»Sie wurde … gestohlen«, antwortete Casaflora ausweichend.
»Gestohlen?« Waterweg klang jetzt alarmierter als zuvor. »Von wem?«
Casaflora seufzte. »Von einem, der sie wahrscheinlich inzwischen vernichtet hat«, sagte er. Er sagte es sehr laut und deutlich und er sprach nach wie vor spanisch. »Oder auch nicht … Aber sicher wäre es klüger von ihm gewesen, sie zu vernichten.«
Da begann José zu begreifen. Casaflora wusste, dass er da war, ganz nah. Er wusste, dass José die Karte hatte. Warum hatte José das verdammte Ding nicht vernichtet? Die Wahrheit war, dass er sie über Marits Verschwinden völlig vergessen hatte. Sie steckte noch immer sorgsam gefaltet in seiner hinteren Hosentasche. Verdammt!
»Und wenn er die Karte nicht vernichtet hat, wohin bringt er sie?«, zischte Waterweg. »Wer ist es, der sie gestohlen hat?«
»Nur ein kleiner Junge«, sagte Casaflora. »Ein kleiner Junge, der ein Held sein will. Die Geschichte ist zu lang, um sie hier zu erzählen …«
Waterweg trat einen Schritt näher und jetzt hielt er die Pistole direkt vor Casaflora Gesicht.
»Wo ist er?«
»Hier … auf der Insel«, antwortete Casaflora. »Glaube ich. Aber er ist schlau und schnell, er kennt die Bedingungen der Inseln, er ist von hier, und … sehen Sie sich vor, wenn Sie ihn suchen.« José hörte ein Lächeln in seiner Stimme. »Er schleppt eine Mauser mit sich herum, zum Jagen. Sicher würde er nicht zögern, notfalls auf einen Menschen zu schießen.«
José kroch langsam rückwärts. Die Mauser über seiner Schulter war hinderlich beim Kriechen. Seine Gedanken überschlugen sich. Er musste hier weg. Er musste die Karte loswerden. Casaflora hatte extra spanisch gesprochen, um ihn zu warnen. Und Casaflora hatte in der Nacht zuvor vielleicht nicht einmal geschlafen. Er hatte nur so getan. Er hatte still gelegen, die Augen vielleicht nicht ganz geschlossen, und hatte darauf gewartet, dass José abdrückte.
Er hatte sich nicht gerührt, um sich zu wehren.
Etwas war geschehen in diesem knurrigen alten Mann, etwas, das José nicht verstand. Er verstand nur, dass er sich aus dem Staub machen musste, rasch …
»Da ist noch etwas«, hörte er Waterweg sagen. »Das hier lag bei der Feuerstelle.«
»Ein Teddybär«, sagte Casaflora.
»Ja, ein Teddybär«, wiederholte Waterweg. »Und ich kenne das Mädchen, dem er gehört. Sie ist meine Nichte. Sie ist mit mir auf die Inseln gekommen und den Bären hat sie mitgenommen. Aber dann ist sie verschwunden, von dem Schiff verschwunden, das uns nach Baltra bringen sollte. Es war eine schreckliche Geschichte. Ich dachte, sie wäre nicht mehr am Leben, sie wäre über Bord gesprungen. Wir haben sie nie gefunden. Nur den Bären habe ich behalten. Nicht lange allerdings. Eine der Möwen hielt ihn wohl für etwas Essbares. Ich habe gesehen, wie sie damit wegflog. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie bis hierher … Natürlich ist es möglich……«
»Nein«, sagte Casaflora. »Der Bär ist zurückgekehrt zu dem Mädchen. Jedenfalls hatte sie ihn bis vor Kurzem noch. Wenn sie es war.«
Waterweg starrte ihn an. Was? Sie ……Erklären Sie mir … Wo ist sie?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Casaflora. »Ich weiß es wirklich nicht. Sieht aus, als wäre es eine Angewohnheit von ihr, zu verschwinden. Fragen Sie ihren Bruder, wenn Sie ihn treffen.«
»Ihren … Bruder?«, wiederholte Waterweg perplex.
José wusste, was er mit der Karte tun würde. Er schlängelte sich zwischen den Büschen hindurch wie ein Salamander, noch immer geduckt, und die trägen rot-schwarzen Leguane sahen ihm verwundert nach, wie er zurück ins Innere von Marchena hetzte, den Vulkan hinauf. Er sah sich nicht um. Vielleicht war Waterweg bereits hinter ihm her. Vielleicht hatte er das Rascheln seiner Schritte gehört, hatte Josés Spur aus aufgescheuchten bunten Vögeln gelesen und würde ihn einholen, ehe er sein Ziel erreicht hatte … Die trockene Luft brannte in seinen Lungen, während er weiterrannte.
Und endlich stand er auf der Caldera, nach Atem ringend. Hinter ihm blieb das Inselgestrüpp still. Niemand folgte ihm. Er holte die Karte aus seiner Tasche, wickelte sie um einen Stein und schlang einen langen dürren Grashalm drum herum. Dann suchte er eine geeignete Stelle, holte weit aus und schleuderte das Paket ins Maul des Kraters, dorthin, wo er eine Lavapfütze Blasen werfen sah. Das Papier würde Feuer fangen und verbrennen, und dies würde das Ende der Karte sein. Das Ende deutscher Spionage auf Baltra.
Das deutsche Militär würde nie die Informationen bekommen, die es brauchte, um seine tödlichen U-Boote durch den Kanal zu schmuggeln. Um die amerikanischen Flugzeuge abzuschießen. Um den Krieg zu den Galapagosinseln zu tragen.
José beobachtete die Flugbahn des Steins mit einem goldenen Klumpen aus Stolz in der Brust.
Doch der Stein landete nicht in der Lavapfütze. Er flog ein wenig zu weit und kam in einem toten Gestrüpp jenseits der Lava auf, und dort blieb er liegen – das weiße Papier gut sichtbar bis zum Kraterrand, auf dem José stand. Er fluchte, kletterte ein Stück in den Krater hinein – und wurde von einer Schwefelwolke zurückgedrängt. Der Boden unter ihm schien sich wieder zu regen, wie schon am Morgen.
Bist du noch bei Verstand?,raunte die Abuelita. In einen Vulkan hinunterzusteigen, der so leicht schläft und so lebhaft träumt wie dieser?Zwei Lavafontänen spritzten zu beiden Seiten des Papiers auf, jedoch ohne es zu treffen.
José schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er, »nein, ich bin nicht mehr bei Trost, Abuelita. Ich hoffe nur, dass dieser Waterweg noch bei Trost ist und nicht der Karte hinterherklettert, falls er sie entdeckt.«
Damit machte er sich auf den Weg zurück nach unten. Immer wieder hielt er inne, weil er sich einbildete, von Schritten verfolgt zu werden, verborgenen Schritten im Dickicht. Er schlug Haken und Bögen, machte einen riesigen Umweg. Und als er schließlich wieder in der Nähe des Strands war, war es beinahe Abend geworden. Er hatte seit dem Morgen nichts getrunken. Das Blau des Pazifiks, das hinter dem Strand schimmerte, schien ihm jetzt beinahe verlockend, so als könnte man das Meerwasser trinken. Vielleicht war es das, was die Segler letztlich umbrachte, dachte er: dass sie aus Verzweiflung Salzwasser tranken. Sein Kopf dröhnte, und seine Schläfen schmerzten, als hätte jemand eine Zange dort angesetzt. Nur noch ein paar Hundert Meter durchs Gebüsch, dann wäre er am Strand, dann würde er zur Mariposa hinausschwimmen und den letzten Kanister holen, und womöglich war Marit dort. Zwischen dem Dröhnen in seinem Schädel gab es nur noch diese beiden Gedanken: Wasser und Marit, Marit und Wasser, Wasser und … Es raschelte neben ihm, ein Leguan floh vor etwas, vor jemandem, ungewöhnlich eilig, und José hörte den Atem eines anderen Menschen, ganz nah.
»Marit?«, flüsterte er.
»Nein«, sagte der andere, und José wurde so rasch gepackt, dass er keine Zeit hatte zu reagieren. Oder womöglich war es das Kopfweh, das ihn langsamer machte als sonst. Die Mauser landete auf dem Boden, ein Arm nahm ihn in den Schwitzkasten. Er schaffte es, den Kopf ein wenig zu drehen, und blickte in ein Gesicht mit kaum sichtbaren Augenbrauen und weißblondem Haar. Zwei blaue Augen sahen ihn an, hell wie die von Marit. Aber dieses Blau war vor langer Zeit zu Eis gefroren.
»Wo ist sie?«, fragte Waterweg.
Unerreichbar, dachte José. In seinem Kopf entstand ein Bild der Karte, die um den Stein gewickelt zwischen den Schwefeldämpfen und den Lavafontänen im Krater lag. Waterweg verengte seinen Griff um Josés Hals und er spürte die Mündung einer Pistole unter seinem Kinn.
»Du weißt vielleicht nicht, wer ich bin«, sagte der Mann. »Sie ist meine Nichte. Und du trägst ihre Mütze. Was hast du mit ihr gemacht?«
Da verstand José. Er sprach nicht von der Karte. Er sprach von Marit. Er wand sich in Waterwegs Griff.
»Gar nichts«, zischte er, und sein Ärger war größer als seine Angst. Wie konnte dieser Fremde denken, er hätte Marit etwas getan! »Sie … sie ist verschwunden! Aber wenn ich wüsste, wo sie ist, würde ich es Ihnen nicht sagen.«