Dann hörte er über sich einen scharfen Ruf, dem sofort das Knacken eines Flintenschlosses folgte. Es war alles noch ein Traum und schien ihn persönlich nicht zu berühren. Erst als eine Stimme laut auf englisch rief:»Da sind noch ein paar von den Teufeln im Wasser!«durchbrach langsames Begreifen Nebel und Schmerz.
«Nicht schießen!«brüllte Farquhar.»Nicht schießen, wir sind Engländer!»
Danach schienen alle auf einmal zu rufen, und als ein zweites
Boot längsseits kam, vernahm Bolitho wie von weither eine vertraute Stimme.»Wen haben Sie denn da, Mr. Farquhar?«Herrick brachte vor ungläubiger Erregung die Frage kaum über die Lippen.»Den Kapitän.»
Bolitho fühlte, wie ihn Hände über das Dollbord hoben, und sah über sich vage und verschwommen verzerrte Gesichter. Hände betasteten seinen Brustkorb, und von neuem durchzuckte ihn stechender Schmerz. Danach die lindernde Wirkung eines Verbandes und die ganze Zeit über das aufgeregte Durcheinander der Leute — seiner Leute.
Herricks Gesicht war sehr nah. Bolitho konnte das Leuchten in seinen Augen erkennen. Er hätte gern irgend etwas gesagt, um Herrick zu beruhigen. Aber er fand nicht die Kraft dazu. Statt dessen drückte er Herrick die Hand, ehe Dunkelheit ihn wie ein Mantel einhüllte.
XII Den Feinden Verderben!
Die Spätnachmittagssonne flimmerte über dem geschützten Wasser der Bucht und warf ein tanzendes Muster an die Decke über Bolithos kleinem Tisch. Er brauchte nur den Kopf zu drehen, um die saftig grünen Abhänge Antiguas und ein paar verstreute Gebäude rings um den Hafen St. John zu sehen. Er mußte sich geradezu zwingen, seinen Bericht für den Admiral zu vollenden.
Bolitho stützte die Stirn in die Hand, spürte, daß Müdigkeit ihn überwältigte, ihm Einhalt gebieten, ihn dazu bringen wollte, alles andere zu tun, nur nicht das, was er erledigen sollte. Er fühlte den steifen Verband und ließ sich in die jüngste Vergangenheit zurückgleiten, wie so häufig seit seiner unerwarteten Rückkehr auf die Phalarope.
Wie bei allem anderen, so war es auch dabei schwierig, Tatsachen von den unbestimmten, wirren Bildern zu trennen, die mit dem Fieber gekommen und gegangen waren. Zu seinem Glück war die Pistolenkugel glatt zwischen den Rippen hindurchgegangen. Zurückgeblieben war eine tiefe, gezackte Narbe, die ihn bei jeder plötzlichen Bewegung zusammenzucken ließ.
Von dem Augenblick an, da er an Bord gebracht und die
Boote hastig an Deck gehievt worden waren, waren seine Erinnerungen verschwommen und lückenhaft. Der wüste, unvorhergesehene Sturm hatte das Alptraumartige seiner Erinnerungsbilder nur noch gesteigert. Zwei Wochen lang war das Schiff mit fast nackten Rahen vor dem heulenden Sturm nach Südwesten abgelaufen. Dann, während er sich aus der ungeschickten Obhut des Wundarztes und dem unbestimmten Kommen und Gehen seiner Offiziere herauskämpfte, hatte sich der Sturm gelegt, die Phalarope hatte endlich über Stag gehen können, um sich nach Antigua zurückzuarbeiten und ihren Bericht abzuliefern.
Bolitho prüfte nochmals die sorgfältig zusammengestellten Berichte und Namensnennungen. Nichts durfte fehlen. Es gab später keine Möglichkeit, etwas nachzutragen. Jeder Name weckte andere Erinnerungen, und er hatte das sonderbare Empfinden, Zuschauer zu sein.
Fähnrich Charles Farquhar, der sich auf eine Weise bewährt hatte, die weit über seine tatsächlichen Erfahrungen hinausreichte: ein Seeoffizier, der eines Tages ein Kommando verdienen würde — Steuermannsmaat Arthur Belsey, der trotz eines verwundeten Armes viel zur endgültigen Vernichtung der Andiron beigetragen hatte.
Bolitho tupfte mit der Feder nachdenklich auf Belseys Namen. Sein letzter wilder Sprung vom zerschmetterten Rumpf der Andiron hatte jede Hoffnung ausgelöscht, daß er je wieder richtig Dienst tun könnte. Der gebrochene Arm ließ sich nicht mehr retten, und Belsey würde für den Rest seines Lebens ein Krüppel bleiben. Glück, die gute Erwähnung im Bericht und Bolithos Empfehlung sicherten ihm vielleicht schnelle Entlassung und eine den langen Dienstjahren angemessene Abfindung. Wahrscheinlich würde er nach Plymouth zurückkehren, dachte Bolitho traurig, und eine kleine Kneipe eröffnen. Jeder Hafen war voll von solchen Männern: zerbrochen und vergessen, klammerten sie sich an den Saum des Meeres, das sie an den Strand geworfen hatte.
Leutnant Herricks Erstürmung der Batterie. . Nun, den bloßen Fakten ließ sich wenig hinzufügen. Hätte er versucht, die Wahrheit aufzuputzen, um das Lob zu verstärken, das Herrick so reichlich verdiente, würde der Admiral schnell die Kehrseite der Medaille sehen: nämlich daß der Erfolg zum großen Teil auf
Glück beruhte, das sich zu einer gehörigen Portion Wagemut gesellte.
Es gab so viele» Wenn«, grübelte Bolitho verdrossen.
Wenn die Boote mit dem Enterkommando dichter unter Land abgesetzt worden wären, wäre jetzt jeder tot oder gefangen. Wenn die Strömung für die Leute an den Riemen nicht zu stark gewesen wäre, hätte Herrick den unmöglichen Auftrag wie geplant ausgeführt, statt einen zweiten Weg eigener Eingebung einzuschlagen.
Und Stockdale? Nun, ohne seine Hilfe und unerschütterliche Treue hätte sich nichts von alledem ereignet. Sein Verstand hatte sorgsam jeden Schritt geplant, ohne daß ihn jemand geleitet, ihm jemand geholfen hätte. Und zu allerletzt hatte er ihm wiederum das Leben gerettet.
Aber was konnte er für ihn tun? Für einen Mann wie Stockdale gab es keine Beförderungsmöglichkeit, keine irgendwie sinnvolle Belohnung. Gelegentlich, als er in die Kajüte kam, um nach der Wunde zu sehen, hatte er ihn gefragt, was ihm für seine Tapferkeit und Treue der liebste Lohn wäre. Stockdale hatte keine Sekunde gezögert.»Wenn ich weiter bei Ihnen bleiben darf, Kapitän, einen anderen Wunsch habe ich nicht.»
Bolitho hatte eigentlich daran gedacht, Stockdales Entlassung aus der Marine zu beantragen, sobald das Schiff in einen britischen Hafen heimkehrte. Mit ein bißchen Unterstützung konnte Stockdale sich vielleicht in Ruhe und Frieden irgendwo niederlassen. Aber als was? Stockdales unverzügliche und schlichte Antwort hatte es ihm untersagt, den Gedanken weiterzuverfolgen. Er hätte ihn nur verletzt.
Er schrieb:»Was meinen Bootsführer Mark Stockdale betrifft, kann ich nur hinzufügen, daß die ganze Aktion ohne sein schnelles Handeln womöglich mit einem Fehlschlag geendet hätte. Indem Stockdale die Ankerkette der Andiron kappte, wodurch das Schiff in Leutnant Herricks Feuerbereich trieb, schuf er die Basis für die totale Zerstörung des Schiffes bei einem Minimum an Verlusten auf unserer Seite. «Er setzte erschöpft seinen Namen unter das Dokument und stand auf. Ein Bericht von vielen Seiten. Hoffentlich lasen ihn auch jene, die der Phalarope unvoreingenommen gegenüberstanden.
Zumindest Farquhars Onkel, Vizeadmiral Sir Henry
Langford, würde sich darüber freuen. Sein Glaube an den Neffen würde neu bekräftigt werden, und im Laufe der Zeit verwirklichten sich sicher die Hoffnungen, die er für ihn hegte.
Bolitho lehnte sich aus dem Heckfenster. Die warme Luft strich ihm über das Gesicht. Er hörte das Quietschen von Taljen und den gleichmäßigen Riemenschlag der zwischen Schiff und Ufer verkehrenden Boote. Die Fregatte war am frühen Morgen vor Anker gegangen, und den ganzen Tag über brachten Boote frische Vorräte und schafften die Verwundeten zu besseren Quartieren in der Stadt. Er betrachtete die eindrucksvolle Reihe der vor Anker liegenden Schiffe, die wachsende Macht der westindischen Flotte. Ihre Anwesenheit minderte allerdings den Triumph, den die Rückkehr der Phalarope sonst bedeutet hätte. Bei diesem Gedanken, der sich immer wieder vordrängte, runzelte er die Stirn. Möglicherweise betrachtete man die Phalarope nach wie vor mit Mißtrauen und behandelte sie schmählich.
Seine Augen wanderten langsam von einem großen Schiff zum anderen. Die Masten ragten hoch auf, und die Stückpforten standen offen. Da war die Formidable mit 98 Geschützen, frisch aus England, mit Sir George Rodneys Flagge im Topp. Und da waren andere Schiffe, die ihren Namen in das Buch dieses Krieges eingeschrieben hatten: die Ajax und die Resolution, die Agamemnon und die Royal Oak. Und nicht zuletzt Sir Samuel Hoods Flaggschiff Barfleur. Ferner Schiffe, die er überhaupt nicht kannte, ohne Zweifel Verstärkungen, die Rodney von der Kanalflotte mitgebracht hatte. Und alle waren zu einem Zweck hier zusammengezogen: um die große französisch-spanische Flotte zu stellen und zu vernichten, ehe sie ihrerseits die Briten für immer aus der Karibischen See vertreiben konnte.