»Du begreifst nicht, was ich -«
»Oh, ich begreife durchaus. Mehr als mir lieb ist. Glaub mir. Und entschuldige mich bitte - ich glaube, ich werde noch einen Spaziergang machen. Ich brauche einen klaren Kopf.« Er konnte das heiße Blut in Wangen und Stirn pochen fühlen. Er versuchte, einen Vorwärtsgang in seinem Gehirn einzulegen, der ihm ermöglichen würde, diese sinnlose, ohnmächtige Wut hinter sich zu lassen, aber er schaffte es nicht. Er fühlte sich fast so, wie nach dem Traum von Carolyn; seine Gedanken wirbelten vor Angst und Verwirrung durcheinander, und als er seine Beine in Bewegung setzte, hatte er nicht das Gefühl, als würde er gehen, sondern fallen, wie er am Montag morgen aus dem Bett gefallen war. Trotzdem ging er weiter. Manchmal konnte man nichts anderes tun.
»Ralph, du mußt zu einem Arzt gehen!« rief McGovern ihm nach, und nun konnte sich Ralph nicht mehr einreden, daß er nicht eine unheimliche, heftige Schadenfreude in McGoverns Stimme hörte. Die Sorge, die darin mitschwang, war wahrscheinlich aufrichtig, aber sie war wie ein süßer Zuckerguß auf einem bitteren Kuchen.
»Keinem Apotheker, keinem Hypnotiseur, keinem Akupunkteur! Du mußt zu deinem Hausarzt gehen!«
Klar, zu dem Typ, der meine Frau unterhalb der Flutlinie begraben hat! dachte er mit einer Art geistigem Aufschrei. Dem Mann, der sie bis zum Hals im Sand begraben und ihr anschließend gesagt hat, sie müßte keine Angst vor dem Ertrinken haben, solange sie schön brav ihre Valium und Tylenol-nahm!
Laut sagte er: »Ich muß einen Spaziergang machen! Das brauche ich, und mehr brauche ich nicht.« Sein Herz pochte jetzt mit den kurzen, harten Schlägen eines Vorschlaghammers in seinen Schläfen, und er überlegte sich, daß so ein Schlaganfall anfangen mußte; wenn er sich nicht bald unter Kontrolle bekam, würde er ins Wutkoma fallen, wie sein Vater sich immer ausgedrückt hatte.
Er konnte hören, wie McGovern ihm den Fußweg entlang folgte. Faß mich nicht an, Bill, dachte Ralph. Wage es nicht, mir die Hand auf die Schultern zu legen, denn in diesem Fall werde ich mich wahrscheinlich umdrehen und dir eine scheuern.
»Ich versuche nur, dir zu helfen, begreifst du das nicht?« brüllte McGovern. Der Briefträger auf der anderen Straßenseite war wieder stehengeblieben und beobachtete sie, und vor dem Red Apple starrten sie Karl, der morgens arbeitete, und Sue, das Mädchen, das nachmittags arbeitete, mit offenen Mündern unverhohlen an. Karl, stellte er fest, hielt eine Tüte Hamburgerbrötchen in einer Hand. Es war wirklich erstaunlich, was einem in solchen Augenblicken alles auffiel… allerdings nicht annähernd so erstaunlich wie das meiste, das er heute morgen gesehen hatte.
Was du dir zu sehen eingebildet hast, Ralph, sagte eine verräterische Stimme leise flüsternd in seinem Kopf.
»Geh weiter«, murmelte Ralph verzweifelt. »Geh einfach weiter, verdammt.« Vor seinem geistigen Auge spielte sich ein Film ab. Es war ein unangenehmer Film, wie er sie sich selten ansah, selbst wenn er alles andere schon gesehen hatte, was sie im Kino Center zeigten. Und der Soundtrack dieses Films war ausgerechnet »Pop Goes the Weasel.«
»Ich will dir was sagen, Ralph - in unserem Alter sind Geisteskrankheiten was ganz Normales! Was völlig Normales, also GEH ZU DEINEM ARZT!«
Mrs. Bennigan stand jetzt auf ihrer Veranda und hatte ihren Stock am Fuß der Treppe abgestellt. Sie hatte immer noch den hellroten Herbstmantel an, und ihr Mund schien offenzustehen, als sie über die Straße zu ihnen hersah.
»Hörst du mich Ralph? Ich hoffe es. Ich hoffe wirklich, daß du mich hörst!«
Ralph ging schneller und zog die Schultern wie bei einem kalten Gegenwind zusammen. Wenn er nun einfach weiter schreit, immer lauter und lauter? Und wenn er mir einfach die Straße entlang folgt?
Wenn er das tut, werden die Leute denken, daß er der Verrückte ist, sagte er zu sich, aber der Gedanke hatte keine beruhigende Wirkung auf ihn. Im Geiste hörte er immer noch ein Klavier ein Kinderlied spielen - nein, eigentlich nicht spielen, die Noten eines Kinderreims klimpern:
All around the mulberry bush The monkey chased the weasel, The monkey thought ‘twas all infun, Pop! Goes the weasel!
Und jetzt sah Ralph die alten Anwohner der Harris Avenue, die ihre Versicherungen bei Gesellschaften abschlössen, welche im Kabelfernsehen Werbung machten, die Gallensteine und Hautkrebs hatten, deren Gedächtnis in dem Maß schrumpfte wie ihre Prostata anschwoll, die von Sozialhilfe lebten und die Welt durch den grauen Star statt durch die rosa Brille sahen. Es waren die Leute, die mittlerweile sämtliche Briefe mit der Adresse »An den Bewohner« lasen und die Werbezettel der Supermärkte nach Dosen im Sonderangebot und tiefgefrorenen Fertiggerichten absuchten. Er sah sie in grotesken kurzen Hosen und flauschigen kurzen Röcken, sah sie mit Propellermützchen und TShirts, auf denen Figuren wie Beavis und Butt-Head und Rüde Dog abgebildet waren. Er sah sie, kurz gesagt, als die ältesten Vorschüler der Welt. Sie marschierten um eine doppelte Stuhlreihe herum, während ein kleiner kahlköpfiger Mann im weißen Kittel »Pop Goes the Weasel« auf dem Klavier spielte. Ein anderer Kahlkopf nahm einen Stuhl nach dem anderen weg, und jedesmal, wenn die Musik aufhörte und alle sich setzten, blieb einer stehen -diesmal war es May Locher gewesen, das nächste Mal wahrscheinlich McGoverns alter Dekan. Die Person mußte selbstverständlich das Zimmer verlassen. Und Ralph hörte McGovern lachen. Lachen, weil er wieder einen Stuhl bekommen hatte. May Locher war tot, Bob Polhurst lag im Sterben, Ralph Roberts hatte nicht mehr alle Tassen im Schrank, aber mit ihm war noch alles in Ordnung, Sir William D. McGovern ging es noch prächtig, noch bestens, er war noch in der Vertikalen und nahm Nahrung zu sich, und er konnte noch einen Stuhl finden, wenn die Musik aufhörte.
Ralph ging weiter, krümmte die Schultern noch mehr und rechnete mit einem weiteren Bombardement von Ratschlägen und Belehrungen. Er hielt es für unwahrscheinlich, daß McGovern ihm tatsächlich weiter nachkommen würde, aber nicht für völlig ausgeschlossen. Wenn McGovern wütend genug war, könnte er sich genau dazu hinreißen lassen - Vorhaltungen machen, Ralph sagen, er solle mit dem Unsinn aufhören und zum Arzt gehen, ihn daran erinnern, daß das Klavier jeden Moment aufhören konnte zu spielen, jederzeit, und wenn er keinen Stuhl fand, solange er noch Gelegenheit dazu hatte, war es vielleicht für immer aus mit ihm.
Aber es ertönten keine Rufe mehr. Er wollte sich umdrehen, um nachzusehen, wo McGovern abgeblieben war, besann sich aber eines Besseren. Wenn er sah, daß Ralph sich umdrehte, legte er vielleicht von vorne los. Ambesten war es, einfach weiterzugehen. Also machte er größere Schritte, ging ohne darüber nachzudenken, wieder in Richtung Flughafen, schritt mit gesenktem Kopf aus und versuchte, nicht das unbarmherzige Klavier zu hören, nicht die alten Kinder zur Kenntnis zu nehmen, die um die Stühle herumspazierten, nicht die ängstlichen Augen über dem vorgeschützten Lächeln zu sehen.
Beim Gehen überlegte er sich, daß seine Hoffnung nicht erfüllt worden war. Er war doch in den Tunnel gestoßen worden, und die Dunkelheit umgab ihn auf allen Seiten.
ZWEITER TEIL
Die heimliche Stadt
Alte Männer müßten Forscher sein.
T. S. Eliot
Kapitel 11
Das Derry der Altvorderen war nicht die einzige heimliche Stadt, die unauffällig innerhalb des Ortes existierte, den Ralph immer als seine Heimat betrachtet hatte; als Junge, der in Mary Mead aufgewachsen war, wo heute die verschiedenen Cape-Cod-Häuserkomplexe standen, hatte Ralph herausgefunden, daß es neben dem Derry der Erwachsenen ein Derry gab, das ausschließlich den Kindern gehörte. Da waren die verlassenen Hobo-Dschungel beim Eisenbahndepot in der Nähe der Neibolt Street, wo man manchmal Tomatensuppendosen finden konnte, die halb mit Currygeschnetzeltem gefüllt waren, und Flaschen mit einem oder zwei Schluck Bier; da war die Gasse hinter dem Aladdin Theater, wo Zigaretten Marke Bull Durham geraucht und manchmal Black Cat Kracher gezündet wurden; da war die große alte Ulme, die über den Fluß hing, wo hunderte Mädchen und Jungs gelernt hatten, wie man ins Wasser springt; da waren die hundert (wahrscheinlich eher zweihundert) verschlungenen Pfade, die durch die Barrens führten, ein zugewachsenes Tal, das sich durch die Stadtmitte erstreckte wie eine schlecht verheilte Narbe.