Bolitho war sich nie genau darüber klargeworden, was sich als nächstes ereignet hatte. Es hieß, einer der Matrosen hätte Stockdale ein Bein gestellt. Das schien Bolitho wahrscheinlich, denn danach hatte er nicht wieder erlebt, daß Stockdale besiegt worden wäre. Aber an jenem Tag hatte Bolitho kaum nach seinem Bier gegriffen, als der Ausrufer auch schon wütend aufschrie, und die Matrosen gellend lachten.
Bolitho sah, wie der Stückmeister seine Goldmünze wegsteckte, während der wutschäumende Ausrufer unter Drohungen und Flüchen Stockdale mit einer Kette prügelte.
In diesem Augenblick begriff Bolitho, daß für Stockdale Treue wie eine Fessel war. Er wich den ungerechtfertigten Schlägen nicht aus, obwohl er seinen Peiniger mit einem Hieb hätte töten können.
Mitleid oder Abscheu veranlaßten Bolitho einzuschreiten. Doch Stockdales stumpfer Dankesblick machte die Sache nur schlimmer. Während die grinsenden Matrosen und der Ausrufer mit den harten Augen ihn gespannt beobachteten, forderte er Stockdale auf, in den Dienst des Königs zu treten. Der Ausrufer erhob brüllend Protest, als er merkte, daß ihm seine Erwerbsquelle für alle Zeit genommen werden sollte.
Doch Stockdale nickte nur kurz und griff wortlos nach seinem Hemd. Selbst jetzt sprach er selten. Seine Stimmbänder hatten bei den Kämpfen, die er über Jahre in einer Stadt nach der anderen austragen mußte, gelitten.
Bolitho hatte sich eingebildet, daß der Fall mit seinem Eingreifen erledigt war. Aber es kam anders. Stockdale fügte sich in den Rhythmus an Bord, als habe er jahrelang auf einem Schiff gelebt. Trotz seiner Körperkraft war er sanft und geduldig, und nur etwas brachte ihn dazu, seine ruhige Lebensweise zu durchbrechen: Sobald Bolitho das Schiff wechselte, folgte er ihm.
Anfänglich entschloß sich Bolitho, diese Tatsache zu ignorieren. Als er jedoch nach einiger Zeit ein eigenes Kommando erhielt und einen persönlichen Bootsführer brauchte, war Stockdale da und bereit. Genau wie jetzt.
Stockdale starrte mit leerem Blick regungslos über das Wasser. Jetzt drehte er sich zu Bolitho um, runzelte die Stirn und sah seinem Kapitän aus besorgten, dunkelbraunen Augen wortlos entgegen.
Bolitho lächelte undurchsichtig.»Alles klar, Stockdale?»
Der Mann nickte langsam.»Ihre Seekisten sind im Boot verstaut, Sir. «Er sah zu der wartenden Bootsmannschaft hinüber.»Ich habe mit den Burschen ein paar Worte geredet und ihnen gesagt, wie von nun an alles zu geschehen hat.»
Bolitho stieg in das Boot und zog den Mantel enger um sich. Stockdale knurrte einen Befehl, und das Boot legte ab.
«Riemen bei! Ruder an!«Stockdale legte das Ruder an und behielt dabei gleichzeitig die Mannschaft im Auge, als das Boot herumschwang und in die erste Welle stieß.
Bolitho musterte die Leute an den Riemen aus zusammengekniffenen Augen. Alle mieden sorgsam seinen prüfenden Blick. Der neue Kapitän — jeder Kapitän — kam gleich nach Gott. Er konnte einen Mann befördern oder züchtigen, belohnen oder an eine Rah hängen. Und segelte ein Schiff außerhalb eines Geschwaders auf hoher See, wurde diese Macht dem Temperament des jeweiligen Kapitäns entsprechend ausgeübt, wie Bolitho nur zu gut wußte.
Das Boot schoß in das offene Wasser hinaus. Bolitho dachte nicht länger an die schwer pullenden Seeleute, sondern richtete alle Aufmerksamkeit auf die Fregatte. Jetzt, da sie näher kamen, konnte er das stetige Auf und Ab des anmutigen Schiffes sehen, das in dem auffrischenden Wind an der steifen Ankerkette zerrte. Er sah sogar, wie das Kupfer hell aufglänzte, als die Fregatte ihr Unterwasserschiff zeigte. Und als sie leicht überholte, konnte er die Geschäftigkeit auf dem Hauptdeck erkennen. Achtern, beim Fallreep, bemerkte er das säuberlich ausgerichtete rote Karree der Marinesoldaten, die bereits zu seiner Begrüßung aufgezogen waren. Und für einen Augenblick trug der Wind den Klang schrillender Pfeifen und heiserer Befehle zu ihm herüber.
Die Phalarope ist ein schönes Schiff, dachte Bolitho, hundertundvierzig Fuß Kraft und Anmut. Von der vergoldeten Galionsfigur, einem seltsamen Vogel auf dem Rücken eines Delphins, bis zum schnitzereiverzierten Heck mit der wehenden Flagge darüber, war sie der lebendige Beweis für die Kunst ihres Erbauers.
Nun erkannte Bolitho auch die Offiziere, die auf dem
Achterdeck warteten. Mehr als einer hielt sein Fernglas auf das Boot gerichtet. Er zwang sein Gesicht zu einer gelassenen Maske, unterdrückte gewaltsam jede Erregung und dachte nicht an die Herausforderung, die von dem Schiff ausging.
«Boot ahoi!«Der Wind fing den Ruf und schleuderte ihn zu den kreischenden Möwen hinauf.
Stockdale legte die Hände trichterförmig um den Mund und rief: «Phalarope!«Für die wartenden Offiziere gab es keinen Zweifel mehr, daß sich ihr neuer Gebieter näherte.
Bolitho knöpfte den Mantel auf und schob ihn über die Schultern zurück. Die goldenen Litzen und das Gehänge seines Degens schimmerten in dem verwaschenen Licht. Die Fregatte wurde größer und größer, bis sie zuletzt über dem Boot aufragte und alles andere auslöschte.
Während die Leute das Boot zum Fallreep manövrierten, ließ Bolitho die Augen langsam über die Masten, die Rahen und das laufende Gut wandern. Kein Zeichen von Nachlässigkeit. Alles war, wie es sein sollte. Der Rumpf war ordentlich gestrichen, und sowohl das dicke Blattgold der Galionsfigur als auch das Gold am breitfenstrigen Heck zeigte, daß der vorige Kapitän einen guten Teil seines eigenen Geldes an das Schiff gewandt hatte.
Der Gedanke an gut angelegtes Geld erinnerte Bolitho an seine Seekisten in der Achterplicht. Über tausend Pfund an Prisengeld hatte er von Westindien zurückgebracht. Doch bis auf die neuen Uniformen und einige wenige Annehmlichkeiten konnte er wenig dafür vorweisen. Und nun sollte er wieder auf die See hinaus, wo das Messer eines Meuterers seinem Leben ebenso schnell ein Ende bereiten konnte wie eine französische Kanonenkugel, wenn er nicht ständig auf der Hut war. Er entsann sich auch der Warnung des Admirals:»Wenn Sie es nicht schaffen, kann nicht einmal ich Ihnen helfen!»
Das Boot ging längsseits, und sein Rollen hätte ihm beinahe die Füße unter dem Leib weggezogen, als er vom Dollbord absprang und die gischtübersprühte Bordwand hinaufkletterte.
Er versuchte, sich gegen den Lärm zu verschließen, der ihn begrüßte, gegen die schrillen Pfeifen der Bootsleute und das Knallen der Gewehrkolben, als die Seesoldaten präsentierten. Es war zu leichtsinnig und zu gefährlich, die Wachsamkeit auch nur eine Sekunde zu vergessen. Zu gefährlich sogar, diesen
Augenblick, auf den er so lange gewartet hatte, bis ins Letzte zu genießen.
Ein großer, kräftig gebauter Leutnant trat vor und zog den Hut.»Leutnant Vibart, Sir. Ich bin der Rangälteste. «Seine Stimme klang belegt und kratzend. Sein Gesicht blieb unbewegt.
«Danke, Mr. Vibart. «Bolithos Augen glitten an Vibart vorbei über die ganze Länge des Schiffs. Auf den Planken, die die Back mit dem Achterdeck verbanden, drängten sich schweigend die Leute. Andere waren in die Wanten geklettert, um ihren Kapitän besser sehen zu können. Bolithos Blicke wanderten über die gut ausgerichteten Reihen der Geschütze, die hinter den geschlossenen Pforten festgezurrt waren. Ein guter Mann, dieser Erste Leutnant, was Geschick und äußere Erscheinung anlangte, dachte Bolitho.
Vibart sagte mürrisch:»Mr. Okes und Mr. Herrick, der Zweite und der Dritte Leutnant, Sir.»
Bolitho nickte, sein Ausdruck blieb unverbindlich. Zwei junge Offiziere, mehr nahm er nicht wahr. Die Menschen hinter den fremden Gesichtern würden später auftauchen. Jetzt war es wichtiger, daß sie von ihm einen klaren Eindruck gewannen.
«Lassen Sie alle Mann achtern antreten, Mr. Vibart. «Bolitho zog seine Ernennungsurkunde aus der Innentasche des Mantels und entrollte sie, als die Leute vor ihm standen. Sie sahen gesund aus, aber ihre Kleidungsstücke glichen Lumpen. Einige steckten offenbar noch in den jetzt völlig zerfetzten Sachen, die sie getragen hatten, als sie zum Dienst gepreßt wurden. Er biß sich auf die Lippen. Das mußte geändert werden, und zwar sofort. Einheitliche Kleidung war überaus wichtig. Uniformität unterband den Neid unter den Leuten, und wenn auch nur den Neid auf ein paar armselige alte Fetzen.