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Dann war ich reif für die Kneipe. Ich blies die Lampe aus, tastete mich die steile, alte Wendeltreppe hinab und erschien in einer Veltlinerhalle oder Waadtländer Weinstube. Dort empfing man mich als guten Gast mit Respekt, während ich gewohnlich trutzig und gelegentlich sackgrob war. Ich las den Simplizissimus, der mich jedesmal ärgerte, trank meinen Wein und wartete, bis er mich trösten würde. Und der süße Gott berührte mich mit seiner weiblich weichen Hand, machte meine Glieder wohlig müde und führte meine verirrte Seele in das Land der schönen Träume zu Gast.

Gelegentlich wunderte ich mich selber darüber, daß ich die Leute so borstig behandelte und eine Art von Spaß daran hatte, sie anzuschnauzen. In Gasthäusern, die ich öfter besuchte, fürchteten und verwünschten mich die Kellnerinnen als einen Grobian und Nörgler, der ewig zu reklamieren hatte. Geriet ich in ein Gespräch mit anderen Gästen, so war ich höhnisch und grob, freilich waren auch die Leute danach. Trotzdem fanden sich ein paar wenige Wirtshausbrüder, sämtlich schon alternde und unheilbare Sünder, mit denen ich zuweilen einen Abend versaß und ein leidliches Verhältnis fand. Es war namentlich ein ältliches Rauhbein unter ihnen, seines Zeichens Dessinateur, ein Weiberfeind, Schweinigel und geeichter Zecher erster Klasse. Wenn ich ihn abends in irgendeiner Schenke allein antraf, setzte es jedesmal ein scharfes Zechen ab. Erst wurde geplaudert, gewitzelt und nebenher ein Fläschchen Roter gebechert, dann trat allmählich das Trinken in den Vordergrund, das Gespräch schlief ein, und wir hockten einander schweigsam gegenüber, sogen jeder an seiner Brissago und leerten jeder für sich seine Flaschen. Dabei war einer dem andern ebenbürtig, wir ließen stets gleichzeitig die Flaschen wieder füllen und beobachteten einer den andern halb mit Achtung und halb mit Schadenfreude. Zur Zeit des Neuen, im Spätherbst, zogen wir einst gemeinsam durch einige Markgräfler Weindörfer, und im Hirschen zu Kirchen erzählte mir der alte Knopf seine Lebensgeschichte. Ich glaube, sie war interessant und absonderlich, doch vergaß ich sie leider vollständig. Geblieben ist mir nur seine Schilderung einer Trinkerei, schon aus seinen späteren Jahren. Es war irgendwo auf dem Lande bei einer dörflichen Festlichkeit. Als Gast am Honoratiorentisch verleitete er sowohl den Pfarrer wie den Schultheiß vorzeitig zu tüchtigen Räuschen. Der Pfarrer hatte aber noch eine Rede zu halten. Nachdem man ihn mit Mühe aufs Podium geschleppt, tat er dort ungeheuerliche Sprüche und mußte abgeführt werden, worauf der Schultheiß in die Lücke sprang. Er begann gewaltig aus dem Stegreif zu reden, wurde jedoch durch die heftige Bewegung plötzlich unwohl und endete seine Ansprache auf eine ungewöhnliche und unfeine Weise.

Später hätte ich diese und andere Geschichten mir gerne nochmals erzählen lassen. Es hatte aber bei einem Schützenfestabend unversöhnliche Händel zwischen uns gegeben, wir hatten einander die Barte gerupft und waren im Zorn auseinandergegangen. Von da an kam es einigemal vor, daß wir als Feinde gleichzeitig in einer Wirtsstube saßen, jeder natürlich an einem anderen Tisch; aber aus alter Gewohnheit beobachteten wir einander schweigend, tranken im gleichen Tempo und blieben sitzen, bis wir längst die letzten Gäste waren und schließlich ersucht wurden abzuziehen. Zu einer Versöhnung ist es nie gekommen.

Fruchtlos und ermüdend war das ewige Nachdenken über die Ursachen meiner Trauer und Lebensunfähigkeit. Ich hatte durchaus nicht das Gefühl, fertig und verbraucht zu sein, sondern war voll von dunklen Trieben und glaubte daran, daß es zur rechten Stunde mir noch gelingen würde, etwas Tiefes und Gutes zu schaffen und dem spröden Leben wenigstens eine Handvoll Glück zu entreißen. Aber würde die rechte Stunde jemals kommen? Mit Bitterkeit dachte ich an jene modernen, nervösen Herren, die sich durch tausend künstliche Anregungen zur künstlerischen Arbeit stachelten, während in mir starke Kräfte unverbraucht lagen und liegenblieben. Und ich grübelte wieder, was für ein Hemmnis oder Dämon mir in meinem strotzend starken Leibe die Seele stocken und immer schwerer werden lasse. Dabei hatte ich auch noch den sonderbaren Gedanken, mich für einen aparten, irgendwie zu kurz gekommenen Menschen zu halten, dessen Leiden niemand kenne, verstehe oder teile. Es ist das Teuflische an der Schwermut, daß sie einen nicht nur krank, sondern auch eingebildet und kurzsichtig, ja fast hochmütig macht. Man kommt sich vor wie der geschmacklose Heinesche Atlas, der allein alle Schmerzen und Rätsel der Welt auf den Schultern liegen hat, als ob nicht tausend andere dieselben Leiden duldeten und im selben Labyrinth herumirrten. Auch daß die Mehrzahl meiner Eigenschaften und Eigenheiten nicht so sehr mir gehörte, als Familiengut oder Übel der Camenzinde war, kam mir in meiner Isolierung und Heimatferne ganz abhanden.

Alle paar Wochen ging ich einmal wieder in das gastliche Gelehrtenhaus. Allmählich kannte ich ziemlich alle dort verkehrenden Leute. Es waren meist jüngere Akademiker, viele Deutsche darunter, von allen Fakultäten, außerdem ein paar Maler, einige Musiker sowie ein paar Bürgersleute mit ihren Frauen und Mädchen. Ich sah oft mit Erstaunen diese Leute an, die mich als seltenen Gast begrüßten und von denen ich wußte, daß sie sich untereinander wöchentlich soundso vielemal sahen. Was sprachen und trieben sie nur immer miteinander? Die meisten hatten dieselbe stereotype Form des homo socialis, und sie schienen mir alle ein wenig miteinander verwandt, kraft eines geselligen und nivellierenden Geistes, den ich allein nicht besaß. Es waren manche feine und bedeutende Menschen dabei, welchen die ewige Geselligkeit offenbar nichts oder nicht viel von ihrer Frische und persönlichen Kraft raubte. Mit einzelnen von ihnen konnte ich lang und mit Interesse sprechen. Aber von einem zum andern gehen, bei jedem eine Minute stehenbleiben, den Weibern auf gut Glück Artigkeiten sagen, meine Aufmerksamkeit auf eine Tasse Tee, zwei Gespräche und ein Klavierstück zu gleicher Zeit richten, dabei angeregt und vergnügt aussehen, das konnte ich nicht. Schrecklich war es mir, von Literatur oder Kunst reden zu müssen. Ich sah, daß auf diesen Gebieten sehr wenig gedacht, sehr viel gelogen und jedenfalls unsäglich viel geschwatzt wurde. Ich log also mit, hatte aber keine Freude daran und fand das viele nutzlose Gewäsche langweilig und entwürdigend. Viel lieber hörte ich etwa eine Frau von ihren Kindern sprechen oder erzählte selbst von Reisen, von kleinen Tageserlebnissen und anderen realen Dingen. Dabei konnte ich gelegentlich vertraulich und fast vergnügt werden. Meistens suchte ich aber am Schluß solcher Abende noch ein Weinhaus auf und schwemmte die Trockenheit im Halse und die faule Langeweile mit Veltliner weg.

Bei einer von diesen Gesellschaften sah ich das schwarze junge Mädchen wieder. Es war eine Menge Leute da, sie musizierten und verführten ihr gewohntes Getöse, und ich saß mit einer Bildermappe in einem abseitigen Lampenwinkel. Es waren Ansichten von Toskana, nicht die gewöhnlichen, tausendmal gesehenen Effektbildchen, sondern intimere, privatim skizzierte Veduten, meist Geschenke von Reisegenossen und Freunden des Hausherrn. Eben hatte ich die Zeichnung eines steinernen, schmalfenstrigen Häuschens in dem einsamen Tal von San Clemente gefunden, das ich erkannte, denn ich hatte dort manche Spaziergänge gemacht. Das Tal liegt ganz nah bei Fiesole, aber die Menge der Reisenden besucht es nie, weil keine Altertümer dort sind. Es ist ein Tal von herber und merkwürdiger Schönheit, trocken und kaum bewohnt, zwischen hohe, kahle und strenge Berge geklemmt, weltferne, melancholisch und unbetreten.

Das Mädchen trat heran und sah mir über die Schulter.

»Warum sitzen Sie immer so allein, Herr Camenzind?«

Es ärgerte mich. Sie fühlt sich von den Herren vernachlässigt, dachte ich, und nun kommt sie zu mir.

»Nun, bekomme ich keine Antwort?«

»Verzeihung, Fräulein; aber was soll ich denn antworten? Ich sitze allein, weil es mir Spaß macht.«

»Dann störe ich Sie also?«

»Sie sind komisch.«

»Danke; ist aber ganz gegenseitig.«

Und sie setzte sich. Ich hielt beharrlich mein Blatt in den Fingern.

»Sie sind doch vom Oberland«, sagte sie. »Ich möchte Sie gern einmal von dort erzählen hören. Mein Bruder sagt, in Ihrem Dorf gebe es bloß einen Familiennamen, lauter Camenzinds. Ist das wahr?«

»Beinah«, knurrte ich. »Es gibt aber auch einen Bäcker, der Füßli heißt. Und einen Gastwirt namens Nydegger.«

»Und sonst nichts als Camenzind! Und die sind alle miteinander verwandt?«

»Mehr oder weniger.«

Ich reichte ihr die Zeichnung hin. Sie hielt das Blatt fest, und ich bemerkte, daß sie es verstand, so etwas richtig anzufassen. Das sagte ich ihr.

»Sie loben mich«, lachte sie, »aber wie ein Schullehrer.«

»Wollen Sie das Blatt nicht auch ansehen?« fragte ich grob. »Sonst kann ich es zurücklegen.«

»Was stellt es denn vor?«

»San Clemente.«

»Wo?«

»Bei Fiesole.«

»Sie sind dort gewesen?«

»Ja, mehrmals.«

»Wie sieht das Tal aus? Das hier ist Ja nur ein Ausschnitt.«

Ich dachte nach. Die ernste, herbschöne Landschaft trat vor meinen Blick, und ich schloß die Augen halb, um sie festzuhalten. Es dauerte eine Weile, ehe ich zu sprechen begann, und es tat mir wohl, daß sie stillblieb und wartete. Sie begriff, daß ich nachdachte.

Und ich schilderte San Clemente, wie es schweigend, dürr und großartig im Brand des Sommernachmittags liegt. Nebenan in Fiesole treibt man Industrie, flicht Strohhüte und Körbe, verkauft Souvenirs und Orangen, betrügt die Reisenden oder bettelt sie an. Weiter unten liegt Florenz und umfaßt eine Flut alten und neuen Lebens. Aber beide sieht man von Clemente aus nicht. Dort haben keine Maler gearbeitet, dort ist kein Römerbau gewesen, die Geschichte vergaß das arme Tal. Aber dort kämpft die Sonne und der Regen mit der Erde, dort erhalten sich schiefe Pinien mühsam am Leben, und die paar Zypressen fühlen mit hageren Wipfeln in die Luft, ob nicht der feindliche Sturm nahe sei, der ihnen das karge Leben verkürzt, an dem sie mit dürstenden Wurzeln hängen. Es fährt zuweilen ein Ochsenwagen von den nahe liegenden großen Meierhöfen vorbei, oder eine Bauernfamilie pilgert Fiesole entgegen, aber sie sind nur zufällige Gäste, und die roten Röcke der Bauernweiber, die sonst so flott und lustig aussehen, stören hier, und man vermißt sie gern.

Und ich erzählte, wie ich als junger Mensch mit einem Freunde dort wanderte, zu Füßen der Zypressen lag und mich an ihre hageren Stämme lehnte, und wie der traurig-schöne Einsamkeitszauber des seltsamen Tales mich an die heimatlichen Schluchten erinnerte.

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