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Grenouille wäre aber nicht Grenouille gewesen, wenn ihn ein fatalistisch-heroisches Gefühl lange befriedigt hätte. Dazu besaß er einen zu zähen Selbstbehauptungswillen, ein zu durchtriebenes Wesen und einen zu raffinierten Geist. Gut – er hatte sich entschlossen, jenen Duft des Mädchens hinter der Mauer zu besitzen. Und wenn er ihn nach wenigen Wochen wieder verlöre und an dem Verlust stürbe, so sollte auch das gut sein. Besser aber wäre es, nicht zu sterben und den Duft trotzdem zu besitzen, oder zumindest seinen Verlust so lange als irgend möglich hinauszuzögern. Man müsste ihn haltbarer machen. Man müsste seine Flüchtigkeit bannen, ohne ihm seinen Charakter zu rauben – ein parfumistisches Problem.

Es gibt Düfte, die haften jahrzehntelang. Ein mit Moschus eingeriebener Schrank, ein mit Zimtöl getränktes Stück Leder, eine Amberknolle, ein Kästchen aus Zedernholz besitzen geruchlich fast das ewige Leben. Und andere – Limettenöl, Bergamotte, Narzissen- und Tuberosenextrakte und viele Blütendüfte verhauchen sich schon nach wenigen Stunden, wenn man sie rein und ungebunden der Luft aussetzt. Der Parfumeur begegnet diesem fatalen Umstand, indem er die allzu flüchtigen Düfte durch haftende bindet, ihnen also gleichsam Fesseln anlegt, die ihren Freiheitsdrang zügeln, wobei die Kunst darin besteht, die Fesseln so locker zu lassen, dass der gebundene Geruch seine Freiheit scheinbar behält, und sie doch so eng zu schnüren, dass er nicht fliehen kann. Grenouille war dieses Kunststück einmal in perfekter Weise beim Tuberosenöl gelungen, dessen ephemeren Duft er mit winzigen Mengen von Zibet, Vanille, Labdanum und Zypresse gefesselt und damit erst recht eigentlich zur Geltung gebracht hatte. Warum sollte etwas Ähnliches nicht auch mit dem Duft des Mädchens möglich sein? Weshalb sollte er diesen kostbarsten und fragilsten aller Düfte pur verwenden und verschwenden? Wie plump! Wie außerordentlich unraffiniert! Ließ man Diamanten ungeschliffen? Trug man Gold in Brocken um den Hals? War er, Grenouille, etwa ein primitiver Duftstoffräuber wie Druot und wie die anderen Mazeratoren, Destillierer und Blütenquetscher? Oder war er nicht vielmehr der größte Parfumeur der Welt?

Er schlug sich vor den Kopf vor Entsetzen, dass er nicht schon früher darauf gekommen war: Natürlich durfte dieser einzigartige Duft nicht roh verwendet werden. Er musste ihn fassen wie den kostbarsten Edelstein. Ein Duftdiadem musste er schmieden, an dessen erhabenster Stelle, zugleich eingebunden in andere Düfte und sie beherrschend, sein Duft strahlte. Ein Parfum würde er machen nach allen Regeln der Kunst, und der Duft des Mädchens hinter der Mauer sollte die Herznote sein.

Als Adjuvantien freilich, als Basis-, Mittel- und Kopfnote, als Spitzengeruch und als Fixateur waren nicht Moschus und Zibet, nicht Rosenöl oder Neroli geeignet, das stand fest. Für ein solches Parfum, für ein Menschenparfum, bedurfte es anderer Ingredienzen.

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Im Mai desselben Jahres fand man in einem Rosenfeld, halben Wegs zwischen Grasse und dem östlich gelegenen Flecken Opio, die nackte Leiche eines fünfzehnjährigen Mädchens. Es war mit einem Knüppelhieb auf den Hinterkopf erschlagen worden. Der Bauer, der es entdeckt hatte, war von dem grausigen Fund so verwirrt, dass er sich fast selbst in Verdacht brachte, indem er dem Polizeilieutenant mit zitternder Stimme meldete, er habe so etwas Schönes noch nie gesehen – wo er doch eigentlich hatte sagen wollen, er habe so etwas Entsetzliches noch nie gesehen.

Tatsächlich war das Mädchen von exquisiter Schönheit. Es gehörte jenem schwerblütigen Typ von Frauen an, die wie aus dunklem Honig sind, glatt und süß und ungeheuer klebrig; die mit einer zähflüssigen Geste, einem Haarwurf, einem einzigen langsamen Peitschenschwung ihres Blickes den Raum beherrschen und dabei ruhig wie im Zentrum eines Wirbelsturmes stehen, der eigenen Gravitationskraft scheinbar unbewusst, mit der sie Sehnsüchte und Seelen von Männern wie von Frauen unwiderstehlich an sich reißen. Und sie war jung, blutjung, der Reiz des Typus war noch nicht ins Sämige verflossen. Noch waren ihre schweren Glieder glatt und fest, die Brüste wie aus dem Ei gepellt, und ihr flächiges Gesicht, vom schwarzen starken Haar umflogen, besaß noch zarteste Konturen und geheimste Stellen. Das Haar selbst freilich war weg. Der Mörder hatte es ihr abgeschnitten und mitgenommen, ebenso wie die Kleider.

Man verdächtigte die Zigeuner. Den Zigeunern war alles zuzutrauen. Zigeuner woben bekanntlich Teppiche aus alten Kleidern und stopften Menschenhaar in ihre Kissen und fertigten aus Haut und Zähnen von Gehenkten kleine Puppen. Für ein so perverses Verbrechen kamen nur Zigeuner in Frage. Es waren aber zu der Zeit keine Zigeuner da, weit und breit nicht, das letzte Mal hatten Zigeuner die Gegend im Dezember durchzogen.

In Ermangelung von Zigeunern verdächtigte man daraufhin italienische Wanderarbeiter. Italiener waren aber auch keine da, für sie war es zu früh im Jahr, sie würden erst im Juni zur Jasminernte ins Land kommen, sie konnten's also nicht gewesen sein. Schließlich gerieten die Perückenmacher in Verdacht, bei denen man nach dem Haar des ermordeten Mädchens fahndete. Vergeblich. Dann sollten es die Juden gewesen sein, dann die angeblich geilen Mönche des Benediktinerklosters – die freilich alle schon weit über siebzig waren – , dann die Zisterzienser, dann die Freimaurer, dann die Geisteskranken aus der Charité, dann die Köhler, dann die Bettler und zu guter Letzt der sittenlose Adel, insbesondere der Marquis von Cabris, denn der war schon zum dritten Mal verheiratet, veranstaltete, wie es hieß, in seinen Kellern orgiastische Messen und trank dabei Jungfrauenblut, um seine Potenz zu steigern. Konkretes ließ sich freilich nicht beweisen. Niemand hatte den Mord beobachtet, Kleider und Haare der Toten wurden nicht gefunden. Nach einigen Wochen stellte der Polizeilieutenant seine Nachforschungen ein.

Mitte Juni kamen die Italiener, viele mit ihren Familien, um sich als Pflücker zu verdingen. Die Bauern beschäftigten sie zwar, verboten aber, eingedenk des Mordes, ihren Frauen und Töchtern den Umgang mit ihnen. Sicher war sicher. Denn obwohl die Wanderarbeiter für den geschehenen Mord tatsächlich nicht verantwortlich waren, so hätten sie doch prinzipiell dafür verantwortlich sein können, und deshalb war es besser, vor ihnen auf der Hut zu sein.

Nicht lange nach Beginn der Jasminernte geschahen zwei weitere Morde. Wieder waren die Opfer bildschöne Mädchen, wieder gehörten sie jenem schwerblütigen schwarzhaarigen Typus an, wieder fand man sie nackt und geschoren und mit einer stumpfen Wunde am Hinterkopf in den Blumenfeldern liegen. Wieder fehlte vom Täter jede Spur. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und es drohten schon Feindseligkeiten gegen das zugezogene Volk auszubrechen, als bekannt wurde, dass beide Opfer Italienerinnen waren, Töchter eines Genueser Taglöhners.

Nun legte sich die Furcht über das Land. Die Leute wussten nicht mehr, auf wen sie ihre ohnmächtige Wut richten sollten. Wohl gab es noch welche, die die Irren oder den obskuren Marquis verdächtigten, aber so recht wollte niemand daran glauben, denn jene standen Tag und Nacht unter Aufsicht, und dieser war schon vor langer Zeit nach Paris abgereist. Also rückte man näher zusammen. Die Bauern öffneten den Zugewanderten, die bis dahin auf freiem Feld gelagert hatten, ihre Scheunen. Die Städter richteten in jedem Viertel einen nächtlichen Patrouillendienst ein. Der Polizeilieutenant verstärkte die Wachen an den Toren. Doch alle Vorkehrungen nützten nichts. Wenige Tage nach dem Doppelmord fand man wieder eine Mädchenleiche, ebenso zugerichtet wie die vorigen. Diesmal handelte es sich um eine sardische Wäscherin aus dem bischöflichen Palais, die nahe dem großen Wasserbecken an der Fontaine de la Foux, also direkt vor den Toren der Stadt, erschlagen worden war. Und obwohl die Konsuln, von der erregten Bürgerschaft gedrängt, weitere Maßnahmen ergriffen – schärfste Kontrollen an den Toren, Verstärkung der Nachtwachen, Ausgangsverbot für alle weiblichen Personen nach Einbruch der Dunkelheit – , verging in diesem Sommer keine Woche mehr, in der nicht die Leiche eines jungen Mädchens gefunden wurde. Und immer waren es solche, die gerade erst begonnen hatten, Frauen zu sein, und immer waren es die schönsten und meist jener dunkle, haftende Typus. – Obwohl der Mörder bald auch nicht mehr den in der einheimischen Bevölkerung vorherrschenden weichen, weißhäutigen und etwas beleibteren Mädchenschlag verschmähte. Sogar brünette, sogar dunkelblonde – sofern sie nicht zu mager waren – fielen ihm neuerdings zum Opfer. Er spürte sie überall auf, nicht mehr nur im Umland von Grasse, sondern mitten in der Stadt, ja sogar in den Häusern. Die Tochter eines Tischlers wurde in ihrer Kammer im fünften Stock erschlagen aufgefunden, und niemand im Haus hatte das geringste Geräusch gehört, und keiner der Hunde, die sonst jeden Fremden witterten und verbellten, hatte angeschlagen. Der Mörder schien unfassbar, körperlos, wie ein Geist zu sein.

Die Menschen empörten sich und beschimpften die Obrigkeit. Das kleinste Gerücht führte zu Zusammenrottungen. Ein fahrender Händler, der Liebespulver und andere Quacksalbereien verkaufte, wurde fast massakriert, denn es hieß, seine Mittelchen enthielten gemahlenes Mädchenhaar. Auf das Hotel de Cabris und auf das Hospiz der Charité wurden Brandanschläge verübt. Der Tuchhändler Alexandre Misnard erschoss seinen eigenen Hausdiener bei dessen nächtlicher Heimkehr, weil er ihn für den berüchtigten Mädchenmörder hielt. Wer es sich leisten konnte, schickte seine heranwachsenden Töchter zu entfernten Verwandten oder in Pensionate nach Nizza, Aix oder Marseille . Der Polizeilieutenant wurde auf Drängen des Stadtrats seines Postens enthoben. Sein Nachfolger ließ die Leichen der geschorenen Schönheiten von einem Ärztekollegium auf ihren virginalen Zustand untersuchen. Es fand sich, dass sie alle unberührt geblieben waren.

Sonderbarerweise vermehrte diese Erkenntnis das Entsetzen, anstatt es zu mindern, denn insgeheim hatte jedermann angenommen, dass die Mädchen missbraucht worden seien. Man hätte dann wenigstens ein Motiv des Mörders gekannt. Nun wusste man nichts mehr, nun war man völlig ratlos. Und wer an Gott glaubte, rettete sich ins Gebet, es möge doch wenigstens das eigene Haus von der teuflischen Heimsuchung verschont bleiben.

Der Stadtrat, ein Gremium der dreißig reichsten und angesehensten Großbürger und Adligen von Grasse, in ihrer Mehrzahl aufgeklärte und antiklerikale Herren, die den Bischof bisher einen guten Mann hatten sein lassen und aus den Klöstern und Abteien am liebsten Warenlager oder Fabriken gemacht hätten – die stolzen, mächtigen Herren des Stadtrats ließen sich in ihrer Not herbei, Monseigneur den Bischof in einer unterwürfig abgefassten Petition zu bitten, er möge das mädchenmordende Monster, dessen die weltliche Macht nicht habhaft werden könne, verfluchen und mit Bann belegen, ebenso, wie es sein erlauchter Vorgänger im Jahre 1708 mit den entsetzlichen Heuschrecken gemacht habe, die damals das Land bedrohten. Und in der Tat wurde Ende September der Grasser Mädchenmörder, der bis dahin nicht weniger als vierundzwanzig der schönsten Jungfrauen aus allen Schichten des Volkes hinweggerafft hatte, per schriftlichem Anschlag sowie mündlich von sämtlichen Kanzeln der Stadt, darunter der Kanzel von Notre-Dame-du-Puy, durch den Bischof persönlich in feierlichen Bann und Fluch getan.

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