Der Erfolg war durchschlagend. Die Morde hörten auf, von einem Tag zum anderen. Oktober und November vergingen ohne Leiche. Anfang Dezember kamen Berichte aus Grenoble, dass dort neuerdings ein Mädchenmörder umgehe, der seine Opfer erdrossle und ihnen die Kleider in Fetzen vom Leibe und die Haare in Büscheln vom Kopfe reiße. Und obwohl diese grobschlächtigen Verbrechen keineswegs in Einklang mit den sauber ausgeführten Grasser Morden standen, war doch alle Welt davon überzeugt, es handle sich um ein und denselben Täter. Die Grasser schlugen drei Kreuze vor Erleichterung, dass die Bestie nicht mehr bei ihnen, sondern im sieben Tagereisen entfernten Grenoble wütete. Sie organisierten einen Fackelzug zu Ehren des Bischofs und hielten am 24. Dezember einen großen Dankgottesdienst ab. Zum 1. Januar 1766 wurden die verstärkten Sicherheitsvorkehrungen gelockert und die nächtliche Ausgangssperre für Frauen aufgehoben. Mit unglaublicher Schnelligkeit kehrte die Normalität ins öffentliche und private Leben zurück. Die Angst war wie weggeblasen, niemand redete mehr von dem Grauen, das noch vor wenigen Monaten Stadt und Umland beherrscht hatte. Nicht einmal in den betroffenen Familien sprach man noch davon. Es war, als habe der bischöfliche Fluch nicht nur den Mörder, sondern auch jede Erinnerung an ihn verbannt. Und den Menschen war es recht so.
Nur wer eine Tochter hatte, die gerade in das wundersame Alter kam, der ließ sie immer noch nicht gerne ohne Aufsicht, dem wurde bange, wenn es dämmerte, und morgens, wenn er sie gesund und munter vorfand, war er glücklich – freilich ohne sich den Grund dafür recht eingestehen zu wollen.
Einen Mann aber gab es in Grasse, der traute dem Frieden nicht. Er hieß Antoine Richis, bekleidete das Amt des Zweiten Konsuls und wohnte in einem stattlichen Anwesen am Beginn der Rue Droite.
Richis war Witwer und hatte eine Tochter namens Laure. Obwohl keine vierzig Jahre alt und von ungebrochner Vitalität, gedachte er eine neuerliche Verehelichung noch einige Zeit hinauszuschieben. Erst wollte er seine Tochter an den Mann bringen. Und zwar nicht an den ersten besten, sondern an einen von Stande. Es gab da einen Baron von Bouyon, Besitzer eines Sohnes und eines Lehens bei Vence, von guter Reputation und lausiger Finanzlage, mit dem Richis schon Abmachungen über eine künftige Heirat der Kinder getroffen hatte. Wenn Laure dann unter der Haube wäre, wollte er selbst seine freierlichen Fühler in Richtung der hochangesehenen Häuser Dree, Maubert oder Fontmichel ausstrecken – nicht weil er eitel war und auf Teufel komm raus ein adeliges Bettgemahl besitzen musste, sondern weil er eine Dynastie gründen und seine Nachkommenschaft auf ein Geleise setzen wollte, welches zu höchstem gesellschaftlichem Ansehen und politischem Einfluss führte. Dazu brauchte er noch mindestens zwei Söhne, deren einer sein Geschäft übernahm, während der andere via juristische Laufbahn und das Parlament in Aix selbst in den Adel aufrückte. Solche Ambitionen konnte er jedoch als Mann seines Standes nur dann mit Aussicht auf Erfolg hegen, wenn er seine Person und seine Familie aufs engste mit der provenzalischen Nobilität verband.
Was ihn überhaupt zu derartig hochfliegenden Plänen berechtigte, war sein sagenhafter Reichtum. Antoine Richis war der mit Abstand vermögendste Bürger weit und breit. Er besaß Latifundien nicht nur im Grasser Raum, wo er Orangen, Öl, Weizen und Hanf anbauen ließ, sondern auch bei Vence und gegen Antibes zu, wo er verpachtet hatte. Er besaß Häuser in Aix, Häuser auf dem Lande, Anteile an Schiffen, die nach Indien fuhren, ein ständiges Kontor in Genua und das größte Handelslager für Duftstoffe, Spezereien, Öle und Leder Frankreichs.
Das Kostbarste jedoch, was Richis besaß, war seine Tochter. Sie war sein einziges Kind, gerade sechzehn Jahre alt, mit dunkelroten Haaren und grünen Augen. Sie hatte ein so entzückendes Gesicht, dass Besucher jeden Alters und Geschlechts augenblicks erstarrten und den Blick nicht mehr von ihr nehmen konnten, ihr Gesicht geradezu leckten mit den Augen, als leckten sie Eis mit der Zunge, und dabei den für solch leckende Beschäftigung typischen Ausdruck von dümmlicher Hingegebenheit annahmen. Selbst Richis, wenn er die eigne Tochter ansah, ertappte sich dabei, dass er für unbestimmte Zeit, für eine Viertelstunde, für eine halbe Stunde vielleicht, die Welt und damit seine Geschäfte vergaß – was ihm sonst nicht einmal im Schlaf passierte – , sich vollkommen auflöste in des herrlichen Mädchens Betrachtung und hinterher nicht mehr zu sagen wusste, was er eigentlich getan hatte. Und neuerdings – er nahm es mit Unbehagen wahr – , abends beim Zubettbringen oder manchmal morgens, wenn er ging, um sie zu wecken, und sie lag noch schlafend, wie von Gotteshänden hingelegt, und durch den Schleier ihres Nachtgewands drückten sich die Formen ihrer Hüften und ihrer Brüste ab, und aus dem Geviert von Busen, Achselschwung, Ellenbogen und glattem Unterarm, in das sie ihr Gesicht gelegt hatte, stieg ihr ausgestoßner Atem ruhig und heiß… – da ballte es sich ihm elend im Magen, und die Kehle wurde ihm eng, und er schluckte, und, weiß Gott! er verfluchte sich, dass er der Vater dieser Frau war und nicht ein Fremder, nicht irgendein Mann, vor dem sie so läge wie jetzt vor ihm, und der sich ohne Bedenken an sie, auf sie, in sie legen könnte mit all seiner Begehrlichkeit. Und der Schweiß brach ihm aus, und seine Glieder zitterten, indes er diese grauenvolle Lust in sich erwürgte und sich hinabbeugte zu ihr, um sie mit keuschem väterlichem Kuss zu wecken.
Im vergangenen Jahr, zur Zeit der Morde, waren solch fatale Anfechtungen noch nicht über ihn gekommen. Der Zauber, den seine Tochter damals auf ihn ausgeübt hatte, war – so wollte ihm wenigstens scheinen – noch ein kindlicher Zauber gewesen. Und deshalb hatte er auch nie ernstlich befürchtet, dass Laure Opfer jenes Mörders werden könnte, der, wie man wusste, weder Kinder noch Frauen, sondern ausschließlich erwachsene jungfräuliche Mädchen anfiel. Zwar hatte er die Bewachung seines Hauses verstärkt, die Fenster des Obergeschosses mit neuen Gittern versehen lassen und die Zofe angewiesen, ihre Schlafkammer mit Laure zu teilen. Aber es widerstrebte ihm, sie wegzuschicken, wie es seine Standesgenossen mit ihren Töchtern, ja sogar mit ihren ganzen Familien taten. Er fand dieses Verhalten verächtlich und unwürdig eines Mitglieds des Rates und Zweiten Konsuln, der, wie er meinte, seinen Mitbürgern ein Vorbild an Gelassenheit, Mut und Unbeugsamkeit sein sollte. Außerdem war er ein Mann, der sich seine Entschlüsse nicht von anderen vorschreiben ließ, nicht von einer in Panik geratenen Menge und schon gar nicht von einem einzelnen anonymen Lump von Verbrecher. Und so war er während der ganzen schrecklichen Zeit einer der wenigen in der Stadt gewesen, die gegen das Fieber der Angst gefeit waren und einen kühlen Kopf behielten. Doch dies, sonderbarerweise, änderte sich nun. Während nämlich die Menschen draußen, als hätten sie den Mörder schon gehenkt, das Ende seines Treibens feierten und die unselige Zeit bald ganz vergaßen, kehrte in das Herz Antoine Richis' die Angst ein wie ein häßliches Gift. Lange Zeit wollte er sich's nicht zugeben, dass es die Angst war, die ihn bewog, längst fällige Reisen hinauszuzögern, ungern das Haus zu verlassen, Besuche und Sitzungen abzukürzen, damit er nur rasch wieder heimkehren könne. Er entschuldigte sich vor sich selbst mit Unpäßlichkeit und Überarbeitung, gestand sich wohl auch zu, dass er ein wenig besorgt sei, wie eben jeder Vater besorgt ist, der eine Tochter in mannbarem Alter besitzt, eine durchaus normale Sorge… War denn nicht schon der Ruhm ihrer Schönheit nach draußen gedrungen? Reckten sich nicht schon die Hälse, wenn man mit ihr sonntags in die Kirche ging? Machten nicht schon gewisse Herren im Rat Avancen, im eigenen Namen oder in dem ihrer Söhne…?
Aber dann, eines Tages im März, saß Richis im Salon und sah, wie Laure hinaus in den Garten ging. Sie trug ein blaues Kleid, über das ihr rotes Haar fiel, es loderte im Sonnenlicht, er hatte sie noch nie so schön gesehen. Hinter einer Hecke verschwand sie. Und dann dauerte es vielleicht nur zwei Herzschläge länger, als er erwartet hatte, bevor sie wieder auftauchte – und er war zutode erschrocken, denn er hatte zwei Herzschläge lang gedacht, er habe sie für immer verloren.
In der gleichen Nacht wachte er aus einem entsetzlichen Traum auf, an dessen Inhalt er sich nicht mehr erinnern konnte, der aber mit Laure zu tun hatte, und er stürzte in ihr Zimmer, überzeugt, sie sei tot, läge gemordet, geschändet und geschoren im Bett – und fand sie unversehrt.
Er ging zurück in sein Gemach, schweißnass und bebend vor Aufregung, nein, nicht vor Aufregung, sondern vor Angst, jetzt endlich gestand er es sich ein, dass die schiere Angst ihn gepackt hatte, und indem er es sich eingestand, wurde er ruhiger und klarer im Kopf. Wenn er ehrlich war, so hatte er von Anfang an nicht an die Wirkung des bischöflichen Bannfluchs geglaubt; auch nicht daran, dass der Mörder jetzt in Grenoble umgehe; auch nicht daran, dass er die Stadt überhaupt verlassen hatte. Nein, er lebte noch hier, mitten unter den Grassern, und irgendwann würde er wieder zuschlagen. Im August und September hatte Richis einige der ermordeten Mädchen gesehen. Der Anblick hatte ihn entsetzt und zugleich, wie er zugeben musste, fasziniert, denn sie waren alle, und jede auf sehr spezielle Weise, von ausgesuchter Schönheit gewesen. Niemals hätte er gedacht, dass es in Grasse so viel unerkannte Schönheit gab. Der Mörder hatte ihm die Augen geöffnet. Der Mörder besaß einen exquisiten Geschmack. Und er besaß ein System. Nicht nur, dass die Morde alle auf die gleiche ordentliche Weise ausgeführt waren, auch die Wahl der Opfer verriet eine beinahe ökonomisch planende Absicht. Zwar wusste Richis nicht, was der Mörder eigentlich von seinem Opfer begehrte, denn ihr Bestes: die Schönheit und den Reiz ihrer Jugend konnte er ihnen ja nicht geraubt haben… oder doch? Auf jeden Fall aber schien ihm der Mörder, so absurd das klingen mochte, kein destruktiver Geist zu sein, sondern ein sorgfältig sammelnder. Wenn man sich nämlich – so dachte Richis all die Opfer nicht mehr als einzelne Individuen, sondern als Teile eines höheren Prinzips vorstellte und sie wie in idealistischer Weise ihre jeweiligen Eigenschaffen als zu einem einheitlichen Ganzen verschmolzen dächte, dann müsste das aus solchen Mosaiksteinen zusammengesetzte Bild das Bild der Schönheit schlechthin sein, und der Zauber, der von ihm ausginge, wäre nicht mehr von menschlicher, sondern von göttlicher Art. (Wie wir sehen, war Richis ein aufgeklärt denkender Mensch, der auch vor blasphemischen Schlussfolgerungen nicht zurückschreckte, und wenn er nicht in geruchlichen, sondern in optischen Kategorien dachte, so kam er doch der Wahrheit sehr nahe.)