Pyper starrte ihn verwirrt an.»Was tun wir, Sir?«Herrick spürte, wie ihm die Kehle trocken wurde. Knapp oberhalb der Landzunge hatte er eine Bewegung wahrgenommen: Die Tempest war also bereits da. Er sah sie so deutlich vor sich, als wäre sie für ihn nicht mehr verdeckt: die Geschütze bemannt, die Offiziere auf Gefechtsstation, Bolitho und Lakey auf dem Achterdeck. Panik überkam ihn. Was stand dem Schiff bevor? Wo waren die Piraten? Er konnte vereinzelte Musketen und Pistolenschüsse hören, und inzwischen war auch der Rauch sehr viel stärker geworden.
Hinter den brennenden Hütten glänzte etwas, und Pyper sagte mit belegter Stimme:»Eine Batterie mit mehreren schweren Geschützen, Sir.»
Das war es also. Herrick wurde das Ganze plötzlich erschreckend klar. Die Nachricht, die falschen Masten, das brennende Dorf, waren alles Teile eines perfekten Plans: die Tetnpest in die Bucht hineinzulocken. Herrick richtete sich auf, ohne der Gefahr zu achten. Wegen dieses elenden Schoners, wegen allem, was sich seit ihrer Ankunft auf der Insel zugetragen hatte, war Bolitho ahnungslos und unvorbereitet.
Er hörte sich sagen:»Laufen Sie zurück. Sagen Sie Hauptmann Prideaux, ich wünsche auf der Stelle einen Sturmangriff!«Er bemerkte Pypers Schock.»Ich weiß, wir haben keine Chance. Aber wir retten damit das Schiff. Denken Sie daran!»
Und während Pyper nach hinten stolperte und der nackte Eingeborenenführer ihn fasziniert beobachtete, spannte er seine Pistole und zog den Degen.
«Sieben Faden!»
Bolitho blickte in Lakeys angespanntes Gesicht, als die Stimme des Lotgasten nach achtern schallte. Doch er versagte es sich, schon wieder nach dem Teleskop zu greifen und blieb, die Hände in die Hüften gestützt, stehen. So versuchte er, sich sein Schiff vorzustellen, das enger werdende Fahrwasser und das aufragende Land — ein geschlossenes Panorama. Da er noch vor der Morgendämmerung mit Lakey und seinen beiden Offizieren die Seekarten und ihre Berechnungen überprüft hatte, war Bolitho so gut vorbereitet, wie ein Kapitän nur sein konnte, der sich einer unbekannten Insel näherte. Insel? Sie war nicht mehr als der Kamm eines versunkenen Berges, dachte er.
Er beobachtete die Strömung, ihren Sog um die nächstgelegene Klippe, wenn das Wasser hell aufschäumend zurücklief. Obwohl sie so dicht unter Land waren, blieb der Wind stetig. Bolitho sah zu dem langen Wimpel im Masttopp empor, der jetzt nach Steuerbord voraus flatterte.»Acht Faden!»
Lakey sagte schroff:»Schon besser. «Bolitho trat zur Querreling und sah auf die Geschütze hinunter. Hier und da bewegte sich ein Mann nervös oder zog an einer Talje. Nackte Füße scharrten auf dem sandbestreuten Deck, und hoch oben im Großmast schwenkten Marinesoldaten eine Drehbasse wi e in lautlosem Bombardement hin und her. Er sah Leutnant Keen zwischen den Zwölfpfündern sich vorbeugen, um durch eine offene Stückpforte zu spähen.
Zwei Midshipmen unterstützten Keen bei den Geschützen, der pausbäckige Fitzmaurice und der schlanke junge Romney. Swift stand mit seinen Signalgasten auf dem Achterdeck, während Borlase, wie ein unzufriedenes Baby lautlos pustend, an Steuerbord rastlos auf- und abging. Alle waren bereit, warteten darauf, daß etwas geschah. Bolitho sah nach dem Halbstundenglas neben dem Kompaß. Er wollte seine Uhr aus der Tasche ziehen, um sich zu vergewissern, aber er wußte, das würde als Nervosität, als
Unsicherheit angesehen werden. Die Männer in seiner Nähe sahen rasch zur Seite, als seine Blicke sie streiften. Doch es dauerte viel zu lange. Wenn sie jetzt über Stag gehen mußten, würden sie erst nach einer Ewigkeit wieder Kurs auf die Bucht nehmen können. Er studierte die weit vorspringende Landzunge, das einzige, was er nach den dürftigen Seekarten identifizieren konnte. Das helle, vermutlich felsige Gestein stand in seltsamem Gegensatz zu dem üppigen Grün im Hintergrund. Dahinter wurden jetzt glitzernd die ersten Anzeichen einer Bucht erkennbar. Bolitho biß sich auf die Lippen. Wenn Herrick sich weiterhin nicht rührte, mußte er an der Bucht vorbeilaufen und dadurch kostbare Zeit verlieren. Falls dort noch Schiffe lagen, konnten sie vielleicht klammheimlich auslaufen, ehe er mehr Segel zu setzen vermochte. Er sah nach oben, kniff die Augen in dem grellen Licht zusammen: Marssegel und Klüver standen, die große Fock war so stark gerefft, daß sie kaum Wind aufnahm. Aber mehr Fahrt wäre gefährlich gewesen.
Er sah Allday ihn vom Niedergang her beobachten, das schwere Entermesser über die Schulter gehängt. Allday wartete auf den richtigen Augenblick. Er kannte seinen Kapitän so gut, daß er wußte, wenn er jetzt den Mund aufmachte, würde er nur scharf zurechtgewiesen. Diese Erkenntnis rührte Bolitho. Er sagte leise:»Ich kann die Insel beinahe fühlen.»
Allday kam zu ihm.»Der Rauch wird dünner, Captain.»
«Nein, er wird nur stärker landeinwärts geweht.»
«Mag sein. Mir scheint, der Erste Offizier hat nichts gefunden. Die Piraten sind fort, und wie ich Mr. Herrick kenne, sucht er bestimmt nach zurückgelassenen Toten und
Verwundeten.»
«An Deck!«Bei dem alarmierenden Ruf blickte alles nach oben.»Schiffe vor Anker hinter der Landzunge! Zwei Schiffe!«Eine Pause.»Schoner mit Rahbesegelung. «Bolitho wandte sich Allday zu, seine Augen funkelten.»Nun?»
Allday war verlegen.»Na ja, ich habe mich geirrt.«»Offenbar. «Bolitho ging zur Reling.»Raus mit den Reffs,
Mr. Borlase! Dieses Pärchen wollen wir uns nicht entgehen lassen. «Er lächelte über die Besorgnis des Offiziers.»Vielleicht können wir sie als Prisen nehmen, wenn sie es wagen sollten, sich mit uns einzulassen. «Er wandte sich ab; Herrick und sein Kommando mußten sich verirrt haben, oder sollten die Schoner auf Grund geraten sein?
Das große Segel am Vormast entfaltete sich und blähte sich gewichtig unter der Rah. Sofort glitt das Land schneller vorbei, und Gischt sprühte über den Bug und die dort kauernden Matrosen.
Keen rief:»Steuerbordbatterie feuert divisionsweise! Erst auf Befehl, Stückführer, verstanden?»
Bolitho sah zu Keen hinüber. Er hatte sich gut entwickelt,
viel Selbstvertrauen und Autorität gewonnen, ohne dabei zum Tyrannen geworden zu sein, und das war sogar noch wichtiger.
Bolitho kam nicht auf den Gedanken, daß Keens Kommandant etwas damit zu tun haben könnte. Er sagte:»Halten Sie sich bereit zur Kursänderung, Mr. Borlase. Pfeifen Sie die Leute an die Brassen. Wir werden Nordost steuern.»
Wie oft hatten sie während der langen Nacht den Kurs gewechselt. Das war für die Leute nicht ungewöhnlich, doch jetzt war es anders. Sie hatten Land in Sicht bekommen und würden tun, was ihnen befohlen wurde.
Er hörte die gebellten Kommandos, das Schlagen der Fallen und Blöcke, als die Belegnägel gelöst wurden und die
Matrosen sich bereitmachten, die Rahen zu trimmen.
Die Landzunge lag schon beinahe hinter ihnen, so daß
Brände und Dampfwolken auf der anderen Seite der schmalen Bucht sichtbar wurden.
«Fünf Faden!»
Lakey meldete:»Alles klar, Sir.»
«Sehr gut. «Während die Matrosen die Brassen dichtholten und das große Doppelrad von Lakeys besten Rudergängern stetig gedreht wurde, legte Bolitho die hohlen Hände um den Mund und rief:»An Mastkorb! Was ist mit den Schiffen?«Der Ausguck mußte von seiner Aussicht so gefesselt sein, daß er der ersten Meldung nichts weiter hinzuzufügen hatte.»Noch vor Anker, Sir!«Der Mann war in dem blendenden Sonnenlicht nicht auszumachen.
Bolitho spürte, wie sich das Schiff aufrichtete, als es in den Schutz des Landes kam.
Borlase schrie:»Notieren Sie diesen Mann, Mr. Jury. Dort an der Nagelbank!»
Bolitho hatte keine Ahnung, wer der Schuldige war, noch kümmerte es ihn. Er starrte auf die Feuerreflexe im Wasser, die trotz der grellen Sonne stumpfrot glühten, so daß die Bucht vor ihrem Bug wie eine riesige, brennende Pfeilspitze wirkte.
«Bergen Sie die Fock, Mr. Borlase. «Als das Segel an der Rah aufgegeit war, konnte Bolitho das brennende Dorf und die verkohlten Boote mit steigendem Zorn studieren. Was hatte das für einen Sinn? Auf welchen Gewinn konnte ein Pirat wie Tuke hoffen, wenn er diese einfachen Menschen vernichtete?