Als dann die Bucht in Sicht kam und man wußte, daß die Franzosen immer noch da waren, wurde die Rolle der Sparrow die eines bloßen Zuschauers bei einer Schlacht, die allen, die daran teilnahmen, ihren Stempel aufdrücken sollte. Eine Warnung für junge Offiziere wie Bolitho, eine grausame Lehre für die Engstirnigen, die so lange exakt nach Vorschrift gekämpft hatten, nach einem Reglement, das die harte Erfahrung außer Kraft gesetzt hatte.
Vielleicht hatte Admiral Graves bis zum letzten Moment erwartet, sogar gehofft, daß die Franzosen die Chesapeake Bay verlassen hätten oder daß höchstens de Barras' kleines Geschwader da sein würde, nachdem es an seinen Patrouillen vorbeigeschlüpft war und Newport vor einigen Tagen verlassen hatte. Sparrows Signal hatte jedoch jeder Illusion den Boden entzogen, und der Anblick einer so großen Seemacht mußte ihn mit dunklen Ahnungen erfüllt haben. Aber wenn auch seine Flotte der von de Grasse sowohl zahlen- als auch bewaffnungsmäßig unterlegen war, so hatte er doch viele Vorteile. Der Wind stand zu seinen Gunsten, und wie Tyrell so oft vorhergesagt hatte, zeigte die trügerische Untiefe zwischen den beiden Kaps des Chesapeake bald ihre Unparteilichkeit für diejenigen, die sie überwanden.
Da die Engländer auf die Bucht zufuhren und de Barras als Verstärkung noch nicht heran war, beschloß die Grasse, Anker zu lichten und sich im offenen Wasser zu stellen. Der ungünstige Wind und die Flut, die gefährliche Untiefe in der Mitte, all dies belehrte ihn jedoch bald, daß er seinen geschützten Ankerplatz nicht mit der gesamten Flotte verlassen konnte. Geschwader auf Geschwader kämpfte sich um Cape Henry, wobei das Wrack der Lucifer eine Warnung für die Leichtsinnigen oder Unvorsichtigen war.
Dies wäre eigentlich Graves' große Chance gewesen. Er hätte zum Angriff signalisieren können und seinen Kapitänen erlauben, sich auf den Feind zu stürzen, ehe dieser sich sammeln und seine Überlegenheit ausnutzen konnte. Hätten ein Hawke oder Keppel das Oberkommando gehabt, so wäre das Resultat zweifellos verheerend gewesen.
Graves aber zögerte wieder einmal, klammerte sich an das Reglement und sah keine Alternative.
Sein Flaggschiff hißte das Signal, sich in Schlachtlinie zu formieren, und es blieb die ganze Schlacht über stehen. Diese Verzögerung erlaubte es de Grasse, seine Flotte zu sammeln; als die beiden Gegner schließlich zusammentrafen, war es für die entfernteren britischen Schiffe nicht einmal möglich, auch nur bis zum Nahkampf zu kommen. Gegen Abend zwang das nachlassende Licht die Flotten auseinander; von einem kräftigen Nordostwind getrieben, verloren sie bald Kontakt zueinander.
Als Graves schließlich in der Lage war, seine Geschwader wieder zu formieren, hatten die Franzosen sich bereits in die Chesapeake Bay zurückgezogen. Sie kamen nicht wieder heraus, und nach weiterem Zögern befahl Graves seinen enttäuschten Kapitänen, nach New York zurückzusegeln.
Hilflos und außerhalb der Reichweite des Kampfes, hatte Bolitho die meisten Manöver beobachtet und noch viel häufiger erraten, was geschah. Er verließ das Deck in regelmäßigen Abständen, um zu Tyrell ins Krankenrevier hinunterzugehen, seine Hand zu halten und ihm zu beschreiben, was sich ereignete.
Er konnte sich genau an jeden Besuch erinnern; Tyrells blasses Gesicht im Laternenlicht, der Mund schmerzverzerrt. Und um ihn herum, stöhnend oder wimmernd, die anderen, die gelitten hatten, und einige, die schon nicht mehr zu leiden brauchten.
Tyrell hatte heiser gesagt:»Das ist das Ende der Armee. «Und, Bolithos Hand fast mit seiner alten Kraft packend:»Aber wir haben getan, was wir konnten.»
Später, als die Sparrow in Sandy Hook Reparaturen ausgeführt hatte und Bolitho Befehl erhielt, mit Depeschen des Admirals und der Nachricht von der Schlacht nach England zu segeln, waren die Würfel schon gefallen.
Von der See abgeschnitten, ohne Munition und Vorräte, hatte Cornwallis mit seiner ganzen Armee kapituliert.
Getreu seinem Ruf hatte General Washington den Engländern gestattet, sich ehren- und würdevoll zu ergeben, trotzdem war es eine vernichtende Niederlage.
Kuriere hatten die Neuigkeit von der Kapitulation gebracht und von der englischen Militärkapelle berichtet, welche die Soldaten in Washingtons Lager begleitete. Sie hatten» The World Turned Upside Down«(Die Welt steht Kopf) gespielt, was in etwa wiedergab, was sie über die Situation dachten.
Unter bewölktem Himmel und Nieselregen lichtete die Sparrow Anker und zeigte Sandy Hook zum letztenmal ihr Heck. Die Mannschaft reagierte mit gemischten Gefühlen auf den Marschbefehl. Einige betrauerten alte Freunde, die sie auf See bestattet oder verkrüppelt zurückgelassen hatten. Andere fürchteten fast, was sie nach so langer Zeit in England vorfinden würden. Und da waren andere, die Amerika gern den Rücken kehrten und nur von dem Augenblick träumten, an dem sie in ihrer Heimat an Land gehen würden, dankbar, daß ihnen Schmerz und Verzweiflung erspart geblieben waren, sogar dankbar, den grauen Himmel über den Mastspitzen zu sehen.
Wenn er nicht benötigt wurde, verbrachte Bolitho viel Zeit allein in seiner Kajüte. Es machte den Kontakt weniger schmerzlich, den Verlust vertrauter Gesichter erträglicher.
Er erinnerte sich an ihr letztes Händeschütteln, als er Tyrell in einem New Yorker Krankenhaus auf Wiedersehen gesagt hatte. Dalkeith war auch dagewesen — ein trauriger Abschied. Immer noch konnte er sich Tyrell nur schwer mit einem Bein vorstellen, und er wollte es auch nicht. Eines schien sicher zu sein: Tyrell war nicht verzweifelt.
«Wenn ich hier herauskomme, gehe ich heim. «Das hatte er mehrmals gesagt.»Ich weiß noch nicht, wie und wann, aber bei Gott, ich werde es schaffen!»
Dalkeith war auf ein in Sandy Hook stationiertes Lazarettschiff versetzt worden und sagte ruhig:»Ich denke, sie werden einen guten Doktor brauchen, was, Jethro?«Er lachte sein tiefes glucksendes Lachen.»Hier, meine Hand!»
Bolitho fröstelte und zog seinen Mantel enger um sich. Es war kalt und sehr feucht, und von der Decke tröpfelte Kondenswasser. Er blickte auf das offene Logbuch. Es war der erste Januar des Jahres 1782, ein neues Jahr hatte begonnen. Er stand auf und ging langsam aus der Kajüte, seine Beine glichen das Auf und Ab der Schiffsbewegung ohne bewußte Anstrengung aus. Über dreieinhalb Jahre war es her, daß er an Bord dieses Schiffes gekommen war, das so sehr ein Teil seiner selbst geworden war.
Er kletterte die Leiter hinauf und sah Heyward an den Luvwanten stehen. Für ihn würde es noch schlimmer sein. Er war schon an Bord, seitdem er vor fünf Jahren in die Marine eingetreten war. Bolitho ging zu ihm hinüber, sah den grauen Nebel durch die tropfnassen Wanten ziehen, die Gischt sich bis zur Reling brechen.
«Nun, Mr. Heyward, da wären wir im Kanal. Dort drüben liegt die Isle of Wight, wenn wir Glück haben. Wir we rden noch vor Dunkelheit in Spithead ankern.»
Heyward blickte ihn voll an.»Ein merkwürdiges Gefühl, Sir. «Er zuckte die Schultern.»Ich weiß gar nicht, ob ich das Schiff gern verlassen werde.»
Bolitho nickte.»So ist es oft. Aber der Sparrow geht es ähnlich wie uns allen. Sie muß auf der Werft gründlich überholt und mit diesen neuen Karronaden ausgestattet werden, von denen man so viel hört. Danach wird sie nicht mehr dieselbe sein. «Er sah Bethune vom Geschützdeck heraufklettern, ein altes Biscuit zwischen den Zähnen.»Keiner von uns wird das sein.»
«Land an Steuerbord voraus!»
Bolitho nahm ein Fernglas.»Die Insel Wight. Fallen Sie besser einen Strich ab. «Er beobachtete, wie Heyward mit seinem Sprachrohr zur Reling eilte. Es hätte auch Tyrell sein können.
Dann schaute er sich auf dem regennassen Deck um, musterte die Seeleute an den Besanbrassen, deren Gesichter und Arme in dem unfreundlichen grauen Licht noch dunkler aussahen.
Ein Fischkutter dümpelte vorbei, bärtige Männer winkten ihnen von Bord aus zu. Drüben sah er durch Nebel und Nieselregen den Schatten von Land auftauchen: England. Er packte die Reling mit festerem Griff. Nach so langer, so schwerer Zeit!