Bolitho zwang sich, sich zu setzen. Es war merkwürdig, daß ihn Odells Informationen so sehr erregten. Seit Monaten, schon seit Jahren, hatten sie die große Konfrontation zur See erwartet. Es hatte zwar viele Scharmützel und heftige Gefechte von Schiff zu Schiff gegeben. Aber sie alle hatten gewußt, daß früher oder später die Entscheidungsschlacht kommen mußte. Wer die Gewässer um Amerika beherrschte, der bestimmte auch das Schicksal derer, die innerhalb seiner Grenzen kämpften.
Er sagte:»Eines ist sicher: Hier sind wir zu nichts nütze.»
Farr fragte:»Meinen Sie, daß auch wir zur Flotte stoßen sollten?»
«So ähnlich.»
Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen, Odells knappe Fakten in Relation zu bringen. De Grasse konnte überall sein, aber es war lächerlich anzunehmen, daß er nach Frankreich zurückgesegelt sei, ohne seinen Auftrag zu erfüllen. Ohne ihn konnten die Briten jedes Schiff und jeden Mann in den Kampf um Amerika werfen, und de Grasse war schlau genug, seinen eigenen Wert zu kennen.
Bolitho ging zum Tisch hinüber und nahm eine Seekarte aus dem Fach. Es waren fast siebenhundert Meilen bis nach Cape Henry am Eingang zur Chesapeake Bay. Wenn der Wind günstig blieb, konnten sie in fünf Tagen Land sichten. Falls die Schiffe Admiral Hoods dort lagen, konnte er weitere Befehle anfordern. Korvetten würden ihm äußerst nützlich sein, um näher an Land zu suchen oder in der Schlacht Signale zu übermitteln.
Deshalb sagte er langsam.»Ich habe vor, nach Norden zu fahren, zum Chesapeake.»
Farr rief aufspringend:»Gut! Ich komme mit.»
Odell fragte:»Nehmen Sie die volle Verantwortung auf sich. Sir?«Seine Augen waren undurchsichtig.
«Ja. Ich würde es begrüßen, wenn Sie hierbleiben, für den Fall, daß andere Schiffe vorbeikommen. Wenn ja, können Sie uns in aller Eile folgen.»
«Sehr wohl, Sir. «Odell fügte ruhig hinzu:»Das hätte ich aber gerne schriftlich.»
«Sie unverschämter Schweinehund!«Farr schlug mit der Faust auf den Tisch.»Nennt man das Vertrauen?»
Odell zuckte die Schultern.»Ich vertraue Kapitän Bolitho, ganz ohne Zweifel, Sir. «Er lächelte kurz.»Wenn aber Sie beide getötet werden, wer soll dann aussagen, daß ich nur meinen Befehlen gehorcht habe?»
Bolitho nickte.»Das ist richtig, Ich werde es sofort erledigen. «Er sah, wie sich die beiden Männer mit offener Feindseligkeit musterten.»Ruhig Blut. Recht oder unrecht, es wird uns guttun, wieder in Bewegung zu kommen. Wir wollen nicht mit Unfrieden beginnen, eh?»
Odell zeigte grinsend die Zähne.»Ich wollte nicht beleidigend sein, Sir.»
Farr schluckte hart.»In diesem Fall.»
Auch er grinste über beide Ohren.»Aber bei Gott, Odell, Sie haben mich bis aufs Blut gereizt!»
«Trinken wir ein Glas zusammen.»
Bolitho wäre gern an Deck gegangen, um die Neuigkeiten mit Tyrell und den anderen zu besprechen. Aber er wußte, daß dieser Augenblick ebenfalls äußerst wichtig war: Ein paar Sekunden, an die jeder sich erinnern konnte, wenn das Schiff des anderen nur noch eine Silhouette war.
Er erhob sein Glas.»Worauf wollen wir trinken, Freunde?»
Farr begegnete seinem Blick und lächelte. Er wenigstens verstand ihn.»Auf uns, Dick. Mir wäre das am liebsten.»
Bolitho stellte sein leeres Glas auf den Tisch. Ein einfacher Toast. Aber König, Sache, sogar Vaterland waren zu entfernt, die Zukunft zu unsicher. Sie hatten nur einander und ihre drei kleinen Schiffe zum Überleben.
Die Beine gegen das unangenehme Schlingern der Sparrow fest aufgestemmt, hielt Bolitho ein Fernrohr über die Wanten und wartete, bis sich die Küstenlinie in der Linse zeigte. Es war kurz vor Sonnenuntergang, und als sich der dumpfe, gelbrote Schimmer langsam hinter der nächsten Landzunge verzog, konzentrierte er sich auf das, was er sah, und nicht auf das, was er von der Karte her erwartet hatte. Um ihn herum waren noch andere Fernrohre ausgerichtet, er hörte Tyrells schweres Atmen an seiner Seite, hörte den Griffel auf Buckles Schiefertafel quietschen.
Ein paar Meilen vor Cape Henry, dem südlichsten Landvorsprung an der Einfahrt zur Chesapeake Bay, hatte der Wind scharf umgeschlagen und später noch weiter gedreht. Dies hatte ihre vorher so rasche Fahrt um einen vollen Tag verlängert. Als sie sich endlich von der Leeküste freigesegelt, sich freien Raum erkämpft hatten, sah Bolitho die Bucht mit einem gewissen Ärger querab verschwinden. Und nun, nach ihrer langen Kreuzfahrt zurück zur Einfahrt der Bucht, wurde er vor eine neue Entscheidung gestellt: entweder bis zur Dämmerung vor der Küste liegenzubleiben oder das Risiko auf sich zu nehmen und in sicherlich totaler Finsternis zwischen Cape Henry und der nördlichen Landzunge durchzustoßen.
Tyrell ließ sein Glas sinken.»Ich kenne die Einfahrt gut. Eine ausgedehnte Untiefe reicht weit in die Bucht hinein. Mit Vorsicht kommt man an beiden Seiten vorbei, da uns der Wind jedoch auf den Fersen ist, würde ich das südliche Fahrwasser vorschlagen. Wenn Sie leewärts der Untiefe bleiben, können Sie mit ungefähr drei Meilen Abstand an Cape Henry vorbeilaufen. «Er rieb sich das Kinn.»Wenn Sie sich aber verrechnen und zu weit südlich kreuzen, werden Sie sich sehr beeilen müssen. Es gibt gefährliche Sandbänke beim Kap.»
Bolitho richtete das Fernglas, um einige zuckende rote Blitze weit im Landesinneren zu beobachten.
Tyrell bemerkte:»Geschützfeuer. Ziemlich weit weg.»
Bolitho nickte. Wenn Tyrell es als Belastung empfand, so nahe an seinem Heimatland zu sein, dann zeigte er es jedenfalls nicht.
Tyrell fuhr fort:»Wahrscheinlich jenseits des York River. Sieht nach schwerer Artillerie aus.»
Heyward, der in der Nähe stand, sagte:»Keine Spur von Schiffen, Sir.»
«Sie werden auch keine finden. «Tyrell beobachtete Bolitho.»Gleich hinter Cape Henry liegt die Lynnhaven Bay. In ihrem Schutz ankern manchmal bei schlechtem Wetter sogar große Schiffe. Von hier aus würden Sie nicht einmal eine Flotte dort sehen. «Er hielt inne.»Dazu müßten Sie schon in den alten Chesapeake einfahren.»
Bolitho gab Fowler das Glas.»Einverstanden. Wenn wir noch länger warten, könnte sich der Wind drehen. Dann wären wir wieder auf Legerwall und würden noch mehr Zeit verlieren, um uns klarzukämpfen.»
Er drehte sich um und schaute nach der Heran aus. Ihre gerefften Royalsegel glühten im rasch abnehmenden Sonnenlicht, aber hinter ihr lag die See in tiefem Schatten.
«Zeigen Sie der Heran die Signallaterne. Kapitän Farr weiß, was zu tun ist.»
Er wandte sich an Tyrell.»Die Bucht ist auf der Karte nur sehr ungenau wiedergegeben.»
Tyrell grinste, seine Augen glühten in dem trüben Licht.»Wenn sich nicht alles geändert hat, glaube ich, daß ich uns lotsen kann.»
Fowler rief:»Signal bestätigt, Sir!»
Bolitho entschloß sich.»Kurs zwei Strich Steuerbord. «Zu Tyrell gewandt, fügte er langsam hinzu:»Ich hasse es, in Buchten wie diese einzufahren. Ich fühle mich auf offener See sicherer.»
Der Leutnant seufzte.»Aye. Der Chesapeake ist in vieler Hinsicht gefährlich. Von Norden nach Süden mißt er an die einhundertvierzig Meilen. Sie können ein ziemlich großes Schiff ohne allzuviel Mühe bis hinauf nach Baltimore segeln. Aber in der Breite sind es weniger als dreißig Meilen, und das nur an der Stelle, wo der Potomac zufließt.»
Buckle rief:»Kurs Südwest liegt an, Sir.»
«Sehr gut.»
Bolitho beobachtete, wie das am nächsten liegende Vorgebirge von Cape Charles seinen bronzenen Kamm verlor, als die Sonne endgültig hinter den Hügeln verschwand.
«Lassen Sie klar zum Gefecht machen, Mr. Tyrell. Sicherheit geht vor.»
Er überlegte kurz, was Farr wohl empfand, der jetzt dem Schatten der Sparrow auf die dunkle Landmasse zu folgen mußte: Zweifel, Bedauern, vielleicht sogar Mißtrauen. Man konnte es ihm kaum verdenken. Es war, als ob man in einem dunklen Keller nach Kohlen tastete.