Sein vorwurfsvoller Ton - als hätte Ralph absichtlich Leim in den Mechanismus einer funktionstüchtigen Maschine geschüttet - erfüllte Ralph mit Ungeduld. »Natürlich haben sie ihn ernstgenommen. Ich habe gesehen, wie zwei Männer ihr Haus verlassen haben, und das habe ich den Behörden gemeldet. Als sie dort ankamen, fanden sie die Lady tot vor. Wie sollten sie den Anruf da nicht ernst nehmen?«
»Warum hast du deinen Namen nicht genannt, als du den Anruf gemacht hast?«
»Ich weiß nicht. Was spielt das schon für eine Rolle? Und wie, um alles in der Welt, können sie sicher sein, daß sie nicht vor Angst einen Herzschlag bekommen hat?«
»Ich weiß nicht, ob sie hundertprozentig sicher sein können«, sagte McGovern und hörte sich jetzt selbst ein wenig gekränkt an, »aber ich denke mir, sie müssen sich ihrer Sache ziemlich sicher sein, wenn sie den Leichnam zur Beerdigung freigeben. Wahrscheinlich ein Bluttest oder so. Ich weiß nur, daß dieser Funderburke -«
»Utterback -«
»- Larry gesagt hat, daß May wahrscheinlich im Schlaf gestorben ist.«
McGovern überkreuzte die Beine, machte sich an den Bügelfalten seiner blauen Hose zu schaffen und betrachtete Ralph mit einem klaren und durchdringenden Blick.
»Ich werde dir einen Rat geben, also hör gut zu. Geh zum Arzt. Jetzt. Heute noch. Geh nicht über Los, zieh keine zweihundert Dollar ein, geh direkt zu Litchfield. Es wird allmählich ernst.«
Die beiden, die aus Mrs. Lochers Haus gekommen sind, haben mich nicht gesehen, aber der vorhin schon, dachte Ralph. Er hat mich gesehen und auf mich gezeigt. Könnte sein, daß er sogar nach mir gesucht hat.
Das war ein hübscher paranoider Gedanke.
»Ralph? Hast du gehört, was ich gesagt habe?«
»Ja. Ich entnehme daraus, du glaubst nicht, daß ich tatsächlich jemanden aus dem Haus von May Locher habe kommen sehen habe.«
»Da hast du ganz recht. Ich habe eben deinen Gesichtsausdruck gesehen, als ich dir sagte, daß ich fünfundvierzig Minuten weg war, und ich habe auch mitbekommen, wie du auf die Uhr gesehen hast. Du hast nicht geglaubt, daß soviel Zeit vergangen war, richtig? Und der Grund dafür ist, du bist eingedöst und hast es nicht einmal bemerkt. Hast ein kleines Nickerchen gemacht. Dasselbe ist dir wahrscheinlich gestern nacht passiert. Nur hast du gestern nacht von den beiden Männern geträumt, und der Traum war so realistisch, daß du nach dem Aufwachen 911 angerufen hast. Klingt das nicht logisch?«
Drei-sechs-neun, dachte Ralph. Die Gans trank Wein.
»Was ist mit dem Fernglas?« fragte er. »Es liegt immer noch auf dem Tisch neben dem Sessel am Fenster. Beweist das nicht, daß ich wach war?«
»Ich wüßte nicht warum. Vielleicht hast du schlaf gewandelt, hast du dir das schon mal überlegt? Du hast die Eindringlinge gesehen, aber du kannst sie nicht richtig beschreiben.«_ »Die grellen orangefarbenen Lampen -«
»Alle Türen waren von innen abgeschlossen… «
»Trotzdem habe ich -«
»Und diese Auren, von denen du gesprochen hast. Die Schlaflosigkeit bewirkt sie - da bin ich mir fast sicher. Aber es könnte ernster sein.«
Ralph stand auf, ging die Treppe hinunter, blieb am Anfang des Fußwegs stehen und drehte McGovern den Rücken zu. In seinen Schläfen pochte es, und sein Herz schlug schnell. Zu schnell.
Er hat nicht nur auf mich gezeigt. Ich hatte gleich beim erstenmal recht, der kleine Hurensohn hat mich markiert. Und er war kein Traum. Ebenso wenig wie die, die ich aus Mrs. Lochers Haus habe kommen sehen. Ich bin mir ganz sicher.
Selbstverständlich, Ralph, antwortete eine andere Stimme. Verrückte sind immer überzeugt, daß die verrückten Sachen, die sie sehen und hören, wirklich sind. Das macht sie ja verrückt, nicht die Halluzinationen selbst. Wenn du wirklich gesehen hast, was du zu sehen glaubtest, was ist dann aus Mrs. Bennigan geworden? Und dem Lastwagen von Budweiser? Wie hast du die fünfundvierzig Minuten verlieren können, die McGovern mit Larry Perrault telefoniert hat?
»Du leidest an einigen ziemlich schwerwiegenden Symptomen«, sagte McGovern hinter ihm, und Ralph fand, er hörte etwas Schreckliches in der Stimme des Mannes. Genugtuung? Konnte es tatsächlich Genugtuung sein?
»Einer hatte eine Schere bei sich«, sagte Ralph, ohne sich umzudrehen. »Ich habe sie gesehen.«
»Ach, komm schon, Ralph! Denk nach! Benutz dein Gehirn und denk nach! An einem Sonntagnachmittag, keine vierundzwanzig Stunden vor deiner Akupunkturbehandlung, kommt ein Irrer und spießt dich fast mit dem Messer auf. Ist es ein Wunder, daß dein Gehirn in der Nacht einen Alptraum fabriziert, in dem ein scharfer Gegenstand vorkommt? Aus Hongs Nadeln und Pickerings Jagdmesser ist eine Schere geworden, das ist alles. Siehst du nicht ein, daß diese Hypothese alles erklärt, während das, was du gesehen haben willst, überhaupt nichts erklärt?« »Und ich habe geschlafwandelt, als ich das Fernglas geholt habe? Denkst du das?«
»Es wäre möglich. Wahrscheinlich.«
»Auch das mit der Spraydose in meiner Jackentasche, richtig? Der alte Dor hatte überhaupt nichts damit zu tun.«
»Mich interessieren die Spraydose und der alte Dor nicht!« schrie McGovern. »Du interessierst mich. Du leidest seit April oder Mai an Schlaflosigkeit, du bist seit dem Tod von Carolyn deprimiert und niedergeschlagen -«
»Ich bin nicht deprimiert!« brüllte Ralph. Auf der anderen Straßenseite blieb der Briefträger stehen und sah zu ihnen herüber, bevor er in Richtung Park weiterging.
»Wie du willst«, sagte McGovern. »Du warst nicht deprimiert. Außerdem hast du nicht geschlafen, du siehst Auren, Typen mitten in der Nacht aus abgeschlossenen Häusern kommen… « Und dann sagte McGovern mit trügerisch unbekümmerter Stimme das, wovor Ralph sich die ganze Zeit gefürchtet hatte: »Du solltest aufpassen, alter Junge. Du hörst dich verdächtig wie Ed Deepneau an.«
Ralph drehte sich um. Heißes Blut pulsierte hinter seinem Gesicht. »Warum tust du das? Warum versuchst du so sehr, mir eins auszuwischen?«
»Ich versuche nicht, dir eins auszuwischen, Ralph, ich versuche, dir zu helfen. Dein Freund zu sein.«
»Den Eindruck habe ich nicht.«
»Nun, manchmal tut die Wahrheit ein bißchen weh«, sagte McGovern ruhig. »Du solltest zumindest über die Möglichkeit nachdenken, daß dein Körper und dein Geist versuchen, dir etwas zu sagen. Ich will dir eine Frage stellen - war das der einzige beunruhigende Traum, den du in letzter Zeit gehabt hast?«
Ralph dachte ganz kurz an Carol, die bis zum Hals im Sand begraben war und von Spuren des weißen Mannes kreischte. An die Käfer, die aus ihrem Kopf gequollen waren. »Ich hatte in letzter Zeit überhaupt keine Alpträume«, sagte er steif. »Ich nehme an, das wirst du mir nicht glauben, weil es nicht in das kleine Drehbuch paßt, das du dir zurechtgelegt hast.« »Ralph -«
»Ich will dich etwas fragen. Glaubst du wirklich, es war nur ein Zufall, daß ich diese beiden Männer gesehen habe und May Locher gestorben ist?«
»Vielleicht nicht. Vielleicht hat dein körperlich und emotional aufgewühlter Zustand Bedingungen geschaffen, die eine echte übersinnliche Wahrnehmung ermöglicht haben.«
Ralph schwieg.
»Ich glaube, daß so etwas von Zeit zu Zeit vorkommt«, sagte McGovem und stand auf. »Hört sich von einem rationalen alten Vogel wie mir wahrscheinlich komisch an, aber es ist so. Ich will nicht behaupten, daß es sich tatsächlich so abgespielt hat, aber es könnte sein. Ich bin aber ganz sicher, daß die beiden Männer, die du gesehen hast, in Wirklichkeit nicht existiert haben.«
Ralph sah zu McGovern auf; er hatte die Hände in den Taschen stecken und so fest zu Fäusten geballt, daß sie sich wie Steine anfühlten. Er konnte die Muskeln in seinen Armen vibrieren spüren.
McGovern kam die Verandastufen herunter und hielt ihn dicht über dem Ellbogen behutsam am Arm. »Ich glaube nur…«
Ralph zog den Arm so ruckartig weg, daß McGovern überrascht grunzte und ein wenig stolperte. »Ich weiß, was du glaubst.«