„Stella? Stella?“, hörte sie eine Stimme. Sie klang, als ob der Sprecher sehr weit weg wäre.
„Was?“
„Bist du in Ordnung? Du starrst die Wand an und bist ganz grün geworden!“
„Ich? Grün geworden? Wo?“
„Na ja, blass-grün. Du bist doch nicht etwa schwanger?“ Mit kindischem Lächeln und Grübchen in den Wangen schaute Sergej ihr aus drei Zentimetern Entfernung direkt in die Augen.
„Ich hoffe nicht“, antwortete Stella kalt.
„Warum nicht?“ Er rückte beiseite, als ob sie ihn mit kaltem Wasser begossen hätte. Seine Frage klang still und enttäuscht. Er hat keine solche Antwort erwartet.
Stella strömten die Tränen aus den Augen wie ein Platzregen.
„Weil ich keine alleinerziehende Mutter sein will!“, schrie sie. Ihre Wangen waren schwarz vor verschwommener Wimperntusche.
„Was redest du da? Was ist los mit dir?“
„Ihr seid doch alle abgefuckte untreue Schweinehunde! Sobald ihr einen geilen Arsch seht, vergesst alles um euch herum!“
„Halt den Mund! Du bist ja hysterisch!“
Stella rannte aus dem Haus. Wie sie am helllichten Tag mitten auf der Straße so bitterlich weinte, wurden unweigerlich Passanten auf sie aufmerksam. Einige fragten, ob sie Hilfe bräuchte, andere zeigten ihr einen Vogel, wieder andere schlugen vor, psychiatrische Hilfe zu holen.
„Die Leute wieder! Jeder weiß was zu sagen!“
Sie schämte sich sehr für ihr Verhalten, für diese Reaktion. Dabei brach in diesem Augenblick die ganze Bitterkeit aus ihr heraus, die sich in der Zeit angehäuft hatte, als sie vorgab, dass alles in Ordnung wäre, und sich zwang, die entstandene Situation auszunutzen, nur um sich irgendwie zu beruhigen. Aber gerade ihn wollte sie nicht testen! Sie wünschte, sie könnte sich mit ihm vor ihrer verfaulten Welt verstecken…
Nach dem, was geschehen war, trafen sich Sergej und Stella nicht wieder und telefonierten nicht einmal mehr miteinander. Was hatte sie sich da wieder für ein Zeug vorgestellt! „Mit wem und wo? Und wie? Und warum?“ Ihr Gedankengang wurde unterbrochen. Ihr Handy meldete sich mit dem Spruch: „Was für eine hässliche Fresse“, dem Filmzitat, das sie Sergejs Nummer als Klingelton zugewiesen hatte. Sie blickte kalt auf das Handy und wartete eine Weile, bevor sie annahm:
„Hallo!“
Seine kalte Stimme am Apparat machte sie nervös.
„Kannst du jetzt zu mir kommen?“
„Ist was passiert?“
„Nicht am Telefon. Ich muss persönlich mit dir reden. Diese Freundin von dir ist übrigens hier.“
Stella legte auf.
„Oh Gott! Nicht das, bitte!“ Das Herz blieb ihr fast stehen. Hatte Natalja ihn doch in die Finger gekriegt? Es war ein Schlag ins Gesicht! So eine Hure!
Sie rief schnell ein Taxi. Eigentlich hätte sie vom Büro aus zu Fuß zu seinem Haus gehen können, aber sie zitterte viel zu sehr. Sie war außer sich vor Wut.
„Ich bring die Schlampe um! Ich habe sie zu dem gemacht, was sie ist, sie von der Straße geholt, diese dreckige Hure, und ich bringe sie um! Dieses Mal schweige ich nicht, und ihn mache ich auch kalt!“
Das alles murmelte Stella vor sich hin und setzte sich auf den Rücksitz des Taxis. Die Adresse des Bastards nannte sie dagegen fast schreiend. Nach einer Minute bat sie den Taxifahrer anzuhalten. Sie wollte aussteigen, nicht zu Sergeij fahren, dieses erniedrigende Spektakel nicht sehen. Ganz sicher hatte Natalja ihn schon gefickt und ihn dazu gebracht, sie anzurufen, um alles zu gestehen wie ein anständiger Mensch. Sie wusste sogar, wie diese Schlange ihn bearbeitet hatte:
„Mein Gott! Was haben wir getan? Arme Stella! Wir müssen ihr gemeinsam die Wahrheit sagen. Sie wird es nicht gern hören, aber wir müssen ehrlich zu ihr sein. Ruf sie sofort an!“ Stella stellte sich das Gesicht ihrer Freundin vor, das vor Freude strahlte. Ein wahrer Triumph, neuer Sieg über die hochnäsige Eiskönigin, die niemand will.
Stella dachte zehn Minuten nach und beruhigte sich etwas. Sie begann die Situation nüchtern zu analysieren.
„Woran ist Natalja eigentlich schuld? Daran, dass die Männer Scheiße sind? Und dass sie dafür den lebenden Beweis hat? Ein Beweis aus dem realen Leben! Nicht aus dem Leben, wie es in schönen Romanen beschrieben wird, sondern aus dem wirklichen Leben, an das man nicht glauben will, das man idealisiert, um nicht verrückt zu werden.“ Stella dachte, dass sie nie einen Mann finden würde, der ihrer Lebenseinstellung entsprach. Sie wollte keinen Märchenprinzen auf einem weißen Ross. Heute waren sie sowieso alle eher auf Weißwein. Entweder war einer ein Depp oder ein Alki. Sie brauchte einen ergebenen, guten Mann. Wie jede Frau wollte sie geliebt werden, wollte die einzige sein und ihrerseits nur einem Mann gehören. Sie hoffte doch, dass sie etwas Besseres war als ein Callgirl. Irgendjemand würde ihre guten, aber leider verborgenen Eigenschaften schon noch erkennen. Aber anscheinend interessierten sich die Männer nur für weibliche Genitalien.
Stella versuchte ihr Herz in den Griff zu bekommen, als sie mit verschwitzter Hand auf den Klingelknopf drückte und ein kaltes Gesicht aufsetzte, um vor seiner Tür auf die Hinrichtung ihrer Seele zu warten. Sie zitterte. Der Hass auf diesen Mann erfüllte sie.
Sergej öffnete die Tür, sie ging hinein. Erhobenen Hauptes, ohne die Schuhe auszuziehen, schritt sie ins Gästezimmer und schrie:
„Hallo Natalja! Wo bist du?
Keine Antwort. Dann drehte sie sich um und warf dem Mann einen so brennenden Blick zu, dass er einen Schritt zurück machte und flüsterte:
„Sie ist im Schlafzimmer.“
In diesem Moment verpasste ihre Hand ihm automatisch eine Ohrfeige, die so gewichtig und saftig war, dass die Handfläche rot wurde und die Fingerspitzen prickelte.
Mit kleinen Schritten ging sie ins Schlafzimmer und sah dort ihre völlig nackte, betrunkene Freundin auf dem Boden sitzen. Sie war mit Handschellen an den Heizkörper gefesselt. Daneben standen eine fast leere Flasche Wodka und ein Glas. Natalja hob den Kopf und zischte mit kaum beweglicher Zunge wie eine Schlange:
„Stella, ich hasse dich.“
Stella begann, fieberhaft zu lachen, sei es wegen dieses Anblicks oder wegen der Erkenntnis, dass sie nach so langer Zeit und so vielen Enttäuschungen diese auf männliche Genitalien versessene Kreatur endlich in die Enge getrieben hatte. Und dazu noch mit so einer Schmach!
Nach diesem Zwischenfall wurde Stella selbstbewusst. Sie war sich nun sicher, dass Nata für sie keine Rivalin war, in keinerlei Hinsicht. Und dass sie ihr Leben sie auf ihrem eigenen Weg führte. Aber Natalja kam nicht zur Ruhe. Diese Geschichte erbitterte sie gegen Stella. Sie achtete darauf, was diese trug, wie sie sich Männern gegenüber verhielt. Natalja fing an, sie teilweise zu kopieren und sich Markenkleidung zu kaufen, vor allem in Pastellfarben. Stella hatte nicht so viel anzuziehen: einige Blusen, Hosen und Röcke, aber alles von Designern. Natalja trug dagegen mit Vorliebe bunte Klamotten und viele davon, dazu vor allem Slips in grellen Farben.
So begann ein neuer Abschnitt in Nataljas Leben. Prostitution und Betrug unter Stellas Leitung brachten ihr gutes Geld. Natalja selbst glaubte freilich, sie wäre die Chefin in diesem Geschäft. Stella lernte, Natalja perfekt zu manipulieren. Dabei ließ sie ihr volle Handlungsfreiheit. Die trivialen Wünsche der Freundin nach Sex und Geld verstand Stella gut. Deshalb war es nicht schwer, sie zu lenken. Stella wollte, dass Natalja Sex nach Stundenplan im Rahmen eines Geschäfts mit dem Titel „Besuch des Ausländers“ hatte und dafür ein Honorar in entsprechender Höhe erhielt. So waren beide zufrieden. Endlich hatten die Mädchen einen Mittelweg in ihrer Beziehung gefunden. Hand in Hand gingen sie einem Ziel entgegen. Dieses Ziel hieß Kohle.
Natalja war von dem neuen Hobby sehr begeistert. Sie nahm gern an den Theateraufführungen und dabei im Gespräch mit den Kunden auch noch ihre Sprachkenntnisse zu erweitern. Sie begann sogar einen Liebesbriefwechsel mit einem Franzosen, der in Genf in der französischsprachigen Schweiz in Genf wohnte. Um genau zu sein war seine Mutter Französin und der Vater war Iraner. Der hochgewachsene, gutaussehende, schwarzhaarige Mann besuchte Natalja oft. Sie versteckte ihn vor der aufdringlichen Stella, damit diese ihm kein amüsantes Spektakel vorführte, wie sie es bei ihren Kunden tat, mit Beerdigung, Hochzeit und ähnlichem. Sie erinnerte sich noch an einen lustigen Vorfall.