Zu der Zeit, da das Haus Giuseppe Baldini stürzte, befand sich Grenouille auf der Straße nach Orleans. Er hatte den Dunstkreis der großen Stadt hinter sich gelassen, und mit jedem Schritt, den er sich weiter von ihr entfernte, wurde die Luft um ihn her klarer, reiner und sauberer. Sie dünnte sich gleichsam aus. Es hetzten sich nicht mehr Meter für Meter Hunderte, Tausende verschiedener Gerüche in rasendem Wechsel, sondern die wenigen, die es gab – der Geruch der sandigen Straße, der Wiesen, der Erde, der Pflanzen, des Wassers – , zogen in langen Bahnen über das Land, langsam sich blähend, langsam schwindend, kaum je abrupt unterbrochen.
Grenouille empfand diese Simplizität wie eine Erlösung. Die gemächlichen Düfte schmeichelten seiner Nase. Zum ersten Mal in seinem Leben musste er nicht mit jedem Atemzug darauf gefasst sein, ein Neues, Unerwartetes, Feindliches zu wittern, oder ein Angenehmes zu verlieren. Zum ersten Mal konnte er fast frei atmen, ohne dabei immer lauernd riechen zu müssen. >Fast< sagen wir, denn wirklich frei strömte natürlich nichts durch Grenouilles Nase. Es blieb, auch wenn er nicht den kleinsten Anlass dazu hatte, immer eine instinktive Reserviertheit in ihm wach gegen alles, was von außen kam und in ihn eingelassen werden sollte. Sein Leben lang, selbst in den wenigen Momenten, in denen er Anklänge von so etwas wie Genugtuung, Zufriedenheit, ja vielleicht sogar Glück erlebte, atmete er lieber aus als ein – wie er ja auch sein Leben nicht mit einem hoffnungsvollen Atemholen begonnen hatte, sondern mit einem mörderischen Schrei. Aber von dieser Einschränkung abgesehen, die bei ihm eine konstitutionelle Beschränkung war, fühlte sich Grenouille, je weiter er Paris hinter sich ließ, immer wohler, atmete er immer leichter, ging er immer beschwingteren Schritts und raffte sich sogar sporadisch zu einer geraden Körperhaltung auf, so dass er von ferne betrachtet beinahe wie ein gewöhnlicher Handwerksbursche aussah, also wie ein ganz normaler Mensch.
Am befreiendsten empfand er die Entfernung von den Menschen. In Paris lebten mehr Menschen auf engstem Raum als in irgendeiner anderen Stadt auf der Welt. Sechs-, siebenhunderttausend Menschen lebten in Paris. Auf den Straßen und Plätzen wimmelte es von ihnen, und die Häuser waren vollgepfropft mit ihnen vom Keller bis unter die Dächer. Es gab kaum einen Winkel in Paris, der nicht vor Menschen starrte, keinen Stein, kein Fleckchen Erde, das nicht nach Menschlichem roch.
Dass es dieser geballte Menschenbrodem war, der ihn achtzehn Jahre lang wie gewitterschwüle Luft bedrückt hatte, das wurde Grenouille erst jetzt klar, da er sich ihm zu entziehen begann. Bisher hatte er immer geglaubt, es sei die Welt im allgemeinen, von der er sich wegkrümmen müsse. Es war aber nicht die Welt, es waren die Menschen. Mit der Welt, so schien es, der menschenleeren Welt, ließ sich leben.
Am dritten Tag seiner Reise geriet er ins olfaktorische Gravitationsfeld von Orleans. Lange noch bevor irgendein sichtbares Zeichen auf die Nähe der Stadt hindeutete, gewahrte Grenouillle die Verdichtung des Menschlichen in der Luft und entschloss sich, entgegen seiner ursprünglichen Absicht, Orleans zu meiden. Er wollte sich die frischgewonnene Atemfreiheit nicht schon so bald wieder vom stickigen Menschenklima verderben lassen. Er machte einen großen Bogen um die Stadt, stieß bei Châteauneuf auf die Loire und überquerte sie bei Sully. Bis dorthin reichte seine Wurst. Er kaufte sich eine neue und zog dann, den Flusslauf verlassend, landeinwärts.
Er mied jetzt nicht mehr nur die Städte, er mied auch die Dörfer. Er war wie berauscht von der sich immer stärker ausdünnenden, immer menschenferneren Luft. Nur um sich neu zu verproviantieren, näherte er sich einer Siedlung oder einem alleinstehenden Gehöft, kaufte Brot und verschwand wieder in den Wäldern. Nach einigen Wochen wurden ihm selbst die Begegnungen mit den wenigen Reisenden auf den abgelegenen Wegen zu viel, ertrug er nicht mehr den punktuell auftretenden Geruch der Bauern, die auf den Wiesen das erste Gras mähten. Ängstlich wich er jeder Schafherde aus, nicht der Schafe wegen, sondern um den Geruch der Hirten zu umgehen. Er schlug sich querfeldein, nahm meilenweite Umwege in Kauf, wenn er eine noch Stunden entfernte Schwadron Reiter auf sich zukommen roch. Nicht weil er, wie andere Handwerksburschen und Herumtreiber, fürchtete, kontrolliert und nach Papieren gefragt und womöglich zum Kriegsdienst verpflichtet zu werden – er wusste nicht einmal, dass Krieg war – , sondern einzig und allein, weil ihn vor dem Menschengeruch der Reiter ekelte. Und so kam es ganz von alleine und ohne besonderen Entschluss, dass sein Plan, auf schnellstem Wege nach Grasse zu gehen, allmählich verblasste; der Plan löste sich sozusagen in der Freiheit auf, wie alle anderen Pläne und Absichten. Grenouille wollte nicht mehr irgendwohin, sondern nur noch weg, weg von den Menschen.
Schließlich wanderte er nur noch nachts. Tagsüber verkroch er sich ins Unterholz, schlief unter Büschen, im Gestrüpp, an möglichst unzugänglichen Orten, zusammengerollt wie ein Tier, die erdbraune Pferdedecke über Körper und Kopf gezogen, die Nase in die Ellbogenbeuge verkeilt und abwärts zur Erde gerichtet, damit auch nicht der kleinste fremde Geruch seine Träume störte. Bei Sonnenuntergang erwachte er, witterte nach allen Himmelsrichtungen, und erst, wenn er sicher gerochen hatte, dass auch der letzte Bauer sein Feld verlassen und auch der wagemutigste Wanderer vor der hereinbrechenden Dunkelheit eine Unterkunft aufgesucht hatten, erst wenn die Nacht mit ihren vermeintlichen Gefahren das Land von Menschen reingefegt hatte, kam Grenouille aus seinem Versteck hervorgekrochen und setzte seine Reise fort. Er brauchte kein Licht, um zu sehen. Schon früher, als er noch tagsüber gewandert war, hatte er oft stundenlang die Augen geschlossen gehalten und war nur der Nase nach gegangen. Das grelle Bild der Landschaft, das Blendende, die Plötzlichkeit und die Schärfe des Sehens mit den Augen schmerzten ihn. Allein das Mondlicht ließ er sich gefallen. Das Mondlicht kannte keine Farben und zeichnete nur schwach die Konturen des Geländes. Es überzog das Land mit schmutzigem Grau und erdrosselte für eine Nacht lang das Leben. Diese wie in Blei gegossene Welt, in der sich nichts regte als der Wind, der manchmal wie ein Schattenüber die grauen Wälder fiel, und in der nichts lebte als die Düfte der nackten Erde, war die einzige Welt, die er gelten ließ, denn sie ähnelte der Welt seiner Seele.
So zog er in südliche Richtung. Ungefähr in südliche Richtung, denn er folgte keinem magnetischen Kompass, sondern nur dem Kompass seiner Nase, der ihn jede Stadt, jedes Dorf, jede Siedlung umgehen ließ. Wochenlang traf er keinen Menschen. Und er hätte sich im beruhigenden Glauben wiegen können, er sei allein auf der dunklen oder vom kalten Mondlicht beschienenen Welt, wenn nicht der feine Kompass ihn eines Besseren belehrt hätte.
Auch nachts gab es Menschen. Auch in den entlegensten Gebieten gab es Menschen. Sie hatten sich nur in ihre Schlupfwinkel zurückgezogen wie die Ratten und schliefen. Die Erde war nicht rein von ihnen, denn selbst im Schlaf dünsteten sie ihren Geruch aus, der durch die offenen Fenster und durch die Ritzen ihrer Behausungen hinaus ins Freie drängte und die sich scheinbar selbst überlassene Natur verpestete. Je mehr sich Grenouille an die reinere Luft gewöhnt hatte, desto empfindlicher traf ihn so ein Menschengeruch, der plötzlich, völlig unerwartet, nächtens daherflatterte, scheußlich wie Adelgestank, und die Anwesenheit irgendeiner Hirtenunterkunft oder einer Köhlerkate oder einer Räuberhöhle verriet. Und er flüchtete weiter, immer sensibler reagierend auf den immer seltener werdenden Geruch des Menschlichen. So führte ihn seine Nase in immer abgelegenere Gegenden des Landes, entfernte ihn immer weiter von den Menschen und trieb ihn immer heftiger dem Magnetpol der größtmöglichen Einsamkeit entgegen.
Dieser Pol, nämlich der menschenfernste Punkt des ganzen Königreichs, befand sich im Zentralmassiv der Auvergne, etwa fünf Tagesreisen südlich von Clermont, auf dem Gipfel eines zweitausend Meter hohen Vulkansnamens Plomb du Cantal.
Der Berg bestand aus einem riesigen Kegel bleigrauen Gesteins und war umgeben von einem endlosen, kargen, nur von grauem Moos und grauem Gestrüpp bewachsenen Hochland, aus dem hier und da braune Felsspitzen wie verfaulte Zähne aufragten und ein paar von Bränden verkohlte Bäume. Selbst am helllichten Tage war diese Gegend von so trostloser Unwirtlichkeit, dass der ärmste Schafhirte der ohnehin armen Provinz seine Tiere nicht hierher getrieben hätte. Und bei Nacht gar, im bleichen Licht des Mondes, schien sie in ihrer gottverlassenen Öde nicht mehr von dieser Welt zu sein. Selbst der weithin gesuchte auvergnatische Bandit Lebrun hatte es vorgezogen, sich in die Cevennen durchzuschlagen und dort ergreifen und vierteilen zu lassen, als sich am Plomb du Cantal zu verstecken, wo ihn zwar sicher niemand gesucht und gefunden hätte, wo er aber ebenso sicher den ihm schlimmer erscheinenden Tod der lebenslangen Einsamkeit gestorben wäre. In meilenweitem Umkreis des Berges lebten kein Mensch und kein ordentliches warmblütiges Tier, bloß ein paar Fledermäuse und ein paar Käfer und Nattern. Seit Jahrzehnten hatte niemand den Gipfel bestiegen.
Grenouille erreichte den Berg in einer Augustnacht des Jahres 1756. Als der Morgen graute, stand er auf dem Gipfel. Er wusste noch nicht, dass seine Reise hier zu Ende war. Er dachte, dies sei nur eine Etappe auf dem Weg in immer noch reinere Lüfte, und er drehte sich im Kreise und ließ den Blick seiner Nase über das gewaltige Panorama des vulkanischen Ödlands streifen: nach Osten hin, wo die weite Hochebene von Saint-Flour und die Sümpfe des Flusses Riou lagen; nach Norden hin, in die Gegend, aus der er gekommen und wo er tagelang durch karstiges Gebirge gewandert war; nach Westen, von woher der leichte Morgenwind ihm nichts als den Geruch von Stein und hartem Gras entgegentrug; nach Süden schließlich, wo die Ausläufer des Plomb sich meilenweit hinzogen bis zu den dunklen Schluchten der Truyere. Überall, in jeder Himmelsrichtung, herrschte die gleiche Menschenferne, und zugleich hätte jeder Schritt in jede Richtung wieder größere Menschennähe bedeutet. Der Kompass kreiselte. Er gab keine Orientierung mehr an. Grenouille war am Ziel. Aber zugleich war er gefangen.
Als die Sonne aufging, stand er immer noch am gleichen Fleck und hielt seine Nase in die Luft. Mit verzweifelter Anstrengung versuchte er, die Richtung zu erschnuppern, aus der das bedrohlich Menschliche kam, und die Gegenrichtung, in die er weiterfliehen musste. In jeder Richtung argwöhnte er, doch noch einen verborgenen Fetzen menschlichen Geruchs zu entdecken. Doch da war nichts. Da war nur Ruhe, wenn man so sagen kann, geruchliche Ruhe. Ringsum herrschte nur der wie ein leises Rauschen wehende, homogene Duft der toten Steine, der grauen Flechten und der dürren Gräser, und sonst nichts.