»Wenn du ihr etwas getan hast …«, knurrte Waterweg.
»Ich habe sie aus dem Wasser gezogen!«, rief José. »Ich habe ihr das Leben gerettet, verflucht! Besser gesagt: Ich habe einem Jonathan Smith das Leben gerettet.«
»Und dann hat sich der Jonathan Smith in ein hübsches kleines Mädchen verwandelt, wie?«, sagte Waterweg. »Wie praktisch für dich.«
Er stieß José mit einer plötzlichen Bewegung zu Boden. Die Mündung der Pistole lag noch immer an Josés Hals.
»Ich habe noch nie auf ein Kind geschossen«, sagte Waterweg leise. »Aber wenn du Marit etwas getan hast, bist du kein Kind mehr. Wie alt bist du?«
»Alt genug, um zu sterben«, sagte José stolz.
Zur selben Zeit ging Marit am Strand auf und ab und versuchte zu begreifen, was geschehen war. Wo war die Mariposa? Wo waren die erloschenen Feuerstellen? Selbst die Seelöwen waren verschwunden. War sie in eine Art unerklärliches Zeitloch gefallen? Sie setzte sich in den Sand und sah aufs Meer hinaus. Neben ihr saß der rot-schwarze Leguan. Carmen war auf seinen Kopf geklettert.
»Uwe«, sagte Marit zu dem Leguan. »Du heißt Uwe. Verzeih mir, aber du siehst einfach so aus.«
Carmen spazierte zwischen Uwes Zacken entlang, an seinem Rücken hinunter, balancierte auf ihren winzigen Pfötchen über seinen langen schuppigen Schweif und sprang auf den Boden. Dann begann sie durch den Sand davonzulaufen – ein mühsames Unterfangen, denn der Sand war fein und trocken und sie sackte immer wieder bis zum Bauch darin ein. Aber sie schien entschlossen.
»Hör mal, Uwe«, sagte Marit und stand auf. »Ich denke, wir sollten ihr folgen. Carmen weiß manchmal … Dinge.«
Sie hob die Ratte hoch, setzte sie auf ihre Schulter und wanderte ein Stück in die Richtung, in die Carmen gegangen war. Dann drehte sie sich um. Uwe folgte ihr tatsächlich. Und als Marit das Stück Küste jetzt noch einmal betrachtete, dämmerte ihr etwas. Es war nicht das richtige Stück Küste. Die Bucht sah zwar ähnlich aus, doch es war nicht dieselbe. Sie war auf der verkehrten Seite des Vulkans hinuntergegangen.
»Idiotin, ich!«, rief sie und lachte erleichtert. »Es wird alles noch da sein, wenn ich ankomme: José und die Mariposa und der Rest unseres Zoos. Ich muss nur ein Stück um die Insel herumwandern.«
Es dauerte, um die Insel herumzuwandern. Marit wanderte und wanderte, sie wanderte unten am Wasser entlang, wo der Sand härter war, doch hier gab es keinen Schatten und ihr Durst wuchs ins Unermessliche.
»Wie machst du das, Uwe?«, fragte sie. »Trinkst du überhaupt je etwas?«
Bei jeder Bucht, in die sie kamen, dachte Marit: Hier! Hier muss die Mariposa liegen! Und jede Bucht war eine leere Bucht. Der Tag wurde zum Abend, die Sonne begann zu sinken, und endlich sah sie den goldenen Fleck auf dem Wasser. Das Honigboot.
Aber jetzt lag ein zweites Boot in der Bucht, ein Boot mit einem geflickten Mast. Marit merkte, wie ihr Herz rascher schlug. Sie sah Casaflora auf der Mariposa mit dem Motor hantieren. War José dort? Wo war der Besitzer des anderen Boots? Bei der alten Feuerstelle lag nur Josés Rucksack. Sie hob ihn auf. Und dann hörte sie Stimmen von dort, wo die dornigen Sträucher begannen. Sie krallte ihre Finger um den Rucksack.
Eine der Stimmen gehörte unzweifelhaft Waterweg. Weg!, dachte sie. Ich muss weg von hier! Sie holte Luft und lief los. Doch sie lief auf die Stimmen zu. Denn die andere Stimme gehörte José. Als sie sie beinahe erreicht hatte, blieb sie stehen und hob Uwe vom Boden auf, damit er sie nicht durch sein Geraschel verriet. Nur noch ein paar dichte Dornbüsche trennten Marit und die Stimmen. Und jetzt verstand sie einzelne Worte.
»Besser gesagt«, sagte José gerade, »ich habe einem Jonathan Smith das Leben gerettet.«
»Und dann hat sich der Jonathan Smith in ein hübsches kleines Mädchen verwandelt, wie?«, fragte Waterweg.
Das hübsche kleine Mädchen tastete nach der Pistole. Sie war nicht da. Verdammt! Marit musste sie irgendwo auf dem Vulkan verloren haben. Sie teilte die Zweige vor sich lautlos … und erschrak. José lag auf dem Boden, und Waterweg stand über ihm, den Lauf seiner Waffe gegen Josés Hals gepresst.
»Ich habe noch nie auf ein Kind geschossen«, sagte er. »Aber wenn du Marit etwas getan hast, bist du kein Kind mehr. Wie alt bist du?«
»Alt genug, um zu sterben«, sagte José.
Marit lächelte. Vermutlich hatte er ein Leben lang darauf gewartet, diesen Satz zu sagen. Sie trat aus dem Gebüsch. »Ich bin hier«, sagte sie leise. Auf Spanisch.
»Marit!«, rief Waterweg und sie hörte ehrliche Erleichterung in seiner Stimme.
»Niemand hat mir etwas getan«, sagte Marit, und noch immer vermied sie es, deutsch zu sprechen. »Ich hatte mich verlaufen, das war alles. Nimm die Pistole weg! José hat mich aus dem Wasser gezogen. Ohne ihn wäre ich nicht hier. Es ist wahr.«
»Ich wünschte, ich könnte das glauben«, sagte Waterweg. Er schob die Mauser mit dem Fuß weg, sodass weder José noch sie sie erreichen konnte. »Aber da ist noch etwas. Die Karte, mein Junge. Du hast sie gestohlen. Sagt Casaflora. Gib mir die Karte und ich binde dich sofort los.«
Die Karte?, dachte Marit. Gestohlen? Hatte José nicht gesagt, er hätte sie von seinem Vater bekommen? Hatte er gelogen? Und weshalb war ihr Onkel hinter einer alten Schatzkarte her?
»Ich habe sie vernichtet«, antwortete José. »Sie existiert nicht mehr.«
»Oh nein«, sagte Waterweg. »Du lügst. Ich kann es sehen.«
Marit sah es auch. José sagte nicht die Wahrheit.
»Lass ihn doch die dumme Karte haben«, flüsterte sie. »Ist sie so wichtig?«
José warf ihr einen Blick zu, funkelnd vor Ärger. »Als wüsstest du irgendetwas«, fauchte er. »Gar nichts weißt du! Fahr mit deinem Onkel dorthin zurück, wo du hergekommen bist, und lass mich bloß in Ruhe …«
»Die Wahrheit«, sagte Waterweg. »Ich möchte die Wahrheit über die Karte hören.«
»In Ordnung«, antwortete José. »Die Karte existiert noch, aber sie wird nicht mehr lange existieren. Es ist eine Frage der Zeit.«
»Du hast sie vergraben.«
»Nein.«
»Ins Wasser geworfen?«
»Nein.«
»Hör mal, das hier ist kein Ratespiel.« Waterweg trat ganz dicht an José heran und sah ihm in die Augen. »Das hier ist Ernst. Wo ist die verdammte Karte?«
José schwieg.
»Es ist einfach«, meinte Waterweg. »Du wirst hierbleiben, bis du mich hinführst. Steh auf! Geh da rüber! Zu dem niedrigen Baum.«
José gehorchte, doch er gehorchte nicht Waterweg, sondern seiner Pistole. Waterweg holte mit der freien Hand eine Rolle Schnur aus der Tasche.
»Nimm deine Hände nach hinten«, befahl er José. Mit ein paar flinken Bewegungen fesselte er Josés Handgelenke an den Baum, und Marit sah, wie die dünne Schnur in seine Gelenke einschnitt.
Waterweg steckte seine Pistole ein, bückte sich und nahm das Magazin aus der Mauser. »So«, sagte er. »Ich habe Zeit. Zeit und eine Menge Wasser auf meinem Boot.«
»Wasser?«, fragte Marit.
Waterweg nickte. »Komm«, sagte er, »gehen wir etwas trinken. Und essen. Du siehst aus, als hättest du seit Langem nichts Anständiges mehr gegessen.« Er nahm sie am Arm, um sie mit sich wegzuführen, und sie wollte sich wehren, aber dann ließ sie es bleiben. Vielleicht war es besser, mitzugehen. Vielleicht konnte sie etwas herausfinden, etwas über die Karte.
»Warten Sie!«, rief José. »Vielleicht überlege ich mir das mit der Karte, wenn ich Wasser bekomme.«
»Oh nein«, sagte Waterweg. »So herum funktioniert es nicht, mein Junge. Wenn ich die Karte in den Händen halte, dannbekommst du Wasser. Also? Möchtest du reden?«
José schüttelte den Kopf. Aber Marit sah, wie er litt. Wie der Durst ihn quälte, genau wie sie selbst. »José …«, begann sie, »willst du ihm nicht doch lieber sagen …?«
»Verschwinde!«, knurrte er. »Geh auf das feine Schiff deines feinen Onkels und betrink dich an seinem feinen Wasser. Von mir aus bleibe ich hier sitzen und schweige, bis die Welt untergeht!«