Brock kam auf das Achterdeck und salutierte.»Sir?«Er steckte noch in den Filzschuhen, die er stets in dem dunklen Magazin trug. Die plötzliche Stille und das Maß der Zerstörung an Deck schienen ihn zu betäuben.
«Mr. Brock, ich habe einen Auftrag für Sie. «Bolitho lauschte der eigenen Stimme und spürte, daß ihn die neue Entschlossenheit anfeuerte wie Brandy.»Ich wünsche, daß jede Steuerbordkanone mit Kettengeschossen geladen wird. «Er warf einen Blick auf die sich immer bedrohlicher nähernde Andiron. »Sie haben zehn Minuten Zeit, es sei denn, der Wind frischt auf.»
Brock nickte und eilte wortlos davon. Es war nicht seine Art, einen offenbar sinnlosen Befehl in Frage zu stellen. Eine Order des Kapitäns, das war alles, was er brauchte.
Bolithos Blicke schweiften über das Hauptdeck, über die Toten, die Verwundeten und die noch einsatzfähigen Kanoniere. Langsam sagte er:»Es geht um eine letzte Breitseite, Leute. «Die Worte fegten seine Illusion hinweg, den Männern mit einer leeren Geste zu kommen.»Jede Kanone wird mit Kettengeschossen geladen, und jede ist auf äußerste Richthöhe einzustellen.»
Die Männer regten sich. Ihre Bewegungen waren so unbestimmt und unsicher wie die alter Männer. Doch Bolithos Worte schienen ihnen neue Kraft zu geben.
«Ladet«, setzte er energisch nach,»aber rennt die Kanonen nicht aus, ehe der Befehl kommt.»
Ein Kommando schleppte die unhandlichen Kettengeschosse heran: zwei durch dicke Kettenglieder verbundene Kugeln für jede Kanone.
«Die Andiron ist schon sehr nahe, Sir«, sagte Hauptmann Rennie leise.»Kann nicht mehr lange dauern, bis sie uns entern. «Spannung lag in den Worten.
Bolitho blickte beiseite. Einerseits fühlte er plötzlich den Wunsch, die Außerordentlichkeit seiner Entscheidung jemandem mitzuteilen, andererseits spürte er zugleich das Ausmaß der eigenen Einsamkeit. Sein letzter Versuch konnte völlig fehlschlagen. Er würde den Feind in eine wahnsinnige Wut treiben, die dann nur das Hinmetzeln seiner gesamten Mannschaft besänftigen konnte.
Herrick blickte ohne zu blinzeln zum Achterdeck.»Alle
Kanonen geladen, Sir. «Er reckte die Schultern, wie um seinen zerschlagenen Männern Vertrauen zu schenken.
Bolitho zog den Degen. Er hörte, daß die Seesoldaten hinter ihm die Bajonette aufpflanzten und auf den glitschigen Planken einen festen Stand suchten.
«Steuerbordkarronade feuerklar, Mr. Farquhar!«rief er.»Alles bereit?»
Aus zusammengekniffenen Augen verfolgte er, wie der Bugspriet der Andiron sich dem Schanzkleid der Phalarope näherte. Ihre Wasserstagen und das Rigg wimmelten von Männern. Der Kapitän der Andiron mußte seine Geschütze entblößt haben, um ein so großes Enterkommando zusammenzustellen. Einmal an Bord, würden die Feinde die Phalarope überschwemmen, ganz gleich, welchen verzweifelten Widerstand seine Männer noch leisteten.
Farquhar schluckte schwer.»Bereit, Sir.»
«Sehr gut. «Zwischen derAndiron und der Phalarope klafften kaum noch zwanzig Fuß, das dreieckige Stück Wasser zwischen den Schiffen schäumte in einem verrückten Tanz.»Wenn ich falle, hören Sie auf Mr. Vibarts Kommando. «Er sah, daß der junge Offizier zum Ersten hinüberblickte.»Wenn nicht, achten Sie auf mein Signal.»
Der Bugspriet der Andiron stieß zwischen die Großwanten der Phalarope, und das Enterkommando brach in höhnisches Gebrüll aus.
Bolitho rannte zum Hauptdeck hinunter und sprang, den Degen hoch erhoben, auf den Steuerbordlaufgang. Ein paar Pistolenschüsse pfiffen an ihm vorbei, und eine Kugel zerrte an seinem Ärmel wie eine unsichtbare Hand.
«Werft die Enterer zurück!»
Die Kanoniere starrten unsicher und betroffen zum Kapitän hinauf, ihre Kanonen noch immer binnenbords und untätig.
Herrick sprang neben den Kapitän. Seine Augen blitzten, als er rief:»Vorwärts, Leute! Erteilen wir ihnen eine Lehre.»
Irgendwo erklang ein schwaches Hurra, und die nicht an den Geschützen beschäftigten Männer drängten zum Laufgang hinauf. Würden ihre Dolche und Spieße gegen den Druck der Enterer etwas ausrichten?
Neben Bolitho sank ein Mann schreiend zu Boden. Ein anderer fiel nach vorn über Bord und wurde zwischen den
Schiffsrümpfen zerquetscht.
Bolitho sah, daß die Offiziere des Kaperschiffs ihre Männer antrieben und die Scharfschützen auf ihn aufmerksam machten. Kugeln umpfiffen ihn, und die Schreie und Rufe steigerten sich zu einem einzigen, furchterregenden Gebrüll.
Die Schiffsrümpfe erbebten nochmals, und die Lücke begann sich zu schließen. Bolitho spähte nach achtern zu Farquhar. Das Achterdeck mit seinen gefallenen Seesoldaten schien weit entfernt. Aber als er, schnell und schneidend, den Degen nach unten senkte, registrierte er, daß der Fähnrich die Abzugsleine zog, und spürte, daß das Mündungsfeuer wie Glutwind an seinem Gesicht vorbeischoß.
Der Karronadenschuß bestand aus fünfhundert zusammengepreßten Musketenkugeln. Er fuhr wie eine Sense zwischen die brüllenden Enterer. Das Bombardement zerfetzte sie zu einem blutigen Wirrwarr aus Flüchen und Schreien. Die Enterer zögerten, und ein junger Leutnant sprang vom Bugspriet der Andiron auf das Deck der Phalarope, ohne daß ihm einer seiner Leute folgte. Seine Schreie erstarben, als ein großer Seemann mit der Axt zuschlug und der Körper zwischen die Rümpfe der Schiffe stürzte. Schon war er vergessen.
«Achtung, Kanoniere!«rief Bolitho wild.»Ausrennen! Ausrennen!»
Er versperrte seinen Leuten mit dem Degen den Weg nach vorn.»Zurück. Alle zurück!»
Die kleine Mannschaft schob sich nach hinten. Die Wendung der Dinge verwirrte sie. Doch Herrick begriff. Fast erstickt vor Erregung rief er:»Alle Kanonen ausrennen!»
Bolitho sah, daß die Männer des Kaperschiffs, die den Karronadenschuß überlebt hatten, sich auf ihre Gefechtsstationen zurückzogen, betroffen und bestürzt durch die ausgerannten und auf sie gerichteten Geschütze der Phalarope.
«Feuer!»
Bolitho wäre beinahe über Bord gestürzt, als die gesamte Batterie unter ihm feuerte, doch Stockdale packte ihn beim Arm. Die Luft vibrierte von den unmenschlichen Schreien, die aufgellten, als die Kettengeschosse wie ein alles vernichtender, eiserner Wirbelsturm durch die Takelage der Andiron jagten. Vormast und Großstenge stürzten gleichzeitig. Das herunterkommende Gut und die Segel zerschmetterten die restlichen
Enterer oder fegten sie ins Meer, und über die Stückpforten legten sich die Segel wie eine Decke. Der Rückstoß der Breitseite drückte die Schiffe auseinander. Zwischen ihnen trieben Schiffstrümmer und Leichen.
Bolitho lehnte sich an die Netze; er atmete schwer.»Nachladen! Weiterfeuern!«Was auch als nächstes kommen würde, die Phalarope hatte gebieterisch gesprochen und hart zugeschlagen.
Der stolze Umriß der feindlichen Fregatte war zerbrochen, die Wanten und Segel baumelten wirr durcheinander. Wo vor Minuten ihr Vormast aufragte, stand jetzt nur noch ein gezackter Stumpf, und die hallenden Hurrarufe waren Schmerzensschreien und totaler Verwirrung gewichen. Doch die Andiron schob sich am Bug der Phalarope vorbei, verfolgt von einer neuen unregelmäßigen Salve und dem zornigen Bellen eines Neunpfünders vom Vorderdeck. Dann war sie klargekommen, raffte ihre zerfetzten Segel zusammen wie ein Kleid, um ihre Wunden zu bedecken, und glitt leewärts in die Bank aus Qualm und Pulverdampf.
Bolitho beobachtete sie. Sein Herz hämmerte, und seine Augen tränten vor Anstrengung und Erregung. Die Minuten zogen sich hin. Dann wurde ihm klar, daß die Andiron nicht wenden würde. Sie hatte genug.
Fast wankend kehrte er auf das Achterdeck zurück. Rennies Seesoldaten grinsten ihm entgegen, und Farquhar lehnte an einer rauchenden Kanone, als traue er seinen Augen nicht. Dann begannen sie, Hurra zu rufen. Zuerst klang es schwächlich, gewann aber an Stärke und Kraft, als alle Decks einstimmten. Teilweise schwang Stolz darin, teilweise Erleichterung. Einige Männer schluchzten hemmungslos, andere vollführten auf dem blutverschmierten Deck Freudensprünge.