Diese heimlichen Straßen und Highways lagen allesamt unter der Ebene der Wahrnehmung Erwachsener und wurden infolgedessen von ihnen übersehen… aber es hatte Ausnahmen gegeben. Eine war ein Polizist namens Aloysius Neu gewesen -für Generationen Kinder von Derry nur Mr. Nell -, und erst jetzt, als er zum Picknickplatz in der Nähe der Stelle ging, wo die Harris Avenue zur Harris Avenue Extension wurde, überlegte sich Ralph, daß Chris Nell wahrscheinlich der Sohn des alten Mr. Nell war… aber das konnte nicht ganz stimmen, denn der Polizist, den Ralph zum erstenmal in Begleitung von John Leydecker gesehen hatte, war nicht alt genug, daß er der Sohn des alten Mr. Nell sein konnte. Wahrscheinlich war er sein Enkel.
Ralph war eine zweite heimliche Stadt aufgefallen-die den alten Leuten gehörte -, als er selbst pensioniert worden war, aber erst nach Carols Tod war ihm wirklich bewußt geworden, daß er nun auch deren Einwohner war. Und da hatte er eine versunkene Geographie gefunden, die unheimliche Ähnlichkeit mit der hatte, die er als Kind gekannt hatte, ein Ort, welcher von der Arbeitswelt, die geschäftig ringsum brodelte, weitgehend ignoriert wurde. Und das Derry der Altvorderen überlappte noch eine dritte heimliche Stadt: das Derry der Verdammten, ein gräßlicher Ort, der hauptsächlich von Pennern, Flüchtlingen und Irren bewohnt wurde, die man nicht einsperren konnte.
Auf diesem Picknickgelände hatte Lafayette Chapin Ralph mit einer der wichtigsten Überlegungen des Lebens vertraut gemacht… das heißt, nachdem man selbst ein aufrechter Altvorderer geworden war. Diese Überlegung hatte etwas mit dem »wirklichen Leben« zu tun. Das Thema war zur Sprache gekommen, als die beiden Männer sich gerade kennengelernt hatten. Ralph hatte Faye gefragt, was er gemacht hätte, bevor er mit seinen Ausflügen zu dem Picknickgelände begonnen hätte.
»Nun, in meinem wirklichen Leben war ich Zimmermann und Tischler«, hatte Chapin geantwortet und seine verbliebenen Zähne zu einem breiten Grinsen entblößt, »aber das alles hat vor fast zehn Jahren aufgehört.« Als wäre, hatte Ralph gedacht, wie er sich noch genau erinnerte, die Pensionierung eine Art Vampirkuß, der diejenigen, die ihn überlebten, in die Welt der Untoten zog. Und wenn man es genauer überlegte, war das wirklich so weit von der Wahrheit entfernt?
Nachdem er McGovern nun sicher hinter sich gelassen hatte (jedenfalls hoffte er es), ging Ralph durch das schmale Waldstück aus Eichen und Ahornbäumen, das den Picknickplatz von der Extension abschirmte. Er sah, daß sich seit seinem Spaziergang vorhin acht oder neun Leute versammelt hatten, die meisten mit Vespertüten oder Sandwiches von Coffee Pot. Die Eberlys und Zells spielten Hearts mit dem abgegriffenen Blatt Top-Hole-Karten, das sie in einem Astloch der nächsten Eiche versteckten; Faye und Doc Mulhare, ein pensionierter Tierarzt, spielten Schach; ein paar Kiebitze wanderten zwischen den beiden Spielrunden hin und her.
Auf dem Picknickplatz drehte sich alles um die Spiele - wie bei den meisten Treffpunkten im Derry der Altvorderen -, aber Ralph dachte, daß die Spiele in Wirklichkeit nur Beiwerk waren. Eigentlich kamen die Leute hierher, um den Kontakt nicht zu verlieren, sich zu melden, zu bestätigen (und sei es nur sich selbst), daß sie immer noch eine Art von Leben führten, wirklich oder sonstwie.
Ralph setzte sich auf eine freie Bank in der Nähe des Sturmzauns und strich mit einem Finger zerstreut über die eingeschnitzten Botschaften - Namen, Initialen, jede Menge FUCK YOUs -, während er Flugzeuge in regelmäßigen Zwei-Minuten-Intervallen landen sah: eine Cessna, eine Apache, eine Piper, eine Twin Bonanza, den 11:45 Air Express aus Boston. Mit einem Ohr verfolgte er das Auf und Ab der Gespräche hinter ihm. May Lochers Name wurde mehr als einmal erwähnt -mehrere der Anwesenden hatten sie gekannt, und der allgemeine Tenor schien zu sein, daß Gott sich endlich erbarmt und ihrem Leiden ein Ende gesetzt hätte -, aber die meisten Gespräche kreisten heute um den bevorstehenden Besuch von Susan Day. Als Faustregel konnte man sagen, daß Politik kein Thema für die Altvorderen war, die jederzeit einen guten Darmkrebs oder Hirnschlag vorzogen, aber selbst hier draußen verlor das Thema Abtreibung nicht seine einzigartige Fähigkeit, zu erzürnen, zu verbittern und zu entzweien.
»Sie hat sich eine schlechte Stadt ausgesucht, und das Schlimme daran ist, ich bezweifle, ob sie das weiß«, sagte Doc Mulhare und betrachtete das Schachbrett voll verdrossener Konzentration, während Faye Chapin die restliche Streitmacht seines Königs im Blitzkrieg niedermähte. »Hier passiert so allerhand. Erinnerst du dich an den Brand im Black Spot, Faye?«
Faye grunzte und schlug Docs letzten Läufer.
»Ich verstehe nur diese Scherzkekse hier nicht«, sagte Lisa Zell, hob die Derry News hoch und zeigte auf das Foto der Kapuzengestalten, die vor Woman-Care marschierten. »Sieht so aus, als wünschten sie sich die Zeiten zurück, als Frauen Abtreibungen mit Kleiderbügeln vorgenommen haben.«
»Genau das wollen sie«, sagte Georgina Eberly. »Sie denken sich, wenn eine Frau genügend Angst vor dem Sterben hat, wird sie das Baby bekommen. Sie kommen nicht auf den Gedanken, daß eine Frau mehr Angst davor haben könnte, ein Baby zu bekommen, als davor, es mit einem Kleiderbügel wegzumachen.«
»Was hat denn Angst damit zu tun?« fragte einer der Kiebitze -ein flachgesichtiger Alter namens Pedersen - trotzig. »Mord ist Mord, ob das Baby drinnen oder draußen ist, so sehe ich das. Selbst wenn sie so klein sind, daß man ein Mikroskop braucht, um sie zu sehen, ist es Mord. Weil sie Kinder wären, wenn man sie in Ruhe ließe.«
»Ich denke, das macht dich jedesmal, wenn du dir einen runterholst, zu Adolf Eichmann«, sagte Faye und zog mit der Dame. »Schach.«
»La-tay-ette Oza-pin!« rief Lisa Zell.
»Ist überhaupt nicht dasselbe, wenn man an sich selber rumspielt«, sagte Pedersen finster.
»Ach nein? Gab es nicht in der Bibel einen, der von Gott verflucht wurde, weil er sich einen von der Palme gelockt hat?« fragte der andere Kiebitz.
»Wahrscheinlich meinst du Onan«, sagte eine Stimme hinter Ralph. Er drehte sich erschrocken um und sah den alten Dor da stehen. In einer Hand hielt er ein Taschenbuch mit einer großen
5 auf dem Umschlag. Woher, um alles in der Welt, kommst du denn? Er hätte fast schwören können, daß vor einer Minute noch niemand hinter ihm gestanden hatte.
»Onan, Schmonan«, sagte Pedersen. »Diese Spermien sind nicht dasselbe wie ein Baby -«
»Nicht?« fragte Faye. »Und warum verkauft die katholische Kirche dann keine Gummis bei Bingospielen? Sag mir das.«
»Das ist die blanke Unwissenheit«, sagte Pedersen. »Und wenn du nicht begreifst -«
»Aber Onan wurde nicht wegen Masturbation bestraft«, sagte Dorrance mit seiner hohen, durchdringenden Altmännerstimme. »Er wurde bestraft, weil er sich weigerte, die Witwe seines Bruders zu schwängern, damit das Geschlecht seines Bruders fortbestehen konnte. Es gibt ein Gedicht, von Allen Ginsberg, glaube ich -«
»Halt den Mund, du alter Narr!« schrie Pedersen und sah dann Faye Chapin wütend an. »Und wenn du nicht begreifst, daß es etwas völlig anderes ist, ob ein Mann seine Nudel walkt oder eine Frau das Baby im Klo runterspült, das Gott in sie gepflanzt hat, dann bist du ein so großer Narr wie er.«
»Das ist eine ekelhafte Unterhaltung«, sagte Lisa Zell, die allerdings mehr fasziniert als angeekelt klang. Ralph sah über ihre Schulter und stellte fest, daß ein Stück des Maschendrahtzauns von einem Pfosten abgerissen und nach hinten gebogen worden war, wahrscheinlich von den Jugendlichen, die den Platz nachts für sich beanspruchten. Damit war immerhin ein Rätsel gelöst. Er hatte Dorrance nicht bemerkt, weil der alte Mann sich überhaupt nicht auf dem Picknickplatz aufgehalten hatte; er war auf dem Gelände des Flughafens herumgelaufen.
Ralph überlegte sich, daß das seine Chance war, sich Dorrance zu schnappen und ihn zur Rede zu stellen… nur würde er hinterher wahrscheinlich verwirrter sein als vorher. Der alte Dor glich zu sehr der Cheshirekatze in Alice im Wunderland - mehr Lächeln als Substanz.