»Ja, aber -«
»Wenn du doch noch eingewilligt hättest, Riverside Estates zu besuchen, hättest du sie garantiert nach dem nächsten Besuch wiedergefunden… oder sie hätte sie gefunden, was wahrscheinlicher ist. Nur ein glücklicher Zufall - >Oh, Mutter Lois, sieh mal, was ich gefunden habe!< Unter dem Waschbecken im Bad, in einem Schrank oder in einer dunklen Ecke.«
»Ja.« Jetzt sah sie ihm fasziniert ins Gesicht, fast hypnotisiert. »Sie muß sich schrecklich fühlen… und sie wird nicht wagen, sie zurückzubringen, oder? Nicht nach allem, was ich gesagt habe. Ralph, woher wußtest du das?«
»Aus demselben Grund, weshalb du es gewußt hast. Wie lange siehst du die Auren schon, Lois?«
»Auren? Ich weiß nicht, was du meinst.« Aber sie wußte es, das sah Ralph ihr an.
»Litchfield hat deinem Sohn von der Schlaflosigkeit erzahlt, aber ich bezweifle, ob das allein ausgereicht hätte, daß Litchfield… du weißt schon, petzt. Das andere - das er, wie du sagst, Probleme mit der Sinneswahmehmung genannt hat -habe ich gar nicht mitbekommen. Ich war so betroffen, jemand könnte dich für vorzeitig senil halten, daß es mir gar nicht aufgefallen ist, obwohl ich selbst in letzter Zeit auch Probleme mit meiner Wahrnehmung habe.«
»Du!«
»Ja, Ma’am. Vor einer Weile hast du etwas Interessantes gesagt. Du hast gesagt, du hättest Janet auf eine wirklich interessante Weise gesehen. Auf eine furchteinflößende Weise. Du könntest dich nicht erinnern, was du gesagt hast, bevor die beiden gegangen sind, aber du wüßtest genau, wie du dich gefühlt hast. Du siehst den anderen Teil der Welt. Den Rest der Welt. Umrisse um die Dinge, Umrisse in den Dingen, Geräusche innerhalb von Geräuschen. Ich nenne es die Welt der Auren, und die erlebst du auch. Ist es nicht so, Lois?«
Sie sah ihn einen Moment schweigend an, dann schlug sie die Hände vor das Gesicht. »Ich dachte, ich würde den Verstand verlieren«, sagte sie, und dann sagte sie es noch einmal: »O Ralph, ich dachte, ich würde den Verstand verlieren.«
Er umarmte sie, dann ließ er sie los und hob ihr Kinn hoch. »Keine Tränen mehr«, sagte er. »Ich habe kein zweites Taschentuch dabei.«
»Keine Tränen mehr«, stimmte sie zu, aber ihre Augen funkelten schon wieder feucht. »Ralph, wenn du nur wüßtest, wie schrecklich es gewesen ist -«
»Das weiß ich.«
Sie lächelte strahlend. »Ja, das weißt du, oder nicht?«
»Dieser Idiot Litchfield ist nicht nur wegen der Schlaflosigkeit auf die Idee gekommen, daß du senil wirst - wahrscheinlich hat er auch mehr an die Alzheimersche gedacht -, sondern wegen etwas anderem… das er für Halluzinationen gehalten hat. Richtig?«
»Kann sein, aber davon hat er damals nichts gesagt. Als ich ihm erzählte, was ich gesehen hatte - die Farben und alles -, schien er ausgesprochen verständnisvoll zu sein.« »Hm-hmm, und kaum hast du sein Sprechzimmer verlassen gehabt, hat er deinen Sohn angerufen und ihm gesagt, er soll schleunigst nach Derry kommen und etwas wegen seiner alten Mom unternehmen, die die Leute in bunten Hüllen und mit langen Ballonschnüren sieht, die von ihren Köpfen emporschweben.«
»Die siehst du auch? Ralph, die siehst du auch?«
»Ich auch«, sagte er und lachte. Es hörte sich ein klein wenig irre an, aber das überraschte ihn nicht. Er wollte ihr hundert Fragen stellen; er fühlte sich rasend vor Ungeduld. Und da war noch etwas, etwas so Unerwartetes, daß er es zuerst überhaupt nicht hatte identifizieren können: er war geil. Nicht nur interessiert; richtig geil.
Lois weinte wieder. Ihre Tränen hatten die Farbe von Nebel über einem stillen See, und sie rauchten ein wenig, wenn sie ihre Wangen hinabliefen. Ralph wußte, sie würden dunkel und moosig schmecken, wie eingerollte Farntriebe im Frühling.
»Ralph… das… das ist… herrje!«
»Größer als Michael Jackson in der Superbowl, was?«
Sie lachte kläglich. »Nun, nur… du weißt schon, nur ein bißchen.«
»Es gibt einen Namen für das, was mit uns passiert, Lois, und das ist nicht Schlaflosigkeit oder Senilität oder die Alzheimersche Krankheit. Es heißt Hyperrealität.«
»Hyperrealität«, murmelte sie. »Herrgott, was für ein exotisches Wort.«
»Ja, das ist es. Ein Apotheker unten im Rite Aid, Joe Wyzer, hat es mir gesagt. Aber es ist viel mehr dran, als er wußte. Mehr als jeder bei klarem Verstand ahnen würde.«
»Ja, wie Telepathie… das heißt, wenn es wirklich passiert. Ralph, sind wir noch bei Verstand?«
»Hat deine Schwiegertochter deine Ohrringe genommen?«
»Ich… sie… ja.« Lois richtete sich auf. »Ja, das hat sie.«
»Kein Zweifel?«
»Nein.« »Dann hast du dir deine Frage selbst beantwortet. Wir sind bei Verstand… aber ich glaube, was die Telepathie betrifft, irrst du dich. Wir lesen nicht Gedanken, sondern Auren. Hör zu, Lois, ich möchte dir alle möglichen Fragen stellen, aber ich glaube, du weißt, daß es nur eines gibt, was du wirklich wissen mußt. Hast du auch schon gesehen -« Er verstummte unvermittelt und fragte sich, ob er wirklich aussprechen sollte, was ihm auf der Zunge lag.
»Ob ich was gesehen habe?«
»Okay. Das wird sich verrückter anhören als alles, was du mir gesagt hast, aber ich bin nicht verrückt. Glaubst du das? Ich bin es nicht.«
»Ich glaube dir«, sagte sie nur, und Ralph spürte, wie ihm eine große Last von der Seele genommen wurde. Sie sagte die Wahrheit. Keine Frage; ihr Glaube leuchtete rings um sie herum auf.
»Okay, hör mir zu. Hast du, seit es bei dir angefangen hat, gewisse Leute gesehen, die nicht aussehen, als hätten sie etwas in der Harris Avenue verloren? Leute, die aussehen, als gehörten sie gar nicht in die normale Welt?«
Lois sah ihn verwirrt und verständnislos an.
»Sie sind kahlköpfig, sie sind sehr klein, sie tragen weiße Kittel und sehen fast wie Zeichnungen von Außerirdischen aus, die man manchmal auf Seite eins der Regenbogenpresse sieht, wie sie sie im Red Apple verkaufen. Die hast du nicht zufällig gesehen, wenn du deine Anfälle von Hyperrealität gehabt hast?«
»Nein, niemanden.«
Er schlug sich frustriert mit der Faust auf den Oberschenkel, dachte einen Moment nach, dann sah er wieder auf. »Montag morgen«, sagte er. »Bevor die Polizei bei Mrs. Locher gewesen ist… hast du mich da gesehen?«
Lois nickte sehr bedächtig mit dem Kopf. Ihre Aura war ein wenig dunkler geworden, scharlachrote Spiralen, so dünn wie Fäden, kreisten langsam in einer Diagonalen darin.
»Dann könnte ich mir denken, daß du eine ziemlich gute Vorstellung davon hast, wer die Polizei angerufen hat«, sagte Ralph. »Oder nicht?« »Oh, ich weiß, daß du es warst«, sagte Lois mit leiser Stimme. »Ich hatte es die ganze Zeit vermutet, aber bis jetzt war ich mir nicht sicher. Bis ich es… du weißt schon, in deinen Farben gesehen habe.«
In meinen Farben, dachte er. So hatte Ed sie auch genannt.
»Aber du hast nicht zwei Miniaturversionen von Meister Proper aus ihrem Haus kommen sehen?«
»Nein«, sagte sie, »aber das hat nichts zu sagen, weil ich nicht einmal Mrs. Lochers Haus von meinem Schlafzimmerfenster aus sehen kann. Das Dach des Red Apple ist im Weg.«
Ralph verschränkte die Hände auf dem Kopf. Natürlich, das hätte er wissen müssen.
»Ich dachte mir, daß du die Polizei gerufen haben mußtest, weil ich, kurz bevor ich duschen ging, gesehen habe, wie du etwas mit einem Fernglas beobachtet hast. Das habe ich dich noch nie tun sehen, dachte mir aber, vielleicht wolltest du dir nur den streunenden Hund genauer ansehen, der donnerstagmorgens die Mülleimer plündert.« Sie deutete den Hügel hinab. »Den da.«
Ralph grinste. »Das ist kein Er, das ist die prächtige Rosalie.«
»Oh. Wie auch immer, ich war ziemlich lange unter der Dusche, weil ich eine spezielle Spülung für mein Haar nehme. Keine Tönung«, sagte sie schneidend, als hätte er ihr das vorgeworfen, »nur Proteine und etwas, das angeblich die Locken etwas fester macht. Als ich herauskam, war überall Polizei. Ich habe einmal zu deinem Haus gesehen, konnte dich aber nicht mehr erkennen. Entweder warst du in ein anderes Zimmer gegangen oder hattest dich in deinem Sessel zurückgelehnt. Das machst du manchmal.«