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»Wo?« fragte Grenouille.

»Im Süden«, antwortete Baldini. »Vor allem in der Stadt Grasse.«

»Gut«, sagte Grenouille.

Und damit schloss er die Augen. Baldini richtete sich langsam auf. Er war sehr deprimiert. Er suchte seine Notizblätter zusammen, auf die er keine einzige Zeile geschrieben hatte, und blies die Kerze aus. Draußen tagte es schon. Er war hundemüde. Man hätte einen Priester kommen lassen sollen, dachte er. Dann machte er mit der Rechten ein flüchtiges Zeichen des Kreuzes und ging hinaus.Grenouille aber war alles andere als tot. Er schlief nur sehr fest und träumte tief und zog seine Säfte in sich zurück. Schon begannen die Bläschen auf seiner Haut zu verdorren, die Eiterkrater zu versiegen, schon begannen sich seine Wunden zu schließen. Im Verlauf einer Woche war er genesen.

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Am liebsten wäre er gleich weggegangen nach Süden, dorthin, wo man die neuen Techniken lernen konnte, von denen ihm der Alte gesprochen hatte. Aber daran war natürlich gar nicht zu denken. Er war ja nur ein Lehrling, das heißt ein Nichts. Strenggenommen, so erklärte ihm Baldini – nachdem er seine anfängliche Freude über Grenouilles Wiederauferstehung überwunden hatte – , strenggenommen war er noch weniger als ein Nichts, denn zum ordentlichen Lehrling gehörten tadellose, nämlich eheliche Abkunft, standesgemäße Verwandtschaft und ein Lehrvertrag, was er alles nicht besitze. Wenn er, Baldini, ihm dennoch eines Tages zum Gesellenbrief verhelfen wolle, so nur in Anbetracht von Grenouilles nicht alltäglicher Begabung, eines tadellosen künftigen Verhaltens und wegen seiner, Baldinis, unendlichen Gutherzigkeit, die er, auch wenn sie ihm oft zum Schaden gereicht habe, niemals verleugnen könne.

Es hatte freilich mit der Einlösung dieses Versprechens der Gutmütigkeit gute Weile, nämlich knappe drei Jahre. In dieser Zeit erfüllte sich Baldini mit Grenouilles Hilfe seine hochfliegenden Träume. Er gründete die Manufaktur im Faubourg Saint-Antoine, setzte sich mit seinen exklusiven Parfums bei Hofe durch, bekam königliches Privileg. Seine feinen Duftprodukte wurden bis nach Petersburg verkauft, bis nach Palermo, bis nach Kopenhagen. Eine moschusschwangere Note war sogar in Konstantinopel begehrt, wo man doch weiß Gott genug eigene Düfte besaß. In den feinen Kontoren der Londoner City duftete es ebenso nach Baldinis Parfums wie am Hofe von Parma, im Warschauer Schloss nicht anders als im Schlösschen des Grafen von und zur Lippe-Detmold. Baldini war, nachdem er sich bereits damit abgefunden hatte, sein Alter in bitterer Armut bei Messina zu verbringen, mit siebzig Jahren zum unumstritten größten Parfumeur Europas aufgestiegen und zu einem der reichsten Bürger von Paris.

Anfang des Jahres 1756 – er hatte sich unterdessen das Nebenhaus auf dem Pont au Change zugelegt, ausschließlich zum Wohnen, denn das alte Haus war nun buchstäblich bis unters Dach mit Duftstoffen und Spezereien vollgestopft – eröffnete er Grenouille, dass er nun gewillt sei, ihn freizusprechen, allerdings nur unter drei Bedingungen: Erstens dürfe er sämtliche unter Baldinis Dach entstandenen Parfums künftig weder selbst herstellen noch ihre Formel an Dritte weitergeben; zweitens müsse er Paris verlassen und dürfe es zu Baldinis Lebzeiten nicht wieder betreten; und drittens habe er über die beiden ersten Bedingungen absolutes Stillschweigen zu bewahren. Dies alles solle er beschwören bei sämtlichen Heiligen, bei der armen Seele seiner Mutter und bei seiner eigenen Ehre.

Grenouille, der weder eine Ehre hatte noch an Heilige oder gar an die arme Seele seiner Mutter glaubte, schwor. Er hätte alles geschworen. Er hätte jede Bedingung Baldinis akzeptiert, denn er wollte diesen lächerlichen Gesellenbrief haben, der es ihm ermöglichte, unauffällig zu leben und unbehelligt zu reisen und Anstellung zu finden. Das andere war ihm gleichgültig. Was waren das auch schon für Bedingungen! Paris nicht mehr betreten? Wozu brauchte er Paris! Er kannte es ja bis in den letzten stinkenden Winkel, er führte es mit sich, wohin immer er ging, er besaß Paris, seit Jahren. – Keinen von Baldinis Erfolgsdüften herstellen, keine Formeln weitergeben? Als ob er nicht tausend andere erfinden könnte, ebenso gute und bessere, wenn er nur wollte! Aber er wollte ja gar nicht. Er hatte ja gar nicht vor, in Konkurrenz zu Baldini oder zu irgendeinem anderen der bürgerlichen Parfumeure zu treten. Er war nicht darauf aus, mit seiner Kunst das große Geld zu machen, nicht einmal leben wollte er von ihr, wenn's anders möglich war zu leben. Er wollte seines Innern sich entäußern, nichts anderes, seines Innern, das er für wunderbarer hielt als alles, was die äußere Welt zu bieten hatte. Und deshalb waren Baldinis Bedingungen für Grenouille keine Bedingungen.

Im Frühjahr zog er los, an einem Tag im Mai, frühmorgens. Er hatte von Baldini einen kleinen Rucksack bekommen, ein zweites Hemd, zwei Paar Strümpfe, eine große Wurst, eine Pferdedecke und fünfundzwanzig Franc. Das sei weit mehr, als er zu geben verpflichtet sei, sagte Baldini, zumal Grenouille für die profunde Ausbildung, die er genossen, keinen Sol Lehrgeld bezahlt habe. Verpflichtet sei er zu zwei Franc Weggeld, zu sonst gar nichts. Aber er könne eben seine Gutmütigkeit so wenig verleugnen wie die tiefe Sympathie, die sich im Lauf der Jahre in seinem Herzen für den guten Jean-Baptiste angesammelt habe. Er wünsche ihm viel Glück auf seiner Wanderschaft und ermahne ihn noch einmal eindringlich, seines Schwurs nicht zu vergessen. Damit brachte er ihn an die Tür des Dienstboteneingangs, wo er ihn einst empfangen hatte, und entließ ihn.

Die Hand gab er ihm nicht, so weit war es mit der Sympathie auch wieder nicht her. Er hatte ihm noch nie die Hand gegeben. Er hatte überhaupt immer vermieden, ihn zu berühren, aus einer Art frommem Ekel, so, als bestünde die Gefahr, dass er sich anstecke an ihm, sich besudele. Er sagte nur kurz adieu. Und Grenouille nickte und duckte sich weg und ging davon. Die Straße war menschenleer.

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Baldini schaute ihm nach, wie er die Brücke hinunterhatschte, zur Insel hinüber, klein, gebückt, den Rucksack wie einen Buckel tragend, von hinten aussehend wie ein alter Mann. Drüben am Parlamentspalast, wo die Gasse eine Biegung machte, verlor er ihn aus den Augen und war außerordentlich erleichtert.

Er hatte den Kerl nie gemocht, nie, jetzt konnte er es sich endlich eingestehen. Die ganze Zeit, die er ihn unter seinem Dach beherbergt und ausgeplündert hatte, war ihm nicht wohl gewesen. Ihm war zumute gewesen wie einem unbescholtenen Menschen, der zum ersten Mal etwas Verbotenes tut, ein Spiel mit unerlaubten Mitteln spielt. Gewiss, das Risiko, dass man ihm auf die Schliche kam, war klein und die Aussicht auf den Erfolg war riesengroß gewesen; aber ebenso groß waren auch Nervosität und schlechtes Gewissen. Tatsächlich war in all den Jahren kein Tag vergangen, an dem er nicht von der unangenehmen Vorstellung verfolgt gewesen wäre, er müsse auf irgendeine Weise dafür bezahlen, dass er sich mit diesem Menschen eingelassen hatte. Wenn's nur gutgeht! so hatte er sich immer wieder ängstlich vorgebetet, wenn's mir nur gelingt, dass ich den Erfolg dieses gewagten Abenteuers einheimse, ohne die Zeche dafür zu bezahlen! Wenn's mir nur gelingt! Es ist zwar nicht recht, was ich tue, aber Gott wird ein Auge zudrücken, bestimmt wird Er es tun! Er hat mich im Verlaufe meines Lebens oftmals hart genug gestraft, ohne jeden Anlass, also wäre es nur gerecht, wenn Er sich dies mal konziliant verhielte. Worin besteht denn mein Vergehen schon, wenn es überhaupt eines ist? Höchstens darin, dass ich mich ein wenig außerhalb der Zunftordnung bewege, indem ich die wunderbare Begabung eines Ungelernten exploitiere und seine Fähigkeit als meine eigne ausgebe. Höchstens darin, dass ich um ein Kleines vom traditionellen Pfad der handwerklichen Tugend abgewichen bin. Höchstens darin, dass ich heute tue, was ich gestern noch verdammt habe. Ist das ein Verbrechen? Andere betrügen ihr Leben lang. Ich habe nur ein paar Jahre ein bisschen geschummelt. Und auch nur, weil mir der Zufall die einmalige Gelegenheit dazu gegeben hat. Vielleicht war es nicht einmal der Zufall, vielleicht war es Gott selbst, der mir den Zauberer ins Haus geschickt hat, zur Wiedergutmachung für die Zeit der Erniedrigung durch Pelissier und seine Spießgesellen. Vielleicht richtet sich die göttliche Fügung überhaupt nicht auf mich, sondern gegen Pelissier! Das könnte sehr wohl möglich sein! Wie anders nämlich wäre Gott imstande, Pelissier zu strafen, als dadurch, dass er mich erhöhte? Mein Glück wäre infolgedessen das Mittel göttlicher Gerechtigkeit, und als solches dürfte ich nicht nur, ich müsste es akzeptieren, ohne Scham und ohne die geringste Reue…

So hatte Baldini in den vergangenen Jahren oft gedacht, morgens, wenn er die schmale Treppe in den Laden hinunterstieg, abends, wenn er mit dem Inhalt der Kasse heraufkam und die schweren Gold- und Silbermünzen in seinen Geldschrank zählte, und nachts, wenn er neben dem schnarchenden Gerippe seiner Frau lag und aus lauter Angst vor seinem Glück nicht schlafen konnte.

Aber jetzt, endlich, war es vorbei mit den sinistren Gedanken. Der unheimliche Gast war fort und würde nie mehr wiederkehren. Der Reichtum aber blieb und war für alle Zukunft sicher. Baldini legte die Hand auf seine Brust und spürte durch den Stoff des Rocks das Büchlein über seinem Herzen. Sechshundert Formeln waren darin aufgezeichnet, mehr als ganze Generationen von Parfumeuren jemals würden realisieren können. Wenn er heute alles verlöre, so könnte er allein mit diesem wunderbaren Büchlein binnen Jahresfrist abermals ein reicher Mann sein. Wahrlich, was konnte er mehr verlangen!

Die Morgensonne fiel über die Giebel der gegenüberliegenden Häuser gelb und warm auf sein Gesicht. Immer noch schaute Baldini nach Süden die Straße hinunter in Richtung Parlamentspalastes war einfach zu angenehm, dass von Grenouille nichts mehr zu sehen war! – und beschloss, aus einem überbordenden Gefühl von Dankbarkeit noch heute nach Notre-Dame hinüberzupilgern, ein Goldstück in den Opferstock zu werfen, drei Kerzen anzuzünden und seinem Herrn auf den Knien zu danken, dass Er ihn mit so viel Glück überhäuft und vor Rache verschont hatte.

Aber dummerweise kam ihm dann wieder etwas dazwischen, denn am Nachmittag, als er sich gerade auf den Weg in die Kirche machen wollte, wurde das Gerücht laut, die Engländer hätten Frankreich den Krieg erklärt. Das war zwar an und für sich nichts Beunruhigendes. Da Baldini aber just dieser Tage eine Sendung mit Parfums nach London expedieren wollte, verschob er den Besuch in Notre-Dame und ging stattdessen in die Stadt, um Erkundigungen einzuholen, und anschließend in seine Manufaktur im Faubourg Saint-Antoine, um die Sendung nach London fürs erste zu stornieren. Nachts im Bett, kurz vor dem Einschlafen, hatte er dann eine geniale Idee: Er wollte in Anbetracht der bevorstehenden kriegerischen Auseinandersetzungen um die Kolonien in der Neuen Welt ein Parfum lancieren unter dem Namen >Prestige du Quebecs einen harzigheroischen Duft, dessen Erfolg – das stand fest – ihn für den Wegfall des Englandgeschäfts mehr als entschädigen würde. Mit diesem süßen Gedanken in seinem dummen alten Kopf, den er erleichtert auf das Kissen bettete, unter welchem sich der Druck des Formelbüchleins angenehm spürbar machte, entschlief Maitre Baldini und wachte in seinem Leben nicht mehr auf.

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