[»Rosalie! Komm hierher, Mädchen! Los!«]
Rosalie stieß ein kurzes Bellen aus und kam zu Ralph getrottet. Sie versteckte sich hinter seinem rechten Bein, setzte sich und sah hechelnd zu ihm auf. Und Ralph sah noch einen Ausdruck, den er mühelos lesen konnte: ein Teil Erleichterung und zwei Teile Dankbarkeit.
Das Gesicht von Doc Nr. 3 verzerrte sich zu einer so haßerfüllten Grimasse, daß es fast wie eine Karikatur aussah.
[Du solltest sie besser herüberschicken, Kurzer! Ich warne dich!]
[»Nein!«]
[Ich mach dich zur Sau, Kurzer. Ich mach dich im großen Stil zur Sau. Und ch mach deine Freunde zur Sau. Hast du mich verstanden? Hast du… ]
Ralph hob plötzlich eine Hand mit nach innen gekehrter Handfläche zum Kopf, als wollte er einen Karateschlag führen. Er ließ die Hand herunterfahren und sah zu seinem Erstaunen, wie ein gebündelter blauer Lichtstrahl von seinen Fingerspitzen flog und wie ein Speer über die Straße sauste. Doc Nr. 3 duckte sich gerade noch rechtzeitig und legte eine Hand auf McGoverns Panama, damit er nicht fortflog. Der blaue Strahl zischte sechs bis acht Zentimeter über die kleine Hand hinweg und prallte gegen das Fenster des Buffy-Buffy. Dort breitete er sich wie eine übernatürliche Flüssigkeit aus, und einen Augenblick nahm die staubige Scheibe die klare, blaue Farbe des Himmels an. Diese verblaßte nach einem Moment wieder, und Ralph konnte die Frauen in der Wäscherei sehen, die ihre Wäsche zusammenlegten und die Waschmaschinen füllten, als wäre nichts geschehen.
Der kahlköpfige Zwerg streckte sich, ballte die Hände zu Fäusten und drohte Ralph damit. Dann riß er McGoverns Hut vom Kopf, steckte die Krempe in den Mund und biß ein Stück davon ab. Während er dieses bizarre Gegenstück zum Wutanfall eines Kindes ausführte, ließ die Sonne feurige Funken von seinen kleinen, perfekt geformten Ohrläppchen abprallen. Er spie den Mundvoll Stroh aus und setzte sich den Hut wieder auf den Kopf.
[Dieser Hund hat mir gehört, Kurzer! Ich wollte mit ihm spielen! Ich schätze, ich werde statt dessen mit dir spielen müssen, hm? Und mit deinen Freunden, den Arschlöchern!]
[»Verzieh dich.«]
[Fotzenlecker! Du hast deine Mutter gefickt und ihre Fotze geleckt!]
Ralph wußte genau, wo er diesen netten Spruch schon einmal gehört hatte: von Ed. Deepneau, draußen beim Flughafen, an dem Tag, als er den Mann im Ford Ranger geschlagen hatte. So etwas vergaß er nicht. Und mit einemmal hatte er schreckliche Angst. Wo, in Gottes Namen, war er da nur hineingestolpert?
5
Ralph hob die Hand wieder zum Kopf, aber etwas in seinem Inneren hatte sich verändert. Er hätte sie wieder heruntersausen lassen können, war aber fest davon überzeugt, daß diesmal kein blauer Strahl herauskommen würde.
Aber der Doc schien nicht zu wissen, daß er mit einer leeren Waffe bedroht wurde. Er wich zurück und hob die Hand mit dem Skalpell zu einer abwehrenden Geste. Der grotesk angebissene Hut rutschte ihm in die Augen, und einen Augenblick sah er wie eine melodramatische Bühnenversion von Jack the Ripper aus… einer, der durch extreme Kleinwüchsigkeit bedingte pathologische Perversionen auslebte.
[Das wirst du mir büßen, Kurzer1. Wart’s nur ab! Wirst schon sehen! Kein Kurzfristiger hält mich zum Narren!]
Aber vorläufig hatte der kleine kahlköpfige Doktor genug. Er wirbelte herum und lief den unkrautüberwucherten Weg zwischen der Wäscherei und dem Mietshaus entlang, und sein schmutziger, zu langer Kittel flatterte um die Beine der Jeans. Mit ihm verschwand die Helligkeit aus dem Tag. Ralph verfolgte seine Flucht zum größten Teil mit Sinnen, von denen er nicht einmal etwas geahnt hatte. Er fühlte sich hellwach, belebt und explodierte fast vor entzückter Aufregung.
Ich habe ihn vertrieben, bei Gott! Ich habe den kleinen Hurensohn vertrieben!
Er hatte keine Ahnung, was die Kreatur in dem weißen Kittel tatsächlich sein konnte, aber er wußte, er hatte Rosalie davor gerettet, und das genügte vorerst. Wenn er morgen in den frühen Morgenstunden in seinem Ohrensessel saß und auf die verlassene Straße hinuntersah, stellten sich vielleicht wieder nagende Zweifel an seinem Geisteszustand ein… aber im Augenblick fühlte er sich pudelwohl.
»Du hast ihn gesehen, Rosalie, oder nicht? Du hast den häßlichen kleinen -«
Er sah nach unten, stellte fest, daß Rosalie nicht mehr neben seinem Fuß saß, und konnte gerade noch erkennen, wie sie in den Park hinkte - sie ließ den Kopf hängen, und ihr rechtes Bein wurde bei jedem schmerzhaften Schritt steif abgespreizt.
»Rosalie!« rief er. »He, Mädchen!« Und ohne zu wissen warum
- davon abgesehen, daß sie beide gerade etwas Außergewöhnliches durchgemacht hatten -, folgte Ralph ihr in den Park, zuerst gehend, dann laufend, und zuletzt in einem regelrechten Sprint.
Aber er sprintete nicht lange. Ein Schmerz wie der Stich einer heißen Chromnadel bohrte sich in seine linke Seite und breitete sich dann über die ganze linke Hälfte seines Brustkorbs aus. Er blieb dicht innerhalb des Parks stehen, bückte sich an der Kreuzung zweier Wege und stemmte die Hände dicht oberhalb der Knie an die Beine. Schweiß lief ihm in die Augen und brannte wie Tränen. Er keuchte abgehackt und fragte sich, ob es sich um ein ganz normales Seitenstechen handeln konnte, wie er es von den letzten Metern des HighSchool-Wettlauf s über eine Meile in Erinnerung hatte, oder ob sich so ein tödlicher Herzinfarkt ankündigte.
Nach dreißig oder vierzig Sekunden ließen die Schmerzen allmählich nach, daher war es vielleicht doch nur ein Seitenstechen gewesen. Aber es stützte McGoverns These nicht unerheblich, oder? Ich will dir was sagen, Ralph - in unserem Alter sind Geisteskrankheiten was ganz Normales! In unserem Alter sind sie was völlig Normales! Ralph wußte nicht, ob das stimmte, aber er wußte, die Zeit, als er an dem Rennen teilgenommen hatte, lag über ein halbes Jahrhundert zurück, daher war es dumm und wahrscheinlich gefährlich gewesen, einfach so hinter Rosalie herzulaufen. Wenn er einen Herzanfall bekommen hätte, dann wäre er wahrscheinlich nicht der einzige alte Mann gewesen, der mit einer Koronarthrombose dafür bestraft wurde, wenn er sich aufregte und vergaß, daß man die Achtzehn für immer überschritten hatte, wenn man sie einmal überschritten hatte.
Die Schmerzen waren fast abgeklungen, als er wieder zu Atem kam, aber seine Beine schienen immer noch weich zu sein, als könnten sie an den Knien abknicken und ihn ohne Vorwarnung auf den Kiesboden stürzen lassen. Ralph hob den Kopf, schaute zur nächsten Bank und sah etwas, bei dem er streunende Hunde, wacklige Beine und sogar mögliche Herzanfälle im Handumdrehen vergaß. Die nächste Bank lag zwölf Meter entfernt am linken Weg auf einem sanft geschwungenen Hügel. Lois Chasse saß in ihrem guten blauen Herbstmantel auf dieser Bank. Sie trug Handschuhe, hatte die Hände auf dem Schoß gefaltet und schluchzte, als würde ihr das Herz brechen.
Kapitel 12
»Was hast du, Lois?«
Sie sah zu ihm auf, und Ralph erschrak im ersten Moment. Der erste Gedanke, der ihm durch den Kopf ging, war eine Erinnerung: an ein Theaterstück, das er vor acht oder neun Jahren mit Carolyn im Penobscot Theater in Bangor besucht hatte. Einige der Personen darin waren angeblich tot gewesen, und ihr Make-up bestand aus weißer Clownsschminke mit dunklen Ringen unter den Augen, die den Eindruck riesiger, leerer Augenhöhlen vermitteln sollten.
Sein zweiter Gedanke war einfacher: Waschbär.
Sie sah ihm ein paar seiner Gedanken entweder an oder wußte, wie sie aussehen mußte, denn sie wandte sich ab, machte sich kurz am Griff ihrer Handtasche zu schaffen und hob dann einfach die Hände, um das Gesicht dahinter zu verbergen.
»Geh weg, Ralph, ja?« fragte sie mit belegter, erstickter Stimme. »Ich fühle mich heute nicht besonders wohl.«
Unter normalen Umständen hätte Ralph getan, worum sie ihn gebeten hatte und wäre ohne einen Blick zurück gegangen, ohne mehr als vage Scham darüber zu empfinden, daß er sie hilflos und mit verschmierter Wimperntusche gesehen hatte. Aber dies waren keine normalen Umstände, und Ralph beschloß, daß er nicht gehen würde -jedenfalls noch nicht. Er verspürte immer noch einen Rest dieser seltsamen Leichtigkeit und wußte, daß die andere Welt, das andere Derry, ganz in der Nähe war. Und da war noch etwas, etwas vollkommen Einfaches und Direktes. Es gefiel ihm nicht, daß Lois, an deren Frohnatur er nie gezweifelt hatte, hier saß und sich die Augen aus dem Kopf heulte.