»Großer Unterschied, hm?« wandte sich Faye an Pedersen.
»Klar!« Rote Flecken leuchteten auf Pedersens rissigen Wangen.
Doc Mulhare rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her. »Hört zu, vergessen wir es einfach und spielen weiter, Faye, einverstanden?«
Faye beachtete ihn gar nicht; seine Aufmerksamkeit galt immer noch Pedersen. »Vielleicht solltest du noch mal an die vielen kleinen Spermien denken, die jedesmal auf deiner Handfläche gestorben sind, wenn du auf dem Klo gesessen und daran gedacht hast, wie schön es wäre, wenn dir Marilyn Monroe einen blasen -«
Pedersen streckte die Hand aus und fegte die restlichen Figuren vom Schachbrett. Doc Mulhare zuckte zurück, sein Mund zitterte, die Augen hinter der Brille mit dem rosa Gestell, das an zwei Stellen mit Isolierband geklebt war, waren groß und ängstlich.
»Ja, gut!« brüllte Faye. »Das ist wirklich ein überzeugendes, vernünftiges Argument, du Arsch!«
Pedersen hob die Fäuste zu einer übertriebenen John L. Sullivan-Pose. »Willst du was dagegen unternehmen?« fragte er. »Los doch, fangen wir an!«
Faye stand langsam auf. Er war gut dreißig Zentimeter größer als der flachgesichtige Pedersen und mindestens sechzig Pfund schwerer.
Ralph traute seinen Augen nicht. Und wenn das Gift schon soweit vorgedrungen war, wie mußte es im Rest der Stadt aussehen? Er fand, daß Doc Mulhare recht hatte; Susan Day konnte nicht die geringste Ahnung haben, wie schlecht es war, ihre Ansprache in Derry zu halten. In mancher Hinsicht - sogar in ziemlich vieler Hinsicht - war Derry nicht wie andere Städte.
Er bewegte sich, bevor er sich überlegte, was er vorhatte, war aber erleichtert, als er Stan Eberly dasselbe tun sah. Sie wechselten einen Blick, als sie sich den beiden Männern näherten, die Nase an Nase standen, und Stan nickte unmerklich. Ralph legte eine Sekunde bevor Stan Pedersens linken Oberarm festhielt einen Arm um Fayes Schultern.
»Das werdet ihr schön bleiben lassen«, sagte Stan direkt in eines von Pedersens haarigen Ohren. »Sonst müssen wir euch beide mit Herzanfällen ins Derry Home bringen, und du kannst keinen mehr brauchen, Harley - du hast schon zwei gehabt. Oder waren es drei?«
»Ich werd nicht zulassen, daß er Witze über Frauen macht, die Babys ermorden!« sagte Pedersen, und Ralph stellte fest, daß ihm Tränen über die Wangen liefen. »Meine Frau ist gestorben, als sie unsere zweite Tochter bekam! 1946 ist sie an Sepsis gestorben! Darum dulde ich dieses Geschwätz über Babymord nicht!«
»Herrgott«, sagte Faye mit veränderter Stimme. »Das wußte ich nicht, Harley. Es tut mir leid -«
»Einen Scheißdreck tut es dir leid!« schrie Pedersen und riß den Arm aus Stan Eberlys Griff. Er stürzte sich auf Faye, der die Fäuste hob und wieder sinken ließ, als Pedersen davonstapfte, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Er ging den Pfad zwischen den Bäumen entlang, der zur Extension führte, und weg war er. Seinem Aufbruch folgten dreißig Sekunden betroffenen Schweigens, das lediglich vom wespengleichen Summen einer landenden Piper Cub unterbrochen wurde.
»Mein Gott«, sagte Faye schließlich. »Da sieht man jemand fünf, zehn Jahre lang alle paar Tage und denkt, man wüßte alles. Himmel, Ralphie, ich wußte nicht, daß seine Frau gestorben ist. Ich komme mir wie ein Narr vor.«
»Laß dich nicht irre machen«, antwortete Stan. »Wahrscheinlich hat er nur seine Tage.« »Sei still«, sagte Georgina. »Wir hatten genug schmutziges Gerede für einen Morgen.«
»Ich bin froh, wenn diese Day wieder weg ist, damit alles wieder seinen gewöhnlichen Gang geht«, sagte Fred Zell.
Doc Mulhare hatte sich auf Hände und Knie niedergelassen und sammelte Schachfiguren ein. »Möchtest du zu Ende spielen, Faye?« fragte er. »Ich glaube, ich weiß noch, wie sie gestanden haben.«
»Nein«, sagte Faye. Seine Stimme, die während der Konfrontation mit Pedersen fest geklungen hatte, zitterte jetzt. »Ich glaube, ich habe eine Weile genug. Vielleicht läßt Ralph sich ja auf eine Partie ein.«
»Ich glaube, ich muß passen«, sagte Ralph. Er sah sich nach Dorrance um, weil er doch gerne mit dem alten Burschen gesprochen hätte, und entdeckte ihn schließlich. Er war wieder durch das Loch im Zaun gegangen. Er stand im kniehohen Gras am Rand der Zufahrt da drüben und knickte das Buch in den Händen, während er zusah, wie die Piper Cub zum Terminal der Privatmaschinen rollte. Ralph mußte daran denken, wie Ed mit seinem alten braunen Datsun diese Zufahrt entlanggerast gekommen war und geflucht hatte, weil
(Beeil dich! Beeil dich, du dreckige stinkende Fotze!) das Tor so langsam aufging. Zum erstenmal seit über einem Jahr fragte er sich, was Ed überhaupt dort zu suchen gehabt hatte.
»… als früher.«
»Hm?« Er konzentrierte sich mühsam wieder auf Faye.
»Ich habe gesagt, du scheinst wieder zu schlafen, du siehst nämlich viel besser aus als früher. Aber ich schätze, jetzt ist dein Gehör im Eimer.«
»Kann sein«, sagte Ralph und versuchte zu lächeln. »Ich glaube, ich geh was essen. Möchtest du mitkommen, Faye? Ich bezahle.«
»Nee, ich hatte schon ein Coffee-Pot-Sandwich«, sagte Faye. »Das liegt mir im Augenblick wie Blei im Magen, um die Wahrheit zu sagen. Herrgott, Ralph, der alte Furz hat geweint, hast du das gesehen?« »Ja, aber ich würde an deiner Stelle nicht aus einer Mücke einen Elefanten machen«, sagte Ralph. Er ging Richtung Extension, und Faye trottete neben ihm her. Mit den hängenden breiten Schultern und dem gesenkten Kopf sah Faye wie ein Tanzbär in einem Menschenkostüm aus. »In unserem Alter weint man beim geringsten Anlaß. Das weißt du.«
»Kann sein.« Er lächelte Ralph dankbar zu. »Wie dem auch sei, danke, daß du mich zurückgehalten hast, bevor ich es noch schlimmer machen konnte. Du weißt ja, wie ich manchmal sein kann.«
Ich wünschte nur, jemand wäre dabei gewesen, als Bill und ich aneinandergeraten sind, dachte Ralph. Laut sagte er: »Kein Problem. Eigentlich müßte ich mich bei dir bedanken. Noch etwas, das ich vorbringen kann, wenn ich mich um diesen hochdotierten Job bei der UN bewerbe.«
Faye lachte freudig und klopfte Ralph auf die Schulter. »Klar, Generalsekretär! Friedensstifter Nummer eins! Das könntest du, Ralph, ohne Scheiß!«
»Ohne Zweifel. Paß auf dich auf, Faye.«
Er wollte sich abwenden, da berührte Faye ihn am Arm. »Du bist doch nächste Woche beim Turnier dabei, oder? Beim Startbahn Drei Classic?«
Ralph brauchte einen Moment, bis er dahinterkam, wovon Faye redete, obwohl es das Hauptthema des pensionierten Tischlers war, seit das Laub die erste herbstliche Färbung zeigte. Seit dem Ende seines »wirklichen Lebens« im Jahr 1984 veranstaltete Faye ein Schachturnier, das er Startbahn Drei Classic nannte. Der Pokal war eine übergroße verchromte Radkappe, in die eine verschnörkelte Krone und ein Zepter eingraviert waren. Faye, mit Sicherheit der beste Spieler der Altvorderen (jedenfalls in der West Side der Stadt), hatte sich die Trophäe in sechs von neun Fällen selbst überreicht, und Ralph vermutete, daß er die anderen Male freiwillig verloren hatte, um die anderen Turnierteilnehmer bei der Stange zu halten. In diesem Herbst hatte Ralph noch nicht oft an Schach gedacht; ihm gingen andere Dinge durch den Kopf.
»Klar«, sagte er. »Ich denke, ich werde mitspielen.«
Faye grinste. »Gut. Wir hätten es letztes Wochenende machen sollen - das war der Plan -, aber ich hatte gehofft, wenn ich es verschieben würde, könnte Jimmy V. mitspielen. Aber er ist immer noch im Krankenhaus, und wenn ich noch lange warte, ist es zu kalt, um draußen zu spielen, und wir müssen es im Hinterzimmer von Duffy Spragues Friseurladen machen, wie damals, ‘90.«
»Was ist denn mit Jimmy V.?«
»Der Krebs hat wieder angefangen«, sagte Faye, dann fügte er mit gedämpfter Stimme hinzu: »Ich glaube, diesmal hat er nicht mehr Chancen als ein Schneeball in der Hölle.«
Ralph verspürte einen plötzlichen und überraschend heftigen Anflug von Traurigkeit angesichts dieser Neuigkeit. Er und Jimmy Vandermeer hatten sich während ihres »wirklichen Lebens« gut gekannt. Damals waren beide auf Achse gewesen, Jimmy im Verkauf von Süßigkeiten und Grußkarten, Ralph mit Druckereibedarf und Papierprodukten, und sie hatten sich so gut verstanden, daß sie sich bei mehreren Fahrten durch Neuengland zusammengetan hatten, abwechselnd gefahren waren und sich deshalb luxuriösere Unterkünfte leisten konnten, als es jedem auf sich allein gestellt möglich gewesen wäre.