PROLOG
Die Todesuhr wird aufgezogen (I)
Alter ist eine vom Tod umgebene Insel.
Jüan Montalvo Über die Schönheit
Niemand - am allerwenigsten Dr. Litchfield - sagte Ralph Roberts frei heraus, daß seine Frau sterben würde, aber die Zeit kam, da begriff es Ralph, ohne daß sie es ihm sagen mußten. Die Monate zwischen März und Juni waren eine nervenaufreibende, hektische Zeit in seinem Kopf - eine Zeit von Besprechungen mit Ärzten, von abendlichen Krankenhausbesuchen mit Carolyn, von Reisen zu anderen Krankenhäusern in anderen Staaten, um spezielle Tests durchzuführen (Ralph verbrachte einen Großteil dieser Reisen damit, daß er Gott für Carolyns Blue Cross/Major Medical-Krankenversicherung dankte), von persönlichen Recherchen in der öffentlichen Bibliothek von Derry, wo er zuerst nach Lösungen, die die Spezialisten übersehen haben könnten, und später nur noch nach Hoffnung suchte und sich an Strohhalme klammerte.
Diese vier Monate waren, als würde er betrunken durch einen bösen Jahrmarkt geschleppt werden, wo die Leute auf den Karussells wirklich schrien, wo sich die Leute wirklich im Spiegellabyrinth verirrten und die Einwohner der Freak Alley einen mit falschem Lächeln in den Gesichtern und Entsetzen in den Augen ansahen. Ralph sah das alles Mitte Mai, und als der Juni kam, war ihm klar geworden, daß die Werfer entlang der medizinischen Mittellinie nur Quacksalbereien zu verkaufen hatten, und der fröhliche Quickstep der Drehorgel konnte nicht mehr über die Tatsache hinwegtäuschen, daß die Melodie, die aus den Lautsprechern drang, der Trauermarsch war. Es war ein Jahrmarkt, durchaus; der Jahrmarkt der verlorenen Seelen.
Ralph verdrängte diese gräßlichen Bilder - und die noch gräßlichere Schlußfolgerung, die hinter ihnen lauerte - den ganzen Frühsommer des Jahres 1992 hindurch, aber als der Juni in den Juli überging, wurde das schließlich unmöglich.
Die schlimmste Sommerhitze welle seit 1971 rollte über das mittlere Maine hinweg, und Derry simmerte in Hitzeflimmern, Luftfeuchtigkeit und Tagestemperaturen um die fünfunddreißig Grad vor sich hin. Die Stadt - schon unter günstigsten Bedingungen nicht gerade eine überschäumende Metropole -verfiel in völlige Lethargie, und in dieser drückenden Stille hörte Ralph Roberts zum erstenmal das Ticken der Todesuhr und begriff, daß beim Übergang des kühlen, tiefen Grüns des Juni in die brütende Hitze des Juli Carolyns Chancen auf Null gesunken waren. Sie würde sterben. Wahrscheinlich nicht diesen Sommer - die Ärzte behaupteten, daß sie noch ein paar Asse im Ärmel hätten, und Ralph war überzeugt, daß das stimmte -, aber diesen Herbst oder Winter. Seine langjährige Lebensgefährtin, die einzige Frau, die er jemals geliebt hatte, würde sterben. Er versuchte, den Gedanken zu verdrängen, und schalt sich einen morbiden alten Narren, aber im resignierten Schweigen der heißen Tage hörte Ralph das Ticken überall - es schien sogar in den Wänden zu sein.
Am lautesten ertönte es aber aus Carolyn selbst, und wenn sie ihm das gelassene, blasse Gesicht zuwandte - um ihn zu bitten, das Radio einzuschalten, damit sie zuhören konnte, während sie Bohnen fürs Essen schälte, oder ins Red Apple zu gehen und ihr ein Eis am Stiel zu kaufen -, konnte er sehen, daß sie es auch hörte. Er sah es in ihren dunklen Augen, anfangs nur, wenn sie klar war, aber später auch wenn ihre Augen von den Schmerzmitteln umwölkt waren, die sie bekam. Da war das Ticken schon sehr laut geworden, und wenn Ralph in den heißen Sommernächten, da selbst ein einziges Laken zehn Pfund zu wiegen schien und er glaubte, daß jeder einzelne Hund in Derry den Mond anheulte, neben ihr im Bett lag, da lauschte er ihm, dem Ticken der Todesuhr in Carolyn, und ihm schien, als müßte sein Herz vor Kummer und Angst zerspringen. Wieviel würde sie leiden müssen, bevor das Ende kam? Wieviel würde er leiden müssen? Und wie sollte er nur ohne sie leben können?
Während dieser seltsamen, kummervollen Zeit begann Ralph auch in den heißen Sommernachmittagen und langen dämmerigen Abenden zunehmend längere Spaziergänge zu machen und kam manchmal so erschöpft zurück, daß er nicht einmal mehr essen konnte. Er rechnete damit, daß Carolyn ihn wegen dieser Ausflüge beschimpfen würde, daß sie sagen würde: Warum läßt du das nicht bleiben, du dummer alter Mann? Du wirst dich umbringen, wenn du weiter bei dieser Hitze spazierengehst! Aber sie sagte nie etwas, und allmählich erst ging ihm auf, daß sie es nicht einmal wußte. Daß er ausging - ja, das wußte sie. Aber nichts von den vielen Meilen, die er zu Fuß ging, und auch nicht, daß er häufig vor Erschöpfung zitterte und einem Hitzschlag nahe war, wenn er nach Hause kam. Früher hatte Ralph immer geglaubt, sie würde alles sehen, selbst wenn er seinen Scheitel einen Zentimeter versetzt trug. Jetzt nicht mehr; der Tumor in ihrem Gehirn hatte ihr die Beobachtungsgabe gestohlen, wie er bald ihr Leben stehlen würde.
Und so ging er spazieren und genoß die Hitze, obwohl ihm manchmal schwindlig wurde und seine Ohren klingelten, er genoß sie, gerade weil sie seine Ohren zum Klingeln brachte; manchmal klingelten sie stundenlang so laut, und seine Kopfschmerzen pochten so heftig, daß er das Ticken von Carolyns Todesuhr nicht mehr hören konnte.
Er wanderte in diesem heißen Juli fast durch ganz Derry, ein alter Mann mit schmalen Schultern und schütterem weißen Haar und großen Händen, die immer noch aussahen, als wären sie zu harter Arbeit fähig. Er ging von der Witcham Street bis zu den Barrens, von der Kansas Street bis zur Neibolt Street, von der Main Street bis zur Kissing Bridge, aber am häufigsten trugen ihn seine Füße die Harris Avenue entlang nach Westen, wo die immer noch wunderschöne und heißgeliebte Carolyn Roberts ihr letztes Jahr in einem Nebel von Kopfschmerzen und Morphium verbrachte, zur Harris Avenue Extension und dem Derry County Airport. Er ging die Extension entlang - die baumlos und damit der unbarmherzigen Sonne völlig ausgeliefert war -, bis er spürte, wie seine Knie weich wurden, dann erst kehrte er um.
Er verweilte oft an einem schattigen Picknickplatz in der Nähe des Flughafeneingangs, um wieder zu Puste zu kommen. Nachts war dies ein Teenagertreffpunkt für Liebesspiele und zum Trinken, wo Rap aus Ghettoblastern dröhnte, aber tagsüber gehörte der Platz fast ausschließlich einer Gruppe von Ralphs Freunden, die Bill McGovern immer die »Harris Avenue Altvorderen« nannte. Die Altvorderen trafen sich zum Schachspielen, zum Rommespielen oder einfach nur zum Quasseln. Ralph kannte viele seit Jahren (mit Stan Eberly war er sogar in die Grundschule gegangen) und fühlte sich wohl bei ihnen… solange sie nicht zu naseweis wurden. Die meisten wurden es nicht. Sie waren zum überwiegenden Teil Yankees von altem Schrot und Korn, die in dem Glauben aufgezogen worden waren: Worüber ein Mann nicht sprechen will, das geht nur ihn etwas an.
Bei einem dieser Spaziergänge fiel ihm zu erstenmal auf, daß mit Ed Deepneau, einem Nachbarn aus seiner Straße, etwas nicht stimmte.
Ralph war an diesem Tag viel weiter die Harris Avenue Extension entlanggegangen, was möglicherweise daran lag, daß Gewitterwolken die Sonne verdeckten und eine kühle, wenn auch sporadische Brise zu wehen angefangen hatte. Er war in eine Art Trance gefallen, hatte an nichts gedacht, nichts gesehen außer den staubigen Spitzen seiner Converse-Turnschuhe, als die United-Airlines-Maschine 16:45 von Boston dicht über ihm dahinflog und ihn mit dem vibrierenden, markerschütternden Heulen ihrer Jetturbinen in die Wirklichkeit zurückholte.
Er sah der Maschine nach, wie sie über die alten Eisenbahnschienen von GS&WM und den Sturmzaun flog, der die Grenze des Flughafengeländes umgab, sah sie der Landebahn entgegensinken, sah die blauen Rauchwölkchen, als die Reifen aufsetzten. Dann schaute er auf die Uhr, stellte fest, wie spät es geworden war, und betrachtete mit großen Augen das orangefarbene Dach des Howard Johnson’s an der Straße. Er war tatsächlich in einer Trance gewesen; er hatte fünf Meilen zurückgelegt und nicht das geringste Gefühl dafür gehabt, wie die Zeit verging.