«Sechs Faden!«Der Lotgast war ganz von seiner Aufgabe absorbiert.
Neunzig Fuß über Deck hielt der Marinesoldat Blissett, ehemals Wildhüter und jetzt einer der besten Scharfschützen der Tempest, mit seinen Kameraden ein kleines Schwenkgeschütz besetzt und studierte die stockdünnen Masten über dem Landrücken.
Sobald er umschifft war, würde ihre Steuerbordbatterie das Feuer eröffnen, langsam und tödlich. Die ersten Schüsse waren immer sorgfältig gezielt. Blissett blickte hinunter auf die gespannt wartenden Gestalten zwischen den schwarzen Geschützen, die Offiziere und Deckoffiziere, die wachsam auf- und abgingen und hin und wieder einen Blick nach achtern zum Kommandanten warfen. Bolitho stand fast genau unter ihm, hielt den Hut unterm Arm, und sein schwarzes Haar wehte in der heißen Brise. Blissett erinnerte sich an die andere Insel, an das Mädchen, das er nackt und ermordet aufgefunden hatte. Blissett wunderte sich immer wieder über seine Mitmenschen. Die gleichen Männer, die äußerlich gefaßt einer Breitseite entgegensahen oder an der Auspeitschung eines Kameraden fast ohne Gefühlsregung teilnahmen, rasten vor Wut, wenn ein Hund getreten oder, wie in diesem Fall, ein unbekanntes Mädchen umgebracht wurde, das vermutlich ohnehin eine Schlampe gewesen war. Blissett war nicht so, er dachte über die Dinge nach. Schließlich wollte er wie Quare Sergeant werden. Verbittert fragte er sich, warum er nicht dem Kommando angehörte, das mit diesem Schwein Prideaux an Land geschickt worden war.
Der für den Großtopp verantwortliche Unteroffizier, der sich mit gespreizten Beinen gegen die schweren Blöcke der Marswanten lehnte, fragte herausfordernd:»Wovon träumst du wieder, Blissett?«Er war ein vierschrötiger Mann namens Wayth und sich seiner Verantwortung in dem Gewirr von Tauwerk, Spieren und Segeln wohl bewußt. Und er hegte einen tiefen Haß gegen die Marinesoldaten, ohne zu wissen, warum.
Blissett hob die Schultern.»Wir haben doch gar keine Chance, diese Schufte zu fassen. Sie werden bis zum letzten Augenblick kämpfen und ihre verdammten Schiffe mit auf den Grund nehmen. Kein Prisengeld, nichts!«Der Großtopp bebte, und Wayth vergaß den Marinesoldaten und blickte zu seinen Toppsgasten weiter oben hinauf. Blissett sagte zu seinem Kameraden:»Jetzt geht es bald los, Dick.»
«Ja. «Der Kanonier schwenkte sein Geschütz auf das Land zu.»Aber mit der lahmen Kuh hier werden wir die dort drüben nie rechtzeitig erreichen. «Er grinste.»Wenn wir aber nach Backbord schießen, könnten wir ein paar fette
Schweine fürs Abendessen erwischen.»
Blissett ging auf den Scherz ein. Er wandte sich von der felsigen Küste und den fremden Masten ab und richtete seine Muskete spielerisch nach der anderen Seite aus.
«Eins für den Kochtopf, Dick. «Er erstarrte.»Mein Gott- da drüben steht eine Kanone!»
Wayth schnarrte:»Das reicht mir jetzt…»
Der Rest seines Wutausbruchs ging unter im Krachen eines schweren Geschützes und dem Pfeifen einer die Takelage der Tempest durchschlagenden Kugel.
Blissett ging mit sausenden Ohren und keuchendem Atem in die Knie. Benommen starrte er auf die baumelnden Enden des zerfetzten Riggs und erbrach sich dann konvulsivisch, als er die zerstückelten Überreste des Unteroffiziers gewahrte. Das Geschoß hatte Wayth buchstäblich in zwei Teile gerissen und wie Pfannkuchen gegen den Mast geklatscht.
Irgendwie gelang es Blissett zu schreien:»An Deck! Küstenbatterie backbord voraus!»
Erst jetzt bemerkte er, daß er — abgesehen von dem Toten — allein war. Sein Freund Dick und der andere Marinesoldat mußten aufs Deck hinabgeschleudert worden sein. Blissett lehnte seine Muskete gegen den Handlauf und richtete sein Schwenkgeschütz auf das Ufer. Dem ersten Schuß folgte augenblicklich ein zweiter. Es löste Alarmschreie auf dem Hauptdeck der Tempest aus, als das Geschoß zwischen den Masten hindurchflog und den Strand auf der entgegengesetzten Seite aufwühlte. Bolitho schrie:»Beide Batterien Feuer frei, Mr. Keen!«Er wandte sich ab, als Blut und Fleischfetzen durch die Schutznetze fielen. Im Großtopp war jemand getroffen und getötet worden, und zwei Marinesoldaten waren über Bord gegangen. Ob tot oder lebendig, wußte er nicht. Hurrarufe erschollen von der Steuerbordbatterie, aber die Stimmen hatten einen seltsam wilden Klang. Wahrscheinlich versuchten die Leute, ihr Erschrecken über das plötzliche Bombardement zu übertönen. Doch gleich würden sie zurückschlagen, es heimzahlen. Der Lärm stockte und verstummte vollends, als die versteckten Geschütze wieder feuerten und ein schweres Geschoß kurz vor die Bordwand setzten. Bolitho sah Spritzwasser über die Netze sprühen. Einer der Matrosen blickte auf, als ob er erwarte, einen Enterer zu sehen. Es überlief ihn kalt, seine Gedanken hielten mit der schnellen Folge der Ereignisse noch nicht Schritt. Wieder ein Schuß, zweifellos aus einem dritten Geschütz, vielleicht auf halber Höhe des Abhangs oberhalb der brennenden Hütten. Das Geschoß ging zu weit und warf dicht bei den Felsen eine hohe Wasserfontäne auf.
Keen hob den Degen hoch über den Kopf.»Fertig, Leute! Fertig!»
Da sah Bolitho den Degen sinken und fürchtete schon, Keen sei von einem versteckten Scharfschützen getroffen worden. Aber Keen kam nach achtern gerannt, von den Blicken aller verfolgt, an denen er vorbeikam.
«Zum Teufel, Mr. Keen, was soll das?«Borlases Stimme klang schriller denn je.
Aber Keen sprang schon halb die Leiter herauf und schrie Bolitho zu:»Sir, die Masten sind Attrappen! Dort ankern keine Schiffe!»
Wie um seine Worte noch zu unterstreichen, schlug eine Kugel in eine Stückpforte und warf einen Zwölfpfünder um, der zwei Mann unter sich begrub. Die Luft hallte wider von Schreien und Stöhnen, als die Kugel an einem Geschütz auf der anderen Deckseite zu Splittern zerbarst. Männer stürzten um sich schlagend oder in ihre Wunden verkrallt. Schleifspuren aus dunklem Blut markierten ihren Todeskampf.
«Backbordbatterie feuern!«Bolitho trat schnell zum
Kompaß.»Breitseite, und dann Schrapnell laden!»
In seinem gemarterten Hirn glomm die Hoffnung auf, daß
sie einige der so gut plazierten Geschütze treffen und damit
Zeit gewinnen könnten, aus der Bucht zu kreuzen.
«Feuer!»
Das Schiff bockte und vibrierte, als ob es auf eine Sandbank gelaufen sei. Qualm der unregelmäßigen Breitseite wälzte sich in dichten Schwaden nach Lee. Wie wahnsinnig trieben die Geschützführer ihre Leute an, mit Schrapnell neu zu laden, während die Schiffsjungen mit neuem Pulver herbeirannten, wie blind gegenüber den verstümmelten Leichen und fortkriechenden Verwundeten.»Fertig!»
Einer nach dem anderen sahen die Stückführer zu Keen hinüber, die Abzugsleinen schon fast gespannt.»Auf dem Scheitelpunkt — Feuer!»
Diesmal klappte es besser, und Bolitho glaubte zu sehen, wie die Bäume und brennenden Hütten erbebten, als die geballten Schrapnelladungen einschlugen.
Die Antwort erfolgte ebenso schnell: zwei Einschläge, beinahe gleichzeitig. Einer traf das Vorschiff, und Bolitho hörte Holz krachen und Splitter pfeifen, sah Männer wie von einem entsetzlichen Windstoß niedergemäht werden. Er spürte den Luftdruck über seinem Kopf und zuckte zusammen, als das Geschoß über ihm die Takelage zerriß und einen weiteren Matrosen zerschmetterte, der nach oben geklettert war, um einen Schaden zu reparieren. Der Mann fiel mit einem dumpfen Aufschlag auf ein Achter-decksgeschütz und zuckte noch ein paarmal wie eine obszöne, in Blut getauchte Kreatur, ehe er starb und von der abgestumpften Bedienung beiseitegezerrt wurde.»Klar zur Wende, Mr. Lakey!»
Bolitho taumelte, als sich das Deck unter einer weiteren, langsamen Breitseite aufbäumte. Gott sei Dank trieb der Qualm auf die versteckten Geschütze an Land zu. Das war ihre einzige Deckung.
Lakey nickte ruckartig.»Sofort, Sir. «Er hob die Hände als Trichter an den Mund:»An die Brassen, Mr. Borlase!«Borlase blickte mit vorquellenden Augen nach achtern. Wieder heulte ein Geschoß dicht über die Netze, und das schien den Leutnant aus seiner Erstarrung zu reißen.»An die Brassen! Räumt die Steuerbordbatterie, wenn es sein muß, aber Bewegung!»