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Vielleicht beherrscht der ja die geheime Kunst des Läutens, dachte Ralph. Hat er wahrscheinlich gelernt, indem er einen Kurs der Rosenkreuzer besucht hat.

Wenn ja, zeitigte seine Technik diesmal keine Wirkung. Sie bekamen immer noch keine Antwort, und das überraschte Ralph nicht im geringsten. Er bezweifelte, ob May Locher überhaupt aus dem Bett steigen konnte, seltsame kahlköpfige Männer mit Scheren hin oder her.

Aber wenn sie bettlägerig ist, muß sie eine Hilfe haben, jemanden, der ihr die Mahlzeiten zubereitet, ihr zur Toilette hilft oder die Bettpfanne gibt…

Chris Nell - oder möglicherweise auch Jess - trat wieder vor zur Tür. Diesmal jedoch zog er der Klingel die alte Poch-poch-poch-Im-Namen-des-Gesetzes-aufmachen-Methode vor. Dazu nahm er die linke Faust. Mit der rechten Hand hielt er immer noch die Waffe, den Lauf an das Bein seiner Uniformhose gepreßt.

Ein schreckliches Bild, so klar und deutlich wie die Auren, die er gesehen hatte, kam Ralph plötzlich in den Sinn. Er sah eine Frau mit einer durchsichtigen Sauerstoffmaske über Mund und Nase im Bett liegen. Über der Maske starrten die weit aufgerissenen Augen blicklos aus den Höhlen. Darunter klaffte der Hals zu einem breiten, gezackten Lachen auf. Bettzeug und Nachthemd der Frau waren blutgetränkt. Ganz in der Nähe lag eine zweite Frau Gesicht nach unten auf dem Boden - die Mitbewohnerin. Ein halbes Dutzend Stichwunden der spitzen Schere von Doc Nr. 1 verunzierten den Rücken des rosa Flanellnachthemds dieser Frau. Und Ralph wußte, würde man das Nachthemd hochheben, würde jede Wunde genau wie die unter seinem eigenen Arm aussehen… mit anderen Worten, wie der übergroße Punkt eines Kindes, das gerade Schreiben lernt.

Ralph versuchte, die gräßliche Vision wegzublinzeln. Sie wollte nicht verschwinden. Er verspürte dumpfe Schmerzen in den Händen und stellte fest, daß er sie zu Fäusten geballt hatte; die Nägel gruben sich in seine Handflächen. Er spreizte die Finger und umklammerte seine Oberschenkel. Jetzt sah er vor seinem geistigen Auge, wie die Frau im rosa Nachthemd leicht zuckte -sie war noch am Leben. Aber wahrscheinlich nicht mehr lange. Mit Sicherheit nicht mehr lange, wenn diese beiden Trottel nicht etwas Produktiveres unternahmen, als nur vor der Tür zu stehen und abwechselnd zu klopfen und zu läuten.

»Los doch, Jungs«, sagte Ralph und umklammerte seine Oberschenkel noch fester. »Kommt schon, kommt schon, unternehmt etwas, was meint ihr?«

Du weißt, daß du dir das alles nur eingebildet hast, oder nicht? fragte er sich unbehaglich. Ich meine, sicher, es könnten zwei tote Frauen da drüben liegen, könnte sein, aber das weißt du nicht, richtig? Das ist nicht wie bei den Auren oder den Spuren…

Nein, es war nicht wie bei den Auren oder den Spuren, das wußte er, ja. Aber er sah auch, daß da drüben in Nummer 86 niemand die Tür aufmachte, und das sah nicht gerade gut aus für Bill McGoverns alte Klassenkameradin aus Cardville. Er hatte kein Blut an der Schere von Doc Nr. 1 gesehen, aber angesichts der fragwürdigen Qualität des alten Zeiss bewies das nichts. Außerdem hätte der Typ sie abwischen können, bevor er das Haus verlassen hatte. Kaum war ihm dieser Gedanke durch den Kopf gegangen, fügte seine Phantasie dem Bild ein blutiges Handtuch hinzu, das neben der toten Mitbewohnerin im rosa Nachthemd lag.

»Los doch, ihr beiden!« rief Ralph mit leiser Stimme. »Herrgott, wollt ihr die ganze Nacht da stehenbleiben?«

Zwei neue Scheinwerfer leuchteten die Harris Avenue aus. Es handelte sich um eine Ford-Limousine mit rotem Blinklicht auf dem Armaturenbrett. Der Mann, der ausstieg, trug Zivil - graue Popelinwindjacke und eine blaue Strickmütze. Ralph hatte kurz gehofft, der Neuankömmling würde sich als Johnny Leydecker entpuppen, obwohl Leydecker ihm gesagt hatte, daß er erst um die Mittagszeit kommen würde, aber er brauchte das Fernglas nicht, um sich zu vergewissern, daß er es nicht war. Dieser Mann war viel schlanker und trug einen dunklen Schnurrbart. Cop Nr. 2 kam ihm auf dem Fußweg entgegen, während Chris-oder Jess Nell um die Ecke von Mrs. Lochers Haus verschwand.

Es folgte eine der Pausen, die im Film erfreulicherweise geschnitten wurden. Cop Nr. 2 steckte die Waffe ein. Er und der gerade eingetroffene Detective standen vor der Treppe zu Mrs. Lochers Veranda, unterhielten sich anscheinend und warfen ab und zu einen Blick auf die geschlossene Tür. Einmal machte der uniformierte Polizist einen Schritt in die Richtung, in die Nell gegangen war. Der Detective hielt ihn am Arm fest und hinderte ihn daran. Sie redeten weiter miteinander. Ralph stieß einen leisen Grunzlaut der Hilflosigkeit aus.

Ein paar Minuten krochen dahin, und dann geschah alles gleichzeitig auf diese verwirrende, sich überschlagende, unschlüssige Weise, mit der sich Notfallsituationen zu entwickeln scheinen. Ein drittes Polizeiauto traf ein (Mrs. Lochers Haus und die benachbarten Häuser wurden jetzt wechselweise in rotes und gelbes Licht getaucht). Zwei weitere uniformierte Beamte stiegen aus, öffneten den Kofferraum und holten einen klobigen Apparat heraus, der für Ralph wie ein tragbares Folterinstrument aussah. Er glaubte, daß man dieses Gerät als »Jaws of Life« bezeichnete. Nach dem schweren Sturm des Jahres 1985, einem Sturm, bei dem über vierzig Menschen ums Leben gekommen waren - von denen viele in ihren Autos feststeckten und ertranken -, hatten die Schulkinder von Derry Geld gesammelt, um eines zu kaufen.

Während die beiden neuen Cops die Jaws of Life über den Bürgersteig trugen, ging die Eingangstür des Hauses oberhalb von Mrs. Lochers auf, und die Eberlys, Stan und Georgina, kamen auf ihre Veranda heraus. Ihre Haare standen zerzaust vom Kopf ab, wobei Ralph an Charlie Pickering denken mußte. Er hob das Fernglas, betrachtete kurz ihre neugierigen, aufgeregten Gesichter und legte es wieder in den Schoß.

Als nächstes kam ein Krankenwagen vom Derry Home Hospital. Die Sirene war mit Rücksicht auf die frühe Morgenstunde nicht eingeschaltet, wie bei den Streifenwagen, aber das ganze Dach schien voller Rotlichter zu sein, und die blinkten allesamt hektisch. Für Ralph sah die Szene auf der anderen Straßenseite wie aus einem seiner geliebten Dirty-Harry-Filme aus - mit abgestelltem Ton.

Die beiden Cops schleppten die Jaws of Life halb über den Rasen, dann stellten sie sie ab. Der Detective mit der Windjacke und der Strickmütze drehte sich zu ihnen um und hob die Hände mit ausgebreiteten Handflächen auf Schulterhöhe, als wollte er sagen: Was habt ihr denn mit dem Ding vorgehabt? Die gottverdammte Tür aufbrechen? Im selben Augenblick kam Officer Nell wieder hinter dem Haus hervor. Er schüttelte den Kopf.

Der Detective mit der Mütze drehte sich unvermittelt um, ging an Nell und seinem Partner vorbei die Treppe hinauf, hob einen Fuß und trat May Lochers Eingangstür ein. Er wartete einen Moment, machte den Reißverschluß der Jacke auf, wahrscheinlich, damit er an seine Waffe herankam, und betrat das Haus dann, ohne sich noch einmal umzusehen.

Ralph hätte am liebsten applaudiert.

Nell und sein Partner sahen einander unsicher an, dann folgten sie dem Detective die Treppe hinauf und zur Tür hinein. Ralph beugte sich nach weiter in seinem Sessel nach vorne, so weit, daß seine Nasenlöcher kleine Nebelwölkchen auf der Scheibe erzeugten. Drei Männer, deren weiße Anzüge im Schein der grellen orangefarbenen Laternen leuchteten, stiegen aus dem Krankenwagen aus. Einer machte die Hecktür auf, und danach standen die drei einfach nur mit den Händen in den Hosentaschen herum und warteten darauf, ob man sie brauchte. Die beiden Polizisten, die die Jaws of Life halb über Mrs. Lochers Rasen getragen hatten, sahen einander an, zuckten die Achseln, hoben sie wieder auf und trugen sie zu dem Streifenwagen zurück. Mehrere tiefe Druckstellen waren im Rasen zu sehen, wo sie sie abgestellt hatten.

Hoffentlich ist ihr nichts geschehen, dachte Ralph. Hoffentlich geht es ihr gut - und allen anderen, die bei ihr im Haus gewesen sind.

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