Während Grenouille für die erste Etappe seiner Reise durch Frankreich sieben Jahre gebraucht hatte, brachte er die zweite in weniger als sieben Tagen hinter sich. Er mied die belebten Straßen und die Städte nicht mehr, er machte keine Umwege. Er hatte einen Geruch, er hatte Geld, er hatte Selbstvertrauen, und er hatte es eilig.
Schon am Abend des Tages, da er Montpellier verlassen hatte, erreichte er Le Grau-du-Roi, eine kleine Hafenstadt südwestlich von Aigues-Mortes, wo er sich auf einen Lastensegler nach Marseille einschiffte. In Marseille verließ er den Hafen gar nicht erst, sondern suchte gleich ein Schiff, das ihn weiter die Küste entlang nach Osten brachte. Zwei Tage später war er in Toulon, nach drei weiteren Tagen in Cannes. Den Rest des Weges ging er zu Fuß. Er folgte einem Pfad, der landeinwärts nach Norden führte, die Hügel hinauf.
Nach zwei Stunden stand er auf der Kuppe, und vor ihm breitete sich ein mehrere Meilen umfassendes Becken aus, eine Art riesiger landschaftlicher Schüssel, deren Umgrenzung ringsum aus sanft ansteigenden Hügeln und schroffen Bergketten bestand und deren weite Mulde mit frischbestellten Feldern, Gärten und Olivenhainen überzogen war. Es lag ein völlig eignes, sonderbar intimes Klima über dieser Schüssel. Obwohl das Meer so nah war, dass man es von den Hügelkuppen aus sehen konnte, herrschte hier nichts Maritimes, nichts Salzig-Sandiges, nichts Offenes, sondern stille Abgeschiedenheit, ganz so, als wäre man viele Tagesreisen von der Küste entfernt. Und obwohl nach Norden zu die großen Gebirge standen, auf denen noch der Schnee lag und noch lange liegen würde, war hier nichts Rauhes oder Karges zu spüren und kein kalter Wind. Der Frühling war weiter vorangeschritten als in Montpellier. Ein milder Dunst deckte die Felder wie eine gläserne Glocke. Aprikosen- und Mandelbäume blühten, und die warme Luft durchzog der Duft von Narzissen.
Am anderen Ende der großen Schüssel, vielleicht zwei Meilen entfernt, lag, oder besser gesagt, klebte an den ansteigenden Bergen eine Stadt. Sie machte aus der Entfernung gesehen keinen besonders pompösen Eindruck. Da war kein mächtiger Dom, der die Häuser überragte, bloß ein kleiner Stumpen von Kirchturm, keine dominierende Feste, kein auffallend prächtiges Gebäude. Die Mauern schienen alles andere als trutzig, da und dort quollen die Häuser über ihre Begrenzung hinaus, vor allem nach unten zur Ebene hin, und verliehen dem Weichbild ein etwas zerfleddertes Aussehen. Es war, als sei dieser Ort schon zu oft erobert und wieder entsetzt worden, als sei er es müde, künftigen Eindringlingen noch ernsthaften Widerstand entgegenzusetzen – aber nicht aus Schwäche, sondern aus Lässigkeit oder sogar aus einem Gefühl von Stärke. Er sah aus, als habe er es nicht nötig zu prunken. Er beherrschte die große duftende Schüssel zu seinen Füßen, und das schien ihm zu genügen.
Dieser zugleich unansehnliche und selbstbewusste Ort war die Stadt Grasse, seit einigen Jahrzehnten unumstrittene Produktions- und Handelsmetropole für Duftstoffe, Parfumeriewaren, Seifen und Öle. Giuseppe Baldini hatte ihren Namen immer mit schwärmerischer Verzückung ausgesprochen. Ein Rom der Düfte sei die Stadt, das gelobte Land der Parfumeure, und wer nicht seine Sporen hier verdient habe, der trage nicht zu Recht den Namen Parfumeur.
Grenouille sah mit sehr nüchternem Blick auf die Stadt Grasse. Er suchte kein gelobtes Land der Parfumerie, und ihm ging das Herz nicht auf im Angesicht des Nestes, das da drüben an den Hängen klebte. Er war gekommen, weil er wusste, dass es dort einige Techniken der Duftgewinnung besser zu lernen gab als anderswo. Und diese wollte er sich aneignen, denn er brauchte sie für seine Zwecke. Er zog den Flakon mit seinem Parfum aus der Tasche, betupfte sich sparsam und machte sich auf den Weg. Anderthalb Stunden später, gegen Mittag, war er in Grasse.
Er aß in einem Gasthof am oberen Ende der Stadt, an der Place aux Aires. Der Platz war der Länge nach von einem Bach durchschnitten, an dem die Gerber ihre Häute wuschen, um sie anschließend zum Trocknen auszubreiten. Der Geruch war so stechend, dass manchem der Gäste der Geschmack am Essen verging. Ihm, Grenouille, nicht. Ihm war der Geruch vertraut, ihm gab er ein Gefühl von Sicherheit. In allen Städten suchte er immer zuerst die Viertel der Gerber auf. Es war ihm dann, als sei er, aus der Sphäre des Gestankes kommend und von dort aus die anderen Regionen des Orts erkundend, kein Fremdling mehr.
Den ganzen Nachmittag über durchstreifte er die Stadt. Sie war unglaublich schmutzig, trotz oder vielmehr gerade wegen des vielen Wassers, das aus Dutzenden von Quellen und Brunnen sprudelte, in ungeregelten Bächen und Rinnsalen stadtabwärts gurgelte und die Gassen unterminierte oder mit Schlamm überschwemmte. Die Häuser standen in manchen Vierteln so dicht, dass für die Durchlässe und Treppchen nur noch eine Elle weit Platz blieb und sich die im Schlamm watenden Passanten aneinander vorbeipressen mussten. Und selbst auf den Plätzen und den wenigen breiteren Straßen konnten die Fuhrwerke einander kaum ausweichen.
Dennoch, bei allem Schmutz, bei aller Schmuddligkeit und Enge, barst die Stadt vor gewerblicher Betriebsamkeit. Nicht weniger als sieben Seifenkochereien machte Grenouille bei seinem Rundgang aus, ein Dutzend Parfumerie- und Handschuhmachermeister, unzählige kleinere Destillen, Pomadeateliers und Spezereien und schließlich einige sieben Händler, die Düfte en gros vertrieben.
Dies waren nun allerdings Kaufleute, die über wahre Duftstoffgroßkontore verfügten. Anzusehen war es ihren Häusern oftmals kaum. Die zur Straße hin gelegenen Fassaden sahen bürgerlich bescheiden aus. Doch was dahinter lagerte, auf Speichern und in riesenhaften Kellern, an Fässern von Öl, an Stapeln von feinster Lavendelseife, an Ballons von Blütenwässern, Weinen, Alkoholen, an Ballen von Duftleder, an Säcken und Truhen und Kisten, vollgestopft mit Gewürzen… – Grenouille roch es in allen Einzelheiten durch die dicksten Mauern – , das waren Reichtümer, wie sie Fürsten nicht besaßen. Und wenn er schärfer hinroch, durch die zur Straße gelegenen prosaischen Geschäfts- und Lagerräume hindurch, dann entdeckte er, dass auf der Rückseite dieser kleinkarierten Bürgerhäuser sich Gebäulichkeiten der luxuriösesten Art befanden. Um kleine, aber reizende Gärten, in denen Oleander und Palmen gediehen und zierliche von Rabatten umfasste Springbrunnen gur gelten, dehnten sich, meist U-förmig nach Süden gebaut, die eigentlichen Flügel der Anwesen aus: sonnendurchflutete, seidentapetenbespannte Schlafgemächer in den Obergeschossen, prächtige mit exotischem Holz getäfelte Salons zu ebener Erde und Speisesäle, bisweilen terrassenhaft ins Freie vorgebaut, in denen tatsächlich, wie Baldini erzählt hatte, mit goldenem Besteck von porzellanenen Tellern gegessen wurde. Die Herren, die hinter diesen bescheidenen Kulissen wohnten, rochen nach Gold und nach Macht, nach schwerem gesichertem Reichtum, und sie rochen stärker danach als alles, was Grenouille bisher auf seiner Reise durch die Provinz in dieser Hinsicht gerochen hatte.
Vor einem der camouflierten Palazzi blieb er längere Zeit stehen. Das Haus befand sich am Anfang der Rue Droite, einer Hauptstraße, die die Stadt in ihrer ganzen Länge von Westen nach Osten durchzog. Es war nicht außergewöhnlich anzusehen, wohl etwas breiter und behäbiger an der Front als die Nachbargebäude, aber durchaus nicht imposant. Vor der Toreinfahrt stand ein Wagen mit Fässern, die über eine Pritsche entladen wurden. Ein zweites Fuhrwerk wartete. Ein Mann ging mit Papieren ins Kontor, kam mit einem anderen Mann wieder heraus, beide verschwanden in der Toreinfahrt. Grenouille stand an der gegenüberliegenden Straßenseite und sah dem Treiben zu. Was da vor sich ging, interessierte ihn nicht. Trotzdem blieb er stehen. Irgendetwas hielt ihn fest.
Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Gerüche, die ihm von dem Gebäude gegenüber zuflogen. Da waren die Gerüche der Fässer, Essig und Wein, dann die hundertfältigen schweren Gerüche des Lagers, dann die Gerüche des Reichtums, die aus den Mauern transpirierten wie feiner goldener Schweiß, und schließlich die Gerüche eines Gartens, der auf der anderen Seite des Hauses liegen musste. Es war nicht leicht, diese zarteren Düfte des Gartens aufzufangen, denn sie zogen nur in dünnen Streifen über den Giebel des Hauses hinweg herab auf die Straße. Grenouille machte Magnolien aus, Hyazinthen, Seidelbast und Rhododendron… – aber da schien noch etwas anderes zu sein, etwas mörderisch Gutes, was in diesem Garten duftete, ein Geruch so exquisit, wie er ihn in seinem Leben noch nicht – oder doch nur ein einziges Mal – in die Nase bekommen hatte… Er musste näher an diesen Duft heran.
Er überlegte, ob er einfach durch die Toreinfahrt in das Anwesen eindringen sollte. Aber da waren unterdessen so viele Leute mit dem Abladen und dem Kontrollieren der Fässer beschäftigt, dass er sicher aufgefallen wäre. Er entschloss sich, die Straße zurückzugehen, um eine Gasse oder einen Durchlaß zu finden, der vielleicht an der Querseite des Hauses entlangführte. Nach wenigen Metern hatte er das Stadttor am Beginn der Rue Droite erreicht. Er durchschritt es, hielt sich scharf links und folgte dem Verlauf der Stadtmauer bergabwärts. Nicht weit, und er roch den Garten, erst schwach, noch mit der Luft der Felder vermischt, dann immer stärker. Schließlich wusste er, dass er ihm ganz nahe war. Der Garten grenzte an die Stadtmauer. Er war direkt neben ihm. Wenn er ein wenig zurücktrat, konnte er über die Mauer hinweg die obersten Zweige der Orangenbäume sehen.
Wieder schloss er die Augen. Die Düfte des Gartens fielen über ihn her, deutlich und klar konturiert wie die farbigen Bänder eines Regenbogens. Und der eine, der kostbare, der, auf den es ihm ankam, war darunter. Grenouille wurde es heiß vor Wonne und kalt vor Schrecken. Das Blut stieg ihm zu Kopfe wie einem ertappten Buben, und es wich zurück in die Mitte des Körpers, und es stieg wieder und wich wieder, und er konnte nichts dagegen tun. Zu plötzlich war diese Geruchsattacke gekommen. Für einen Augenblick, für einen Atemzug lang, für die Ewigkeit schien ihm, als sei die Zeit verdoppelt oder radikal verschwunden, denn er wusste nicht mehr, war jetzt jetzt und war hier hier, oder war nicht vielmehr jetzt damals und hier dort, nämlich Rue des Marais in Paris, September 1753: Der Duft, der aus dem Garten herüberwehte, war der Duft des rothaarigen Mädchens, das er damals ermordet hatte. Dass er diesen Duft in der Welt wiedergefunden hatte, trieb ihm Tränen der Glückseligkeit in die Augen – und dass es nicht wahr sein konnte, ließ ihn zu Tode erschrecken.