, ungefragt davon anzufangen, und vor der Begegnung mit dem Kranken hatte ich ein kindisches Grauen. Es war mir widerlich, ihn immer zu sehen, ihm die Hand geben zu müssen.

So ließ ich einen Sonntag verstreichen. Am zweiten Sonntag war ich schon im Begriff, mit einem Frühzug in den Jura auszufliegen, schämte mich dann aber doch meiner Feigheit, blieb da und ging nach Tisch zu dem Schreiner.

Mit Widerstreben gab ich Boppi die Hand. Der Schreiner war ärgerlich und schlug einen Spaziergang vor; er war, wie er mir mitteilte, des ewigen Elends überdrüssig, und ich freute mich, ihn meinen Vorschlägen zugänglich zu wissen. Die Frau wollte dableiben, da bat sie der Krüppel, sie möchte mitgehen, da er gut allein bleiben könne. Wenn er nur ein Buch und ein Glas Wasser neben sich habe, könne man ihn einschließen und unbesorgt zurücklassen.

Und wir, die wir uns doch sämtlich für ganz leidliche und gutherzige Leute hielten, schlossen ihn ein und gingen spazieren! Und wir waren vergnügt, hatten unsern Spaß mit den Kindern, freuten uns der schönen goldigen Herbstsonne, und keiner von uns schämte sich, und keinem schlug das Herz, daß wir den Lahmen allein im Hause hatten liegenlassen! Wir waren vielmehr froh, seiner für eine Weile ledig zu sein, atmeten erleichtert die klare, sonnenwarme Luft und boten den Anblick einer dankbaren und biederen Familie, die Gottes Sonntag mit Verstand und Dank genießt.

Erst als wir am Grenzacher Hörnli zu einem Glas Wein eingekehrt waren und im Wirtsgarten um den Tisch saßen, kam der Vater auf Boppi zu sprechen. Er klagte über den lästigen Gast, seufzte über die Beengung und Verteuerung seines Haushalts und schloß lachend mit der Bemerkung: »Na, hier draußen kann man wenigstens noch eine Stunde vergnügt sein, ohne daß er einen stört!«

Bei diesem unbedachten Wort sah ich plötzlich den armen Lahmen vor mir, flehend und leidend, ihn, den wir nicht liebten, den wir loszuwerden trachteten und der jetzt von uns verlassen und eingeschlossen einsam und traurig in der dämmernden Stube saß. Es fiel mir ein, daß es nun bald zu dunkeln beginnen müsse und daß er nicht imstande sein würde, Licht zu machen oder dem Fenster näher zu rücken. Also würde er das Buch weglegen und im Halbdunkel allein sitzen müssen ohne Gespräch oder Zeitvertreib, indes wir hier Wein tranken, lachten und uns vergnügten. Und es fiel mir ein, wie ich den Nachbarn in Assisi vom heiligen Franz erzählt hatte und wie ich geflunkert hatte, er hätte mich gelehrt, alle Menschen liebzuhaben. Wozu hatte ich das Leben des Heiligen studiert und seinen herrlichen Gesang der Liebe auswendig gelernt und seine Spuren auf den umbrischen Hügeln gesucht, wenn nun ein armer und hilfloser Mensch dalag und leiden mußte, während ich davon wußte und ihn trösten konnte?

Die Hand eines mächtigen Unsichtbaren legte sich auf mein Herz, drückte es nieder und füllte es mit so viel Scham und Schmerz, daß ich zitterte und unterlag. Ich wußte, daß Gott jetzt mit mir ein Wort reden wollte.

»Du Dichter!« sagte er, »du Schüler des Umbriers, du Prophet, der die Menschen Liebe lehren und beglücken will! Du Träumer, der in Winden und Wassern meine Stimme hören möchte!

Du liebst ein Haus«, sagte er, »wo man freundlich zu dir ist, wo du angenehme Stunden hast! Und am selben Tag, da ich dies Haus meiner Einkehr würdige, läufst du davon und sinnst darauf, mich zu vertreiben! Du Heiliger! Du Prophet! Du Dichter!«

Mir war genau so zumute, als würde ich vor einen reinen, untrüglichen Spiegel gestellt, und ich erblickte mich darin als einen Lügner, als einen Maulhelden, als einen Feigling und Wortbrüchigen. Das tut weh, das ist bitter, peinigend und schrecklich; aber was in diesem Augenblick in mir zerbrach und Qualen litt und sich verwundet bäumte, das war des Zerbrechens und Untergehens wert.

Gewaltsam und eilig nahm ich Abschied, ließ den Wein im Glase stehen und das angebrochene Brot auf dem Tische liegen und ging in die Stadt zurück. In meiner Erregung wurde ich von unausstehlicher Angst gepeinigt, es möchte ein Unglück geschehen sein. Es konnte Feuer ausbrechen, der hilflose Boppi konnte aus dem Stuhl gefallen sein und leidend oder tot am Boden liegen. Ich sah ihn daliegen, ich glaubte dabeizustehen und den stillen Vorwurf im Blick des Krüppels sehen zu müssen.

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