Darüber hinaus hatten sie die einsamen, unbedeutenden Geheimnisse von Handlungsreisenden geteilt. Jimmy erzählte Ralph von der Hure, die ihm 1958 seine Brieftasche gestohlen hatte, und wie er seine Frau deshalb belügen und behaupten mußte, ein Anhalter hätte ihn ausgeraubt. Ralph erzählte Jimmy, wie er im Alter von dreiundvierzig Jahren gemerkt hatte, daß er turpinhydratsüchtig geworden war, und von seinem schmerzlichen, aber letztendlich erfolgreichen Versuch, die Sucht zu überwinden. Er hatte Carolyn ebenso wenig von seiner bizarren Hustensaftabhängigkeit erzählt wie Jimmy V. seiner Frau von seinem letzten B-Girl.
Jede Menge Reisen; jede Menge Reifenwechsel; jede Menge Witze über Handlungsreisende und bildhübsche Farmerstöchter; jede Menge nächtlicher Gespräche, die nicht selten bis in die frühen Morgenstunden gedauert hatten. Manchmal redeten sie von Gott, manchmal vom Finanzamt. Alles in allem war Jimmy Vandermeer ein verdammt guter Reisegefährte gewesen. Dann hatte Ralph seinen Schreibtischjob in der Druckerei bekommen und hatte den Kontakt zu Jimmy verloren. Erst hier draußen hatte er die Verbindung wieder aufleben lassen, und an einigen anderen vagen Orientierungspunkten im Derry der Altvorderen - der Bibliothek, der Billardhalle, dem Hinterzimmer von Duffy Spragues Friseurladen, vier oder fünf anderen. Als Jimmy ihm nach Carolyns Tod erzählt hatte, er hätte Krebs mit einem Lungenflügel weniger, ansonsten aber gut überstanden, war Ralph sofort das Bild des Mannes in Erinnerung gekommen, wie er eine Camelkippe nach der anderen an den Fahrtwind verfütterte, der am schräggestellten Seitenfenster des Autos vorbeirauschte.
Ich hab Glück gehabt, hatte er gesagt. Ich und der Duke, wir haben beide Glück gehabt. Aber offenbar war keinem der beiden das Glück treu geblieben. Nicht, daß es am Ende überhaupt jemandem treu blieb.
»O Mann«, sagte Ralph. »Das ist wirklich traurig.«
»Er ist schon seit fast drei Wochen im Derry Home«, sagte Faye. »Bekommt Bestrahlungen und schluckt Gift, das eigentlich den Krebs töten soll, einen aber fast selbst umbringt. Überrascht mich, daß du das nicht gewußt hast, Ralph.«
Dich vielleicht, aber mich nicht. Weißt du, die Schlaflosigkeit verschluckt so manches. An einem Tag vergißt man, wo die letzte Tüte Cup-A-Soup abgeblieben ist; am nächsten Tag kommt einem das Zeitgefühl abhanden; am Tag danach vergißt man seine alten Freunde.
»Um die Wahrheit zu sagen, mich auch.«
Faye schüttelte den Kopf. »Scheißkrebs. Unheimlich, wie er wartet.«
Ralph nickte und mußte an Carolyn denken. »In welchem Zimmer liegt Jimmy, weißt du das? Vielleicht gehe ich ihn besuchen.«
»Zufällig weiß ich es. 21 j. Glaubst du, du kannst es dir merken?«
Ralph grinste. »Jedenfalls eine Weile.«
»Besuch ihn, wenn du kannst, sicher - sie haben ihn ziemlich unter Drogen gesetzt, aber er weiß noch, wer zu ihm kommt, und ich wette, er würde sich freuen, dich zu sehen. Er hat mir mal erzählt, daß ihr beide früher eine tolle Zeit miteinander gehabt habt.«_ »Na ja, du weißt ja«, sagte Ralph. »Zwei Männer auf Achse, das ist eigentlich schon alles. Wenn wir in einem Restaurant eine Münze um die Rechnung geworfen haben, hat Jimmy V. immer verloren.« Plötzlich war ihm zum Weinen zumute.
»Beschissen, was?« sagte Faye leise.
»Ja.«
»Nun, geh ihn besuchen. Er wird sich freuen, und dir wird es besser gehen. So sollte es jedenfalls sein. Und vergiß nicht das verdammte Schachturnier!« kam Faye zum Ende, streckte sich und unternahm den heldenhaften Versuch, fröhlich auszusehen und zu klingen. »Wenn du jetzt kneifst, versaust du mir die Aufstellung.«
»Ich werde mein Bestes tun.«
»Klar, das weiß ich.« Er ballte die Faust und schlug Ralph sanft gegen den Oberarm. »Und noch mal danke, daß du mich daran gehindert hast, etwas zu tun, was mir, du weißt schon, später leid getan hätte.«
»Logisch. Friedensstifter Nummer eins, das bin ich.« Ralph ging den Pfad zur Extension entlang, dann drehte er sich noch einmal um. »Siehst du diese Zufahrt da drüben? Die vom General Aviation Terminal zur Straße führt?« Er zeigte in die Richtung. Ein Lieferwagen fuhr gerade vom Privatterminal weg; seine Windschutzscheibe reflektierte grelle Pfeile des Sonnenlichts in ihre Augen. Der Lieferwagen blieb kurz vor dem Tor stehen und unterbrach die Lichtschranke. Das Tor öffnete sich langsam.
»Klar sehe ich die«, sagte Faye.
»Letzten Sommer habe ich Ed Deepneau auf dieser Straße gesehen, was bedeutet, er hatte eine Karte für das Tor. Hast du eine Ahnung, wie er dazu gekommen sein könnte?«
»Du meinst der Kerl von den Friends of Life? Wissenschaftler, der letzten Sommer erforscht hat, wie man seine Frau verprügelt?«
Ralph nickte. »Aber ich spreche vom Sommer ‘92. Er fuhr einen alten braunen Datsun.«
Faye lachte. »Ich könnte einen Datsun nicht von einem Toyota oder Honda unterscheiden, Ralph - ich kann Autos nicht mehr auseinanderhalten, seit Chevrolet die geschwungenen Heckflossen aufgegeben hat. Aber ich kann dir verraten, wer diese Straße am häufigsten benützt: Zulieferer, Mechaniker, Piloten, Besatzungsmitglieder und Fluglotsen. Manche Passagiere haben Magnetkarten, glaube ich, wenn sie oft privat fliegen. Die einzigen Wissenschaftler, die dort arbeiten, arbeiten in der Luftmeßstation. Ist er so ein Wissenschaftler?«
»Nee, Chemiker. Bis vor kurzem hat er in den Hawking Labors gearbeitet.«
»Hat mit weißen Ratten gespielt, ja? Nun, es gibt keine Ratten im Flughafen - jedenfalls nicht, daß ich wüßte -, aber jetzt, wo ich daran denke, es gibt noch ein paar Leute, die das Tor benutzen.«
»Oh? Wer?«
Faye deutete auf eine Baracke mit Wellblechdach, die etwa siebzig Meter vom General Aviation Terminal entfernt stand. »Siehst du das Gebäude dort? Das ist SoloTech.«
»Was ist SoloTech?«
»Eine Schule«, sagte Faye. »Dort erteilen sie Flugunterricht.«
Als Ralph zur Harris Avenue zurückkehrte, hatte er die großen Hände in die Taschen gesteckt und den Kopf gesenkt, so daß er nicht viel mehr als die Risse im Bürgersteig unter seinen Füßen sah. Sein ganzes Denken kreiste wieder um Ed Deepneau… und SoloTech. Er konnte unmöglich wissen, ob SoloTech der Grund dafür war, daß sich Ed an dem Tag auf dem Flughafengelände aufgehalten hatte, als er auf Mr. West Side Gardeners gestoßen war, aber plötzlich war das eine Frage, die Ralph unbedingt beantwortet haben wollte. Außerdem war er neugierig, wo genau Ed heute wohnen mochte. Er fragte sich, ob John Leydecker seine Neugier hinsichtlich dieser beiden Punkte teilen mochte, und beschloß, es herauszufinden.
Er ging gerade an der unscheinbaren Ladenfassade vorbei, hinter der George Lyford, C. P. A., auf der einen und Maritime Jewelry (WIR KAUFEN IHR ALTES GOLD ZU HÖCHSTPREISEN) auf der anderen Seite untergebracht waren, als ihn ein kurzes, ersticktes Bellen aus seinem Nachdenken riß. Er sah auf und erblickte Rosalie, die dicht beim oberen Eingang des Strawford Park auf dem Bürgersteig saß. Die alte Hündin hechelte kurzatmig; Speichel troff von ihrer hängenden Zunge und bildete eine dunkle Pfütze auf dem Betonboden zwischen ihren Pfoten. Ihr Fell klebte in feuchten Strähnen zusammen, als wäre sie gerannt, und das blaue Tuch um ihren Hals schien im Rhythmus ihres hechelnden Atmens zu beben. Als Ralph sie ansah, stieß sie wieder ein Bellen aus, diesmal aber mehr ein Winseln.
Er schaute über die Straße, was sie anbellen mochte, sah aber nichts außer der Wäscherei Buffy-Buffy. Ein paar Frauen machten sich im Inneren zu schaffen, aber Ralph konnte nicht glauben, daß Rosalie sie anbellte. Und auf dem Bürgersteig vor der Münzwäscherei hielt sich derzeit niemand auf.
Ralph drehte sich wieder um und merkte plötzlich, daß Rosalie nicht nur auf dem Bürgersteig saß, sondern regelrecht dort kroch… kauerte. Sie sah aus, als litte sie Todesangst.
Bis zu diesem Augenblick hatte sich Ralph nie Gedanken darüber gemacht, wie unheimlich menschlich Mienen und Körpersprache von Hunden waren: Sie grinsten, wenn sie glücklich waren, ließen die Köpfe hängen, wenn sie sich schämten, ließen Angst in den Augen und Nervosität an verkrampften Schultern erkennen - genau wie Menschen auch. Und wie die Menschen drückten sie äußerste Angst durch ein Zittern am ganzen Körper aus.