Sie ratterten durch enge Gassen und dann in eine ruhige Straße, die von gedrungenen Häusern gesäumt war; die meisten schienen von Flüchtlingen bewohnt zu sein. Die Gebäude hatten den Hauch der Wohlhabenheit verloren, und wo einst Gärten gewesen waren, lagen jetzt Berge von leeren Kisten und standen traurig aussehende Fahrzeuge herum. Aus vielen Fenstern sah Bolitho Frauen und Kinder auf die Straße herunterstarren. Sie hatten den Blick entwurzelter Menschen, die nicht viel zu tun hatten, außer zu warten und zu hoffen.
Die Kutsche rollte durch zwei schiefhängende Torflügel auf ein weiteres dieser Häuser zu. Der einzige Unterschied war, daß dieses leerstand, die kahlen Fenster sahen in der Sonne aus wie tote Augen.
Einen Moment lang kam ihm Tyrells Warnung in den Sinn, aber als die Kutsche anhielt, sah er Susannah neben dem Haus stehen, ihr Kleid spiegelte sich in dem teilweise zugewachsenen Teich. Er eilte auf sie zu, das Herz schlug ihm bis zum Halse.»Ich bin so schnell ich konnte gekommen!«Er nahm ihre Hände in seine und betrachtete sie herzlich.»Aber warum müssen wir uns hier treffen?»
Sie warf den Kopf zurück, ihr Haar flog nach hinten, genauso wie er es in den Wochen ihrer Trennung in Erinnerung behalten hatte.
«Es ist besser so. Ich kann keine Zuschauer ertragen, diese Spötter hinter meinem Rücken. «Ihre Stimme ließ kaum eine Bewegung erkennen.»Wir wollen jetzt hineingehen. Ich muß mit Ihnen reden.»
Ihre Schritte klangen hohl auf den bloßen Böden. Es war ein schönes Haus gewesen, aber jetzt blätterte der Gips ab, und die Wände waren mit Spinnenweben bedeckt.
Susannah ging zu einem Fenster und sagte:»Mein Onkel ist in ernsthaften Schwierigkeiten, aber ich nehme an, daß Sie das wissen. Er war vielleicht dumm, aber nicht schlechter als viele hier.»
Bolitho schob die Hand unter ihren Arm.»Ich möchte nicht, daß Sie mit hineinverwickelt werden, Susannah.»
Sein Drängen oder die Verwendung ihres Namens veranlaßte sie, sich umzudrehen und ihn abzublicken.
«Aber ich bin hineinverwickelt, wie Sie es nennen.«»Nein. Das Schmuggeln und die anderen Vorwürfe können nichts mit Ihnen zu tun gehabt haben. Niemand würde es je glauben.»
Sie blickte ihn ruhig an.»Sie spielen auch keine Rolle. Aber ein Hinweis auf Ve rrat würde meinen Onkel ruinieren und alle, die mit ihm zu tun haben. «Sie grub die Finger in seinen Arm.»Dieser Crozier — haben Sie seine Anwesenheit in unserem Hause erwähnt? Bitte, ich muß es wissen. Denn wenn Sie weiterhin schweigen, kann noch alles gut werden.»
Bolitho wandte sich ab.»Glauben Sie mir, davor kann ich Sie retten. Ihr Onkel wird nach England geschickt werden, aber es gibt keinen Grund, warum Sie nicht hierbleiben könnten.»
«Hier?«Sie trat einen Schritt zurück.»Was sollte das für einen Zweck haben?»
«Ich — ich dachte, wenn Sie Zeit zu überlegen hätten, könnten Sie sich entscheiden, meine Frau zu werden. «In dem leeren Raum hallten seine Worte nach, als ob sie sich über ihn lustig machen wollten.
«Sie heiraten?«Sie strich sich das Haar aus der Stirn.»Meinen Sie das?»
«Ja. Ich hatte Grund zur Hoffnung. «Er betrachtete sie verzweifelt.»Sie deuteten an, daß…»
Sie antwortete scharf:»Ich habe niemals so etwas angedeutet, Kapitän! Wenn die Dinge sich so entwickelt hätten, wie ich es geplant hatte, dann vielleicht…»
Er versuchte es noch einmal.»Aber für uns muß sich doch nichts ändern.»
Sie fuhr fort, als ob er gar nicht gesprochen hätte:»Ich glaubte, daß Sie es mit Hilfe einiger meiner Freunde eines Tages zu etwas bringen könnten. Eine Stellung in London, vielleicht sogar ein Sitz im Parlament. Alles ist möglich, wenn man es wirklich will. «Sie hob die Augen wieder zu seinem Gesicht.»Haben Sie wirklich geglaubt, ich würde einen Seeoffizier heiraten? Jeden Tag darauf zu warten, daß sein Schiff Anker wirft? Es gibt andere Lebensarten außer Ihrem miserablen Dienst, Kapitän!»
«Er ist mein Leben. «Er fühlte, wie die Wände ihn einengten. Die Luft wurde aus seinen Lungen gepreßt, als müsse er ertrinken.
«Der Ruf der Pflicht. «Sie ging zum Fenster und blickte auf die Kutsche hinab.»Sie waren ein Narr, wenn Sie dachten, ich würde ein solches Leben mit Ihnen teilen. Und ein noch größerer, wenn Sie das weiterhin denken!«Sie drehte sich um, ihre Augen blitzten.»Das Leben besteht aus mehr, als e in paar arme Schmuggler in des Königs Namen zu fangen!»
Bolitho sagte:»Ich werde nichts davon erwähnen, daß Crozier bei Ihrem Onkel war. Aber es wird sicherlich herauskommen, ehe die Behörden ihre Untersuchungen beenden. «Er fügte bitter hinzu:»Die Ratten beißen einander, wenn das Futter knapp wird.»
Sie atmete langsam aus, eine Hand leicht auf ihr Herz gelegt.»Bleiben Sie noch einige Minuten, während ich zu meiner Kutsche gehe. Ich wünsche nicht, hier gesehen zu werden.»
Bolitho streckte die Arme aus und ließ sie dann wieder sinken. Er war besiegt. Er war es schon länger gewesen, als er gewußt hatte.
Doch als sie im dunstigen Sonnenlicht vor ihm stand und ihn mit ihren violetten Augen auf Distanz hielt, wußte er, daß er alles tun oder sagen könnte, um sie zu halten.
Sie ging auf die Tür zu.»Sie sind ein sonderbarer Mann. Aber ich sehe keine Zukunft für Sie. «Und dann war sie gegangen, ihre Schritte verhallten im Treppenhaus, und er war allein.
Er konnte sich nicht erinnern, wie lange er in dem leeren Raum gestanden hatte. Minuten? Eine Stunde? Als er schließlich die Treppe in den verwilderten Garten hinunterging, bemerkte er, daß die schäbige Kutsche verschwunden war. Er ging hinüber zum Teich und blickte auf sein eigenes Spiegelbild.
Wenn sie ärgerlich gewesen wäre oder ängstlich, dann hätte er vielleicht noch gewußt, was tun. Aber sie hatte nicht einmal Verachtung gezeigt. Sie hatte ihn einfach entlassen, genauso gedankenlos, wie sie einen nutzlosen Diener zurückgewiesen hätte.
Ein Fuß stieß an einen Stein, er fuhr herum und sah in dieser Sekunde vier dunkle Figuren aus den verwilderten Büschen springen.
«Langsam, Käpt'n!«Einer von ihnen hatte einen Degen gezogen, und er sah, daß auch die anderen gut bewaffnet waren.»Es ist sinnlos zu kämpfen!»
Bolitho wich an den Teich zurück, die Hand am Säbel.
Ein anderer Mann kicherte.»Aye, so ist's recht, Käpt'n. Wir wissen dann schon, wo wir Ihre Leiche verstecken, wenn wir mit Ihnen fertig sind. Praktisch — was, Kameraden?»
Bolitho blieb ganz ruhig. Er wußte, daß es sinnlos war, mit einem von ihnen reden zu wollen. Sie sahen aus wie berufsmäßige Kriminelle, Männer, die für Geld töteten, unabhängig davon, was es sie letztlich kosten würde. Er war plötzlich so gelassen, als ob ihre Ankunft seine Verzweiflung vertrieben hätte wie ein kalter Wind.
«Dann will ich wenigstens noch ein paar mitnehmen!»
Er zog seinen Säbel aus der Scheide und wartete auf ihren Angriff. Zwei hatten Pistolen, aber es waren wahrscheinlich Militärpatrouillen in der Nähe, und ein Schuß hätte sie aufmerksam gemacht.
Stahl stieß auf Stahl, und Bolitho sah, wie das Grinsen des Anführers zu einem angestrengten Stirnrunzeln wurde, als sich ihre Klingen kreuzten. Er duckte sich, als ein Mann nach seinem Nacken schlug, drehte seinen Säbel und fuhr ihm über das Gesicht, hörte ihn schreien, als er in die Büsche zurücktaumelte.
«Verdammt sollst du sein, elender Bastard!«Ein anderer warf sich nach vorne, sein Degen durchstieß Bolithos Deckung. Aber er sprang von seiner Gürtelschnalle ab, und er konnte ihn mit dem Griff wegschleudern; dann traf er den Gegner mit solcher Gewalt am Kiefer, daß es ihm fast den Säbel aus der Hand riß.
Der Garten schwamm in einem Nebel von Schmerzen, als ihn etwas heftig an der Stirn traf; er begriff, daß einer von ihnen einen Stein geworfen hatte. Er holte mit dem Säbel aus, fühlte aber, daß er nur in die Luft schlug. Jemand lachte, und ein anderer rief heiser:»Jetzt, Harry! Mach ihn fertig!«Doch da — Füße polterten durch die Büsche, Bolitho wurde von jemandem in blauem Rock beiseite geschoben, der schrie:»Auf sie, Kameraden! Haut sie nieder!»