Sie hatte in ihrem Brief um Geld gebeten, nicht für sich selbst, sondern um ihren Vater nicht in den Schuldturm zu bringen. Graves hatte alles geschickt, was er besaß, und das war wenig genug. Sein Anteil am Prisengeld der Sparrow würde natürlich viel helfen, aber so lange er keine neuen Informationen von zu Hause erhalten hatte, war er nicht geneigt, es zu überweisen; schließlich hatte er es sich hart erarbeitet. Wenn er doch nur besser für die Gepflogenheiten der Marine geformt worden wäre! Wie zum Beispiel der Kapitän, dessen Seefahrerfamilie und berühmte Ahnen ihn von Männern wie ihm trennten. Oder sogar Tyrell, der aller Autorität gegenüber so gleichgültig war, obwohl er sich dies weiß Gott nicht leisten konnte. Er konnte sich genau erinnern, wie Tyrells Schwester an Bord gekommen war. Sie waren in Kingston, Jamaika, gewesen, wo sie bei Freunden gelebt hatte, um abzuwarten, bis die Schwierigkeiten, wie sie es nannte, in Amerika vorüber seien. Ein lebhaftes, lebendiges Mädchen, ohne die gleichgültige Einstellung Tyrells. Graves war sie wie eine Art Engel erschienen, die Erfüllung all seiner Träume. Sie kam aus einer alteingesessenen und wohlhabenden Familie, und als seine Frau hätte sie ihm die Chance gegeben, sich zu verbessern, seinen rechtmäßigen Platz in der Welt zu finden, anstatt unsicher und vorsichtig zu bleiben. Tyrell hatte seine Absichten klar erkannt, sie jedoch weder unterstützt noch sich offen dagegen ausgesprochen. Dann hatte diese kleine Närrin einen Streit mit Kapitän Ransome wegen eines Mannes angefangen, der bestraft werden sollte. Graves konnte sich nicht mehr erinnern, ob die Bestrafung gerechtfertigt war oder nicht, es machte ihm auch nichts aus. Ransome war sehr schlau vorgegangen und hatte seinen beträchtlichen Charme benutzt, um den Widerstand des Mädchens zu brechen, seine eigenen Chancen zunichte zu machen und sie ihrem Bruder völlig zu entfremden. Aber Graves machte immer noch Tyrell verantwortlich, haßte ihn, wenn er an sie dachte und wie sie ausgesehen hatte, als Ransome sie schließlich in Antigua an Land gesetzt hatte.
Er umklammerte die Reling, bis der Schmerz ihn wieder beruhigte. Wo sie wohl war? Jemand hatte gesagt, sie sei wieder nach Amerika gesegelt, andere erwähnten einen vorüberfahrenden Indienfahrer nach Trinidad. Ob sie wohl jemals an ihn dachte? Ärgerlich mit sich selbst, daß er nach so langer Zeit noch zu hoffen wagte, drehte er sich um. Warum konnte er nie zufrieden sein, wenn es am nötigsten war? Vielleicht war er zu lange in diesem verdammten Gemüseladen gewesen, hatte seinen Vater über Qualität reden hören, hatte gesehen, wie er sich vor Kunden verbeugte und erniedrigte, deren unbezahlte Rechnungen größer waren als seine eigenen Schulden.
Die Sorge um seine Schwester, seine eigene Unsicherheit, hatten auch auf andere Weise ihren Tribut gefordert. Er hatte es nach dem Gefecht mit der Bonaventure gefühlt, obwohl er mit den geretteten Passagieren an Bord der Sparrow gewesen war. Angenommen, der Kapitän hätte es nicht geschafft, sie lange genug zu entern, um seinen verrückten Plan auszuführen? Hätte er die Kraft gehabt, die Sparrow gegen seine Befehle zu wenden und Bolitho und seine Männer zu retten? Wenn nicht Buckle und einige andere gewesen wären, bezweifelte er sehr, ob er es getan hätte, selbst als die beiden miteinander verbundenen Schiffe in Flammen aufgingen. Sie hatten die große Rauchwolke selbst am Horizont gesehen.
Und später, als sie bei den anderen Prisen längsseits gegangen waren und mit Freibeutern Schüsse wechselten, hatte er gefühlt, daß sich Furcht in seinem Innern breitmachte wie eine schleichende Krankheit. Niemand hatte es bemerkt. Bis jetzt. Er schüttelte sich und ging nach Luv hinüber, versuchte, in der kühlen Brise einen klaren Kopf zu bekommen.
Die beiden Fähnriche standen an den Leewanten, und Bethune sagte ruhig:»Mr. Graves scheint sich Sorgen zu machen.»
Der neue Fähnrich, Fowler, ignorierte den Kommentar.»Hör mal…«Er lispelte, was noch stärker hervortrat, wenn er versuchte, vor seinen Vorgesetzten unschuldig zu erscheinen. Jetzt merkte man es kaum.»Ich muß morgen das Deckscheuern überwachen.»
Bethune beobachtete den Leutnant.»Ich weiß. Du bist an der Reihe.»
Fowler zeigte lächelnd seine kleinen Zähne.»Tu du es für mich. Wenn wir wieder zur Flotte zurückkehren, werde ich mit dem Admiral sprechen.»
Bethune starrte ihn an.»Meinetwegen?«»Vielleicht.»
Bethunes Dankbarkeit war mitleiderregend.»Oh, wenn ich nur… «Er nickte.»Ja, ich werde mich um die Arbeiten kümmern. Wenn ich sonst noch etwas tun kann.»
Der junge Mann betrachtete ihn kalt.»Ich werde es dich wissen lassen.»
Überall auf dem Schiff gab die Mannschaft ihren Hoffnungen und Träumen auf ihre eigene Art Ausdruck.
In seiner Kajüte saß Tyrell auf seiner Seekiste und massierte sein verwundetes Bein, während jenseits des Schotts Bolitho den Brief an seinen Vater beendete. In der schwach erleuchteten Offiziersmesse döste Dalkeith über einem Glas Rum und hörte Buckle zu, der wieder einmal eine Geschichte von der einen oder anderen Frau aus Bristol erzählte, während der junge Heyward ihm mit geschlossenen Augen lauschte. Ganz vorn am Bug lehnte Yule, der Feuerwerker, mit von Wind und Gischt zerzaustem Haar, eine Flasche zwischen den Knien; seine verwirrten Gedanken galten Tilby und den guten Zeiten, die sie zusammen erlebt hatten. Ganz unten in den Laderäumen, im Licht einer Laterne an der niedrigen Decke, inspizierte Lock, der Zahlmeister, eine Kiste Zitronen. Er prüfte jede einzelne wie ein Räuber sein Beute, während er Notizen in ein Heft machte.
Und mit ihrer fahlen Leinwand beschützte die Sparrow sie alle, ungeachtet ihrer verschiedenen Sorgen und Freuden, gleichgültig sogar der See gegenüber. Denn sie brauchte keinen von ihnen und schien zufrieden.
Sobald Bolitho das Achterdeck betrat, bemerkte er, daß der Wind sich gegen sie wandte, und zwar rasch. Er hatte tief geschlafen, als ein Steuermannsmaat in die Kajüte gekommen war, um ihm zu melden, daß Leutnant Heyward um seinen Rat ersuche.
Die mittlere Wache war erst halb vorbei, und die Sterne schienen sehr hell über den Ausgucks, aber als er mit bloßen Füßen unhörbar über die feuchten Planken eilte, hörte er die Topsegel heftig schlagen, fast schien es ihm eine Antwort auf das Ächzen der Stagen und Wanten zu sein.
Buckle stand neben dem Steuer, wie er selbst trug auch er nur seine Kniehosen; ein Beweis, wenn das noch nötig war, daß Heyward erst dann Hilfe geholt hatte, als es schon fast zu spät war.
«Nun?«Er blickte kurz auf das schräge Kompaßgehäuse und sah die Augen der Rudergänger schwach im Licht des Kompaßhauses glühen.»Ich warte, Mr. Heyward.»
Er wollte den jungen Leutnant nicht verwirren, und zu jeder anderen Zeit hätte er seinen Wunsch verstanden, die eigene Wache zu gehen, ohne Unsicherheit zu zeigen. Aber dies war nicht die rechte Zeit, und in diesen gefährlichen Gewässern würden sie schnell handeln müssen.
Heyward erklärte:»Der Wind räumte einen Strich oder so, und ich ließ meine Wache die Rahen fieren. «Er deutete vage über seinen Kopf.»Aber er wird immer stärker, ich fürchte, wahrscheinlich von Nordost.»
Buckle murmelte:»Wir werden niemals rechtzeitig den Kurs ändern können, um die Spitze der Sandbänke zu erreichen, Sir. «Er betrachtete den Kompaß.»Nie!»
Bolitho rieb sich das Kinn, er fühlte, wie der Wind über seine nackten Schultern strich. Heyward war sehr unklug gewesen, der Sparrow so ihren Willen zu lassen. Vielleicht hatte er erwartet, daß sich der Wind wieder drehen würde, wie so oft in diesen Gewässern; was er auch gedacht oder gehofft hatte, jedenfalls zeigte der Bug jetzt fast nach Nordnordwest, und das Schiff hielt auch diesen Kurs nicht sehr gut. Jede Minute entfernte sie mehr von der Sandbankkette, und es würde Stunden erfordern, bis sie sich mit Kreuzen wieder zurückgekämpft hatten auf die Position, die Colquhoun angegeben hatte. Heyward sagte kläglich:»Tut mir leid, Sir — ich dachte, ich könnte sie halten.»