Er sah wieder über die Straße zu der Stelle, der Rosalies Aufmerksamkeit zu gelten schien, und konnte wieder nur die Wäscherei und den menschenleeren Bürgersteig davor erkennen. Dann fiel ihm plötzlich Natalie ein, das Verherrlichte
& Angebetete Baby, das nach den grau-blauen Spuren seiner Finger griff, als er ihm die Milch vom Kinn wischen wollte. Für jeden anderen mußte es ausgesehen haben, als hätte sie ins Leere gegriffen, so wie Babys immer ins Leere zu greifen schienen… aber Ralph hatte es besser gewußt.
Er hatte es besser gesehen.
Rosalie stieß eine Kette panischer Kläfflaute aus, die sich für Ralphs Ohren wie das Quietschen ungeölter Scharniere anhörten.
Bis jetzt ist es immer von selbst passiert… aber vielleicht kann ich es herbeiführen. Vielleicht kann ich bewirken, daß ich sie sehe—
Daß du was siehst?
Nun, die Auren. Die Auren natürlich. Und vielleicht das, was Rosalie (drei-sechs-neun) gerade sah. Ralph hatte schon eine Ahnung, (die Gans trank Wein) was es sein würde, aber er wollte Gewißheit. Die Frage war, wie er es anstellen sollte.
Wie sieht ein Mensch überhaupt?
Natürlich indem er erstmal genau hinsieht.
Ralph sah genau zu Rosalie hin. Betrachtete sie sehr sorgfältig und versuchte, alles zu sehen, was es zu sehen gab: das verblichene Muster des blauen Tuchs, das ihr als Halsband diente, die staubigen und verfilzten Strähnen in ihrem ungepflegten Fell, die graumelierte lange Schnauze. Nach einigen Augenblicken schien sie seinen Blick zu spüren, denn sie drehte sich um, sah ihn an und winselte nervös.
Dabei spürte Ralph, wie sich in seinem Geist etwas drehte es fühlte sich wie der Anlasser eines Autos an. Er hatte das kurze, aber sehr eindeutige Gefühl, plötzlich leichter zu sein, und dann strömte Helligkeit in den Tag ein. Er hatte den Weg zurück in die klarere, deutlicher strukturierte Welt gefunden. Er sah eine trübe Membran - sie erinnerte ihn an verdorbenes Eiweiß - um Rosalie herum entstehen, dann die dunkelgraue Ballonschnur, die von ihr aufstieg. Aber ihr Ursprung war nicht der Schädel, wie bei den Menschen, die Ralph in diesem Zustand erweiterter Wahrnehmung gesehen hatte; Rosalies Ballonschnur stieg von ihrer Schnauze auf.
Jetzt kennst du den grundlegendsten Unterschied zwischen Hunden und Menschen, dachte er. Ihre Seelen sitzen an verschiedenen Stellen.
[Hündchen! Hierher, Hündchen, komm hierher!]
Ralph zuckte zusammen und schrak vor dieser Stimme zurück, die sich anhörte, als würde Kreide über eine Tafel kratzen. Er hob die Hände fast bis zu den Ohren, bis ihm klar wurde, daß das nichts nützen würde; er hörte es eigentlich gar nicht mit den Ohren, und die Stimme tat am meisten tief in seinem Kopf weh, wo er mit den Händen nicht hinkam.
[He, du beschissener Flohträger! Glaubst du, ich hab den ganzen Tag Zeit? Schlepp deinen zottigen Arsch hierher!]
Rosalie winselte und sah von Ralph wieder dorthin, wo sie zuvor schon hingesehen hatte. Sie wollte sich aufrichten, ließ sich aber wieder auf die Hinterbeine nieder. Das Tuch, das sie trug, zitterte mehr denn je, und Ralph sah, wie sich ein dunkler Fleck um ihre linke Flanke herum ausbreitete, als ihre Blase sich entleerte.
Er sah auf die andere Straßenseite und erblickte Doc Nr. 3, der in seinem weißen Kittel (der ziemlich verdreckt war, wie Ralph feststellte, als hätte er ihn schon lange Zeit an) und seinen Liliputaner-Bluejeans zwischen der Wäscherei und dem alten Mietshaus daneben stand. Auf dem Kopf trug er immer noch McGoverns Panamahut. Jetzt schien der Hut aber auf den Ohren der Kreatur zu sitzen; der Hut war so groß, daß der halbe Kopf darin zu verschwinden schien. Das Wesen grinste den Hund tückisch an, und Ralph sah eine Doppelreihe spitzer weißer Zähne - die Zähne eines Kannibalen. In der linken Hand hielt er etwas, bei dem es sich entweder um ein Skalpell oder ein Rasiermesser handelte. Ein Teil von Ralphs Verstand versuchte, ihn davon zu überzeugen, daß es Blut war, das er auf der Klinge sah, aber er war ziemlich sicher, daß es sich nur um Rost handelte.
Doc Nr. 3 steckte die beiden ersten Finger seiner rechten Hand in die Mundwinkel und stieß einen gellenden Pfiff aus, der wie ein Bohrer in Ralphs Kopf eindrang. Auf dem Bürgersteig zuckte Rosalie zurück und stieß ein kurzes Heulen aus.
[Schlepp deinen Kadaver hier rüber, Rover! Auf der Stelle!]
Rosalie stand auf, klemmte den Schwanz zwischen die Beine und hinkte zur Straße. Sie winselte unentwegt, und die Angst machte ihr Hinken so schlimm, daß sie sich kaum fortschleppen konnte; bei jedem zögernden, schlurfenden Schritt drohten die Hinterbeine unter ihr wegzurutschen.
[»He!«]
Ralph merkte erst, daß er geschrien hatte, als er die kleine blaue Wolke vor seinem Gesicht schweben sah. Sie war mit silbernen Linien durchzogen, Altweibersommer gleich, wodurch sie wie eine Schneeflocke aussah.
Der kahlköpfige Zwerg wirbelte in die Richtung herum, aus der Ralphs Aufschrei gekommen war, und hob dabei instinktiv die Waffe. Seine Miene drückte wütende Überraschung aus. Ralph konnte Rosalie am linken Rand seines Gesichtsfelds sehen. Sie war mit den Vorderpfoten im Rinnstein stehengeblieben und sah ihn mit großen, ängstlichen braunen Augen an.
[Was willst du denn, Kurzer?]
Die Stimme drückte Wut darüber aus, daß sie unterbrochen worden war, Wut über die Herausforderung… aber Ralph fand, daß darunter auch noch andere Empfindungen mitschwangen. Angst? Er wünschte, er könnte es glauben. Verwirrung und Überraschung schienen wahrscheinlicher zu sein. Was auch immer diese Kreatur sein mochte, sie schien es nicht gewöhnt zu sein, von Leuten wie Ralph gesehen, geschweige denn herausgefordert zu werden.
[Was ist los mit dir, Kurzfristiger, hat eine Katze deine Zunge gefressen? Oder hast du schon vergessen, was du wolltest?]
[»Ich möchte daß du diesen Hund in Ruhe läßt!«]
Ralph hörte sich auf zwei verschiedene Weisen. Er war ziemlich sicher, daß er laut sprach, aber der Klang seiner Stimme war fern und blechern, wie Musik aus den Kopfhörern eines Walkman, die vorübergehend beiseite gelegt worden sind. Wenn jemand unmittelbar neben ihm gestanden hätte, hätte er vielleicht hören können, was Ralph sagte, aber Ralph wußte, die Worte hätten sich wie das klägliche, atemlose Keuchen eines Mannes angehört, der gerade einen Schlag in den Magen bekommen hat. In seinem Kopf jedoch hörte er sich an wie seit Jahren nicht mehr -jung, kräftig und voller Selbstvertrauen.
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Doc Nr. 3 mußte seine Worte auf die zweite Weise gehört haben, denn er zauderte einen Augenblick und hob erneut einen Augenblick die Waffe (Ralph war jetzt fast sicher, daß es sich um ein Skalpell handelte) wie zur Selbstverteidigung. Dann schien er sich wieder zu fangen. Er ging vom Bürgersteig zum Rand der Harris Avenue und blieb auf dem laubübersäten Grasstreifen zwischen Bürgersteig und Straße stehen. Er zupfte am Bund seiner Jeans, die er unter dem schmutzigen Kittel hochzog, und sah Ralph einige Momente grimmig an. Dann hob er das rostige Skalpell in die Luft und machte eine unangenehme, vielsagende sägende Geste damit.
[Du kannst mich sehen - tolle Geschichte! Steck deine Nase nicht in Dinge, die dich nichts angehen, Kurzfristiger! Der Köter gehört mir!]
Der kahlköpfige Doc drehte sich wieder zu dem ängstlichen Hund um.
[Ich habe es satt, mich mit dir rumzuärgern, Rover! Komm hierher! Sofort!]
Rosalie schenkte Ralph einen flehenden, verzweifelten Blick und begann, die Straße zu überqueren.
Ich mische mich nicht in langfristige Geschäfte ein, hatte der alte Dor an dem Tag zu ihm gesagt, als er ihm den Gedichtband von Stephen Dobyns gegeben hatte. Ich habe dir gesagt, daß du es auch nicht tun solltest.
Ja, das hatte er tatsächlich, aber Ralph hatte das Gefühl, daß es jetzt zu spät war. Und selbst wenn nicht, er hatte keineswegs die Absicht, Rosalie diesem unangenehmen kleinen Gnom zu überlassen, der auf der anderen Straßenseite vor der Münzwäscherei stand. Das hieß, nicht, wenn er es verhindern konnte.