Lois lächelte. »Danke, Ralph.«
»Gern geschehen.«
»Ich nehme an, du kannst dir denken, wie es weitergegangen ist, oder nicht? Jan sagte: >Du solltest wirklich besser achtgeben, Mutter Lois, aber Dr. Litchfield meint, du bist jetzt in einem Alter, wo du nicht mehr besser achtgeben kannst, und darum haben wir an Riverview Estates gedacht. Entschuldige, wenn wir dir auf die Füße getreten sind, aber es schien wichtig zu sein, rasch zu handeln. Und jetzt siehst du ja selbst, warum.<«
Ralph sah auf. Der Himmel über ihm bildete einen Wasserfall grün-blauen Feuers mit Wolken, die wie Luftschiffe aus Chrom aussahen. Er schaute den Hügel hinunter und sah Rosalie immer noch zwischen den Port-O-Sans liegen. Die dunkelgraue Ballonschnur stieg von ihrer Schnauze empor und wehte in der kühlen Oktoberbrise.
»Da wurde ich richtig wütend -« Sie verstummte und lächelte. Ralph dachte, daß es heute ihr erstes Lächeln war, das richtige Heiterkeit ausdrückte, und nicht ein unangenehmeres und komplizierteres Gefühl. »Nein - das stimmt nicht. Ich wurde mehr als nur wütend. Wenn mein Großneffe hier gewesen wäre, hätte er gesagt: >Nana ist explodierte«
Ralph lachte, und Lois lachte mit ihm, aber ihre Hälfte des Duetts hörte sich ein wenig gezwungen an.
»Am meisten erbost mich, daß Janet es gewußt hat«, sagte sie. »Sie wollte, daß ich explodiere, glaube ich, weil sie wußte, wie schuldig ich mich später fühlen würde. Und weiß Gott, so ist es. Ich schrie sie an, sie sollten verschwinden. Harold hat ausgesehen, als wollte er im Boden versinken - er war immer verlegen, wenn er angeschrien wurde -, aber Jan saß nur mit im Schoß gefalteten Händen da, lächelte und nickte sogar mit dem Kopf, als wollte sie sagen: >Ganz recht, Mutter Lois, schaff ruhig das ganze Gift aus deinem Körper, und wenn du fertig bist, kann man vielleicht wieder vernünftig mit dir reden.<«
Lois holte tief Luft.
»Dann geschah etwas. Ich bin nicht sicher, was es war. Es war auch nicht das erstemal, aber diesmal war es am schlimmsten. Ich fürchte, es war eine Art… nun… eine Art Anfall. Wie auch immer, ich sah Janet in einer wirklich seltsamen Weise… einer beängstigenden Weise. Und ich sagte etwas, das ihr richtig zusetzte. Ich kann mich nicht erinnern, was es war, und ich bin nicht sicher, ob ich es wissen will, aber auf jeden Fall verschwand das süße Lächeln, das ich so sehr verabscheue, von ihrem Gesicht. Sie hat Harold förmlich hinausgezerrt. Ich weiß nur noch, daß sie sagte, einer von ihnen würde mich wieder anrufen, wenn ich nicht mehr so hysterisch wäre, daß ich den Menschen, die mich lieben, häßliche Dinge an den Kopf werfen würde.
Ich blieb eine Weile, nachdem sie gegangen waren, im Haus, und dann kam ich hierher und setzte mich in den Park. Manchmal geht es mir besser, wenn ich einfach nur in der Sonne sitze. Ich nahm im Red Apple einen Imbiß zu mir, und da hörte ich, daß du dich mit Bill gestritten hast. Was meinst du, seid ihr wirklich wütend aufeinander?«
Ralph schüttelte den Kopf. »Nee - wir bringen das wieder ins reine. Ich mag Bill wirklich, aber -«
»- aber man muß bei ihm vorsichtig sein, was man sagt«, beendete sie den Satz. »Darf ich außerdem hinzufügen, Ralph, daß man das, was er zu einem sagt, nicht allzu ernst nehmen darf?«
Diesmal drückte Ralph ihre Hand. »Das könnte auch für dich ein guter Rat sein, Lois - du solltest das, was heute morgen passiert ist, nicht allzu ernst nehmen.«
Sie seufzte. »Vielleicht, aber das fällt mir schwer. Zuletzt habe ich ein paar schreckliche Sachen gesagt, Ralph. Schreckliche. Ein Teil von mir wünscht sich, ich könnte mich erinnern, was ich gesagt habe, damit dieses schreckliche Lächeln verschwindet, aber der Rest von mir - der größte Teil - ist dankbar, daß ich es nicht kann.«
Ein Regenbogen der Erkenntnis warf plötzlich einen leuchtenden Schein über den Vordergrund von Ralphs Bewußtsein. In seinem Leuchten sah er etwas Riesiges, so riesig, daß es unzweifelhaft und vorherbestimmt wirkte. Er sah Lois zum erstenmal, seit ihm die Auren erschienen waren… oder er sie wieder wahrnahm… richtig an. Sie saß in einer Kapsel durchscheinenden grauen Lichts so hell wie Nebel an einem Sommermorgen, der sonnig werden wird. Es verwandelte das Geschöpf, das Bill McGovern »unsere Lois« nannte, in ein Geschöpf großer Würde… und fast unerträglicher Schönheit.
Sie sieht aus wie Eos, dachte er. Die Göttin der Morgenröte.
Lois rutschte nervös auf der Bank hin und her. »Ralph? Warum siehst du mich so an?«
Weil du wunderschön bist, und weil ich mich in dich verliebt habe, dachte Ralph erstaunt. Im Augenblick liebe ich dich so sehr, daß ich glaube, ich ertrinke, und das Sterben ist schön.
»Weil du dich genau daran erinnerst, was du gesagt hast.«
Sie spielte wieder nervös mit dem Verschluß ihrer Handtasche. »Nein, ich -«
»O doch. Du hast deiner Schwiegertochter gesagt, daß sie deine Ohrringe weggenommen hat. Sie hat es getan, weil sie gemerkt hat, daß du nicht nachgeben und mit ihnen kommen würdest, und wenn sie nicht bekommt, was sie will, macht es deine Schwiegertochter verrückt… dann explodiert sie. Sie hat es getan, weil du ihr auf die Nerven gegangen bist. Kommt das nicht ungefähr hin?«
Lois sah ihn mit runden, ängstlichen Augen an. »Woher weißt du das, Ralph? Woher kannst du das über sie wissen?«
»Ich weiß es, weil du es weißt, und du weißt es, weil du es gesehen hast.«
»O nein«, flüsterte sie. »Nein, ich habe nichts gesehen. Ich war die ganze Zeit mit Harold in der Küche.«
»Nicht da, nicht als sie es getan hat, sondern als sie wiederkam. Du hast es in ihr und um sie herum gesehen.«
So wie er jetzt Harold Chasses Frau in Lois sah, als wäre die Frau, die neben ihm saß, eine optische Linse geworden. Janet Chasse war groß, hatte helle Haut und eine lange Taille. Auf den Wangen hatte sie Sommersprossen, die sie mit Make-up überdeckte, und ihr Haar war von einem lebhaften Rot mit einer Spur Ingwer. Heute morgen war sie nach Derry gekommen, und dieses sagenhafte Haar hing als breiter geflochtener Zopf wie Kupferdraht auf ihre Schulter. Was wußte er sonst noch von dieser Frau, die er nie kennengelernt hatte?
Alles, alles.
Sie überdeckt ihre Sommersprossen mit Schminke, weil sie findet, daß sie kindlich damit aussieht; daß die Leute Frauen mit Sommersprossen nicht ernst nehmen. Ihre Beine sind wunderschön, und das weiß sie. Sie trägt kurze Röcke zur Arbeit, aber als sie heute gekommen ist, um (die alte Kuh) Mutter Lois zu besuchen, trug sie einen Wollpullover und ein Paar alte Jeans. Mausgraues Derry-Kostüm. Ihre Periode ist überfällig. Sie hat den Abschnitt ihres Lebens erreicht, wo sie nicht mehr regelmäßig wie ein Uhrwerk kommt, und in den nervösen zwei oder drei Tagen, die sie jeden Monat ertragen muß, einem Zeitraum, wo die ganze Welt aus Glas und jedermann entweder dumm oder gemein zu sein scheint, sind ihr Verhalten und ihre Stimmung launisch geworden. Wahrscheinlich ist das der wahre Grund, weshalb sie es getan hat.
Ralph sah sie aus Lois winzigem Badezimmer kommen. Sah sie einen stechenden, wütenden Blick zur Küchentür werfen -jetzt war nichts mehr von dem süßen Unschuldslächeln in dem schmalen, durchdringenden Gesicht zu sehen -, und dann die Ohrringe von dem Porzellanteller nehmen. Sah, wie sie sie in die linke vordere Tasche ihrer Jeans steckte.
Nein, Lois hatte diesen kleinen, häßlichen Diebstahl tatsächlich nicht gesehen, aber er hatte die Aura von Jan Chasse von der blassen hellgrünen Farbe in ein komplexes, vielschichtiges Muster aus Braun-und Rottönen verwandelt, das Lois gesehen und wahrscheinlich augenblicklich verstanden hatte, wahrscheinlich ohne die geringste Ahnung, was tatsächlich mit ihr geschah.
»Ja, sie hat sie genommen«, sagte Ralph. Er konnte sehen, wie grauer Nebel verträumt über die Pupillen von Lois’ aufgerissenen Augen driftete. Er hätte sie den Rest des Tages ansehen können.