Der Detective erschien wieder unter der Tür, und Ralphs Hoffnung sank, als er den Männern winkte, die hinter dem Krankenwagen standen. Zwei zogen eine Bahre mit ausklappbarem Fahrgestell heraus; der dritte blieb, wo er war. Die Männer mit der Bahre gingen schnellen Schrittes den Fußweg entlang zum Haus, aber sie rannten nicht, und als der Sanitäter, der zurückgeblieben war, eine Packung Zigaretten aus der Tasche holte und sich eine anzündete, da wußte Ralph plötzlich - und ohne jeden Zweifel -, daß May Locher tot war.
Stan und Georgina Eberly gingen zu der niederen Hecke, die ihren Vorgarten von Mrs. Lochers trennte. Sie hatten einander die Arme um die Taillen gelegt und sahen für Ralph wie die alt und fett und ängstlich gewordenen Bobbsey Zwillinge aus.
Nun kamen auch andere Nachbarn heraus, die entweder von den Blinklichtern angelockt wurden, oder weil das Telefonnetz in diesem kurzen Abschnitt der Harris Avenue schon heißlief. Die meisten Leute, die Ralph sah, waren alt (»Wir Leute im goldenen Alter«, pflegte Bill McGovern zu sagen, selbstverständlich immer mit seiner sardonisch hochgezogenen Braue), Männer und Frauen, deren Schlaf schon unter günstigsten Bedingungen oberflächlich und leicht zu stören war. Plötzlich wurde ihm klar, daß Ed, Helen und die kleine Natalie die jüngsten Anwohner zwischen hier und der Extension gewesen waren… und jetzt waren die Deepneaus fort.
Ich könnte da runtergehen, dachte er. Ich würde zu ihnen passen. Einer von Bills Leuten im goldenen Alter.
Aber das konnte er nicht. Seine Beine fühlten sich an wie von schwachen Fäden gehaltene Teebeutel, und er war überzeugt, wenn er aufzustehen versuchte, würde er zu Boden stürzen, als wären seine Knochen weich geworden. Daher blieb er sitzen, beobachtete alles von seinem Fenster aus und verfolgte, wie sich das Stück auf der Bühne entwickelte, die zu dieser Zeit stets einsam und verlassen gewesen war… das heißt, abgesehen von den vereinzelten Auftritten Rosalies. Es war ein Schauspiel, das er selbst mit einem einzigen anonymen Telefonanruf inszeniert hatte. Er sah die Notärzte wieder mit der Bahre herauskommen, aber diesmal bewegten sie sich langsamer, weil eine Gestalt unter einem Laken auf der Bahre festgeschnallt war. Rotes und gelbes Licht flackerte abwechselnd über das Laken und die Umrisse von Beinen, Hüften, Armen, Hals und Kopf darunter.
Plötzlich wurde Ralph in seinen Traum zurückversetzt. Er sah seine Frau unter diesem Laken - nicht May Locher, sondern Carolyn Roberts, deren Kopf jeden Moment aufplatzen würde, so daß die schwarzen Käfer, die von ihrem kranken Gehirn fett geworden waren, herausquellen konnten.
Ralph drückte die Handflächen auf die Augen. Ein Laut ein unartikulierter Laut von Trauer und Wut, Grauen und Erschöpfung - entrang sich ihm. So saß er lange Zeit da, wünschte sich, er hätte das alles nie gesehen, und hoffte, daß er den Tunnel niemals würde betreten müssen, sollte es doch einen geben. Die Auren waren seltsam und wunderschön, aber nicht so schön, daß sie den schrecklichen Augenblick seines Traums wettmachen konnten, als er seine am Strand begrabene Frau entdeckt hatte; nicht schön genug, um das Grauen seiner verlorenen, schlaflosen Nächte auszugleichen, ganz zu schweigen vom Anblick der verhüllten Gestalt, die aus dem Haus auf der anderen Straßenseite gerollt wurde.
Aber er wünschte sich nicht nur, daß das Schauspiel zu Ende gehen würde; während er dasaß und die Handflächen auf die geschlossenen Lider preßte, wünschte er sich, daß alles vorbei wäre - einfach alles. Zum erstenmal in den fünfundzwanzigtausend Tagen seines Lebens wünschte sich Ralph Roberts, er wäre tot.
Kapitel 9
An einer Wand des winzigen Zimmers, das Detective John Leydecker als Büro diente, hing ein Filmplakat, das er wahrscheinlich für zwei oder drei Dollar von einer der hiesigen Videotheken bekommen hatte. Es zeigte Dumbo, den Elefanten, der mit ausgestreckten Zauberohren flog. Ein Foto von Susan Days Gesicht war über das von Dumbo geklebt worden, sorgfältig ausgeschnitten, damit der Rüssel erhalten blieb. Der gezeichneten Landschaft darunter hatte jemand ein Hinweisschild hinzugefügt, auf dem stand: DERRY 250.
»Oh, reizend«, sagte Ralph.
Leydecker lachte. »Politisch nicht besonders korrekt, was?«
»Das halte ich für eine Untertreibung«, sagte Ralph und fragte sich, was Carolyn von dem Plakat gehalten hätte - und was Helen davon halten würde. Es war Viertel vor zwei an einem wolkenverhangenen, kalten Montagnachmittag, und er und Leydecker waren gerade aus dem gegenüberliegenden Gerichtsgebäude von Derry zurückgekommen, wo Ralph seine Zeugenaussage über seine Begegnung mit Charlie Pickering tags zuvor abgelegt hatte. Er war von einem stellvertretenden Bezirksstaatsanwalt verhört worden, der für Ralph ausgesehen hatte, als würde er sich in etwa einem oder zwei Jahren zum erstenmal rasieren.
Leydecker hatte ihn begleitet, wie versprochen; er saß in einer Ecke im Büro des Bezirksstaatsanwalts und sagte nichts. Sein Angebot, Ralph zu einer Tasse Kaffee einzuladen, entpuppte sich als leere Versprechung-das teuflisch aussehende Gebräu stammte aus einer Silex in einer Ecke des völlig überfüllten Aufenthaltsraums im ersten Stock des Polizeireviers. Ralph kostete es vorsichtig und stellte zu seiner Erleichterung fest, daß es etwas besser schmeckte, als es aussah.
»Zucker? Sahne?« fragte Leydecker. »Eine Waffe, damit sie darauf schießen können?«
Ralph schüttelte lächelnd den Kopf. »Schmeckt gut… aber es wäre wahrscheinlich ein Fehler, meinem Urteilsvermögen zu trauen. Ich habe meinen Konsum letzten Sommer auf zwei Tassen am Tag eingeschränkt, und seither schmeckt mir jeder Kaffee ziemlich gut.«
»So geht es mir mit Zigaretten - je weniger ich rauche, desto besser schmecken sie. Laster haben es in sich.« Leydecker holte sein Päckchen Zahnstocher heraus, nahm sich einen und steckte ihn in den Mundwinkel. Dann stellte er seine Tasse auf seinen Computer, ging zu dem Dumbo-Plakat und zog die Reißzwecken heraus, die die Ecken festhielten.
»Meinetwegen müssen Sie das nicht tun«, sagte Ralph. »Es ist Ihr Büro.«
»Falsch.« Leydecker zog das sorgfältig ausgeschnittene Foto von Susan Day von dem Plakat, knüllte es zusammen und warf es in den Mülleimer. Dann rollte er das Plakat selbst zu einem engen Zylinder zusammen.
»Oh? Und wie kommt es dann, daß Ihr Name an der Tür steht und die Kinder auf diesem Foto Ähnlichkeit mit Ihnen haben?« Ralph deutete auf ein Foto, das eine untersetzte, hübsche Frau mit zwei Jungs zeigte, schätzungsweise zehn und acht. Die Frau lächelte; die Jungs sahen ernst in die Kamera.
»Es ist mein Name und meine Familie, aber das Büro gehört Ihnen und den anderen Steuerzahlern, Ralph. Und darüber hinaus jedem Nachrichten-Vidioten, der mit einer Minicam hier reinspaziert, und wenn dieses Plakat in den Nachrichten am Mittag auftauchen würde, würde ich eine Menge Ärger bekommen. Ich habe vergessen, es abzuhängen, als ich Freitag abend gegangen bin, und ich hatte fast das ganze Wochenende über frei - was hier ziemlich selten vorkommt, das kann ich Ihnen sagen.«
»Ich nehme an, Sie haben es nicht aufgehängt.« Ralph entfernte einen Stapel Unterlagen vom einzigen Stuhl des Büros und setzte sich darauf.
»Nee. Ein paar Jungs haben am Freitag nachmittag eine Party für mich organisiert. Mit Kuchen, Eis und Geschenken.« Leydecker kramte in seiner Schreibtischschublade und brachte ein Gummiband zum Vorschein. Er schlang es um das Plakat, damit es sich nicht wieder aufrollen konnte, sah amüsiert mit einem Auge durch die Röhre auf Ralph und warf es dann in den Mülleimer. »Ich habe einen Satz Unterhöschen mit den Wochentagen drauf und ausgeschnittenem Schritt bekommen, eine Intimwaschlotion mit Erdbeergeschmack, ein Paket AntiAbtreibungsliteratur der Friends of Life, einschließlich eines Comics mit dem Titel >Denise’ ungewollte Schwangerschaft<, und dieses Plakat.«