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Unter ihm blieb die Harris Avenue still und stumm im Licht der grellen Lampen, die sich in beide Richtungen erstreckten wie der Traum eines Surrealisten von Perspektive. Das Schauspiel kurz, aber voller Dramatik - schien vorbei zu sein. Die Bühne war wieder verlassen. Sie -

Nein, doch nicht ganz verlassen. Rosalie kam aus der Gasse zwischen dem Red Apple und dem Tru-Value-Eisenwarenladen daneben herausgehinkt. Das verblaßte Taschentuch flatterte um ihren Hals. Es war kein Donnerstag, daher standen keine Mülltonnen draußen, die Rosalie untersuchen konnte, und so ging sie rasch den Bürgersteig entlang bis zu May Lochers Haus. Dort blieb sie stehen und senkte die Nase (als er die lange und hübsche Schnauze sah, dachte Ralph, daß sich ein Collie unter Rosalies Vorfahren befunden haben mußte).

Ralph stellte fest, daß dort etwas glänzte.

Er holte das Fernglas wieder aus der Hülle und richtete es auf Rosalie. Dabei schweifte sein Denken wieder zum zehnten

September ab - diesmal zum Treffen mit Bill und Lois vor dem Eingang des Strawford Park. Er erinnerte sich, wie Bill Lois den Arm um die Taille gelegt und sie die Straße entlanggeführt hatte; wie Ralph, als er die beiden zusammen sah, an Ginger Rogers und Fred Astaire hatte denken müssen. Am deutlichsten aber erinnerte er sich an die gespenstischen Spuren, die die beiden hinterlassen hatten - Spuren, die ihn an die alten Tanzunterrichtsdiagramme von Arthur Murray erinnert hatten. Die von Lois waren grau gewesen; die von Bill olivgrün. Damals hatte er sie für Halluzinationen gehalten - in der guten alten Zeit, bevor er die Aufmerksamkeit von Irren wie Charlie Pickering auf sich gezogen und mitten in der Nacht kleine kahlköpfige Ärzte gesehen hatte.

Rosalie schnupperte an einer ähnlichen Spur. Sie hatte dieselbe grüngoldene Farbe wie die Auren, die Doc Nr. 1 und Doc Nr. 2 umgeben hatten. Ralph schwenkte das Fernglas langsam von dem Hund weg und sah weitere Spuren, zwei Linien, die in Richtung des Parks den Bürgersteig entlangführten. Sie verblaßten - er konnte fast sehen, wie sie vor seinen Augen verblaßten -, aber sie waren da.

Ralph richtete das Fernglas wieder auf Rosalie und verspürte plötzlich eine ungeheure Zuneigung zu dem räudigen alten Streuner… warum auch nicht? Wenn er einen letzten, endgültigen Beweis gebraucht hätte, daß er tatsächlich gesehen hatte, was er gesehen zu haben glaubte, dann war es Rosalie.

Wenn die kleine Natalie hier wäre, würde sie sie auch sehen, dachte Ralph… Und dann bestürmten ihn wieder sämtliche Zweifel. Würde sie sie sehen? Wirklich? Er hatte geglaubt, daß das Baby nach den schwachen Auren gegriffen hatte, die seine Finger hinterließen, und er war sicher, sie hatte den geisterhaften grünen Dunst bestaunt, der von den Blumen in der Küche aufgestiegen war, aber wie konnte er sicher sein? Wie konnte überhaupt jemand mit Sicherheit wissen, was ein Baby sah oder anzufassen versuchte?

Aber Rosalie… schau doch, da unten, siehst du sie?

Das Problem war nur, überlegte Ralph, er hatte die Spuren erst gesehen, nachdem Rosalie angefangen hatte, auf dem Bürgersteig zu schnuppern. Vielleicht schnupperte sie ja an einem leckeren Hauch des Briefträgers, und was er sah, gaukelte ihm lediglich sein übermüdeter, schlafloser Geist vor… wie die kleinen kahlköpfigen Ärzte selbst.

Im vergrößerten Bereich des Fernglases hinkte Rosalie nun mit der Schnauze am Boden und langsam wedelndem, struppigem Schwanz die Harris Avenue entlang. Sie ging von der grüngoldenen Spur von Doc Nr. 1 zu der von Doc Nr. 2 und dann wieder zu der von Doc Nr. 1 zurück.

Warum sagst du mir nicht, was diese streunende Hündin verfolgt, Ralph? Hältst du es für möglich, daß ein Hund eine verfluchte Halluzination wittert? Es ist keine Halluzination; es sind Spuren. Richtige Spuren. Die Spuren des weißen Mannes, auf die du achten sollst, wie Carolyn gesagt hat. Das weißt du. Du siehst es.

»Es ist trotzdem verrückt«, sagte er sich. »Verrückt!«

Aber war es das? Wirklich? Der Traum war möglicherweise mehr als ein Traum gewesen. Wenn es so etwas gab wie Hyperrealität - und das konnte er mittlerweile beschwören -, dann konnte es auch so etwas wie Präkognition geben. Oder Gespenster, die in Träumen erschienen und die Zukunft vorhersagten. Wer weiß? Es war, als wäre eine Tür in der Mauer der Wirklichkeit geöffnet worden… und jetzt konnten alle möglichen unerwünschten Erscheinungen durchkommen.

Eines wußte er mit Sicherheit: Die Spuren waren wirklich da. Er sah sie, Rosalie roch sie, und das war alles. Ralph hatte in den sechs Monaten seiner Schlaflosigkeit eine Anzahl seltsamer und interessanter Dinge herausgefunden, darunter auch, daß die Fähigkeit, sich selbst etwas vorzumachen, zwischen drei und sechs Uhr morgens ihren Tiefststand erreicht zu haben schien, und jetzt war es…

Ralph beugte sich nach vorne, damit er die Uhr an der Küchenwand sehen konnte. Kurz nach halb vier. Hm-hmm.

Er hob das Fernglas wieder hoch und sah, daß Rosalie immer noch den Spuren der kahlköpfigen Ärzte folgte. Sollte jemand jetzt die Harris Avenue entlanggeschlendert kommen -unwahrscheinlich um diese Tageszeit, aber nicht ausgeschlossen -, würde er nur einen streunenden Köter mit schmutzigem Fell sehen, der ziellos wie unerzogene, herrenlose Hunde überall auf dem Bürgersteig herumschnupperte. Aber Ralph konnte sehen, was Rosalie schnupperte, und darum glaubte er nun endlich seinen Augen. Möglicherweise änderte sich das wieder, wenn die Sonne aufging, aber im Augenblick wußte er hundertprozentig, was er sah.

Rosalie hob plötzlich den Kopf. Sie spitzte die Ohren. Einen Moment war sie fast schön anzusehen, so wie ein vorstehender Jagdhund schön ist. Dann ging sie, Sekunden bevor die Scheinwerfer eines Autos, das sich der Kreuzung Harris Avenue und Witcham Street näherte, die Straße ausleuchteten, den Weg zurück, den sie gekommen war - mit ihrem hinkenden, schwankenden Gang, und sie tat Ralph leid. Wenn man es recht überlegte, war Rosalie nicht auch eine der Harris Avenue Altvorderen, der nicht einmal ab und zu der Trost einer Partie Romme oder Poker um Pennys mit ihresgleichen vergönnt war? Sie verschwand in der Gasse zwischen dem Red Apple und dem Eisenwarenladen, und Sekunden später bog ein Streifenwagen der Polizei von Derry um die Ecke und rollte langsam die Straße entlang. Die Sirene war nicht eingeschaltet, wohl aber das Blinklicht. Es ließ die schlafenden Häuser und kleinen Geschäfte in diesem Teil der Harris Avenue abwechselnd rot und blau aufleuchten.

Ralph legte das Fernglas auf den Schoß, beugte sich auf dem Sessel nach vorne, stützte die Unterarme auf die Oberschenkel und wartete gespannt. Sein Herz schlug so fest, daß er es in den Schläfen spüren konnte.

Vor dem Red Apple bremste der Streifenwagen auf Schritttempo. Der Suchscheinwerfer an der rechten Seite wurde eingeschaltet, der Lichtstrahl wanderte an den Fassaden der schlafenden Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite entlang. In den meisten Fällen glitt er auch über Hausnummern neben Türen oder an Verandabalken. Als er die Nummer von May Lochers Haus anstrahlte (86, sah Ralph, und er brauchte das Fernglas nicht, um es zu entziffern), leuchteten die Bremslichter auf, und der Wagen kam zum Stillstand.

Zwei uniformierte Polizisten stiegen aus und näherten sich dem Fußweg zum Haus, ohne etwas von dem Mann zu ahnen, der sie von einem dunklen Fenster im ersten Stock auf der anderen Straßenseite beobachtete, und ohne die gold-grünen Fußspuren zu sehen, über die sie schritten. Sie unterhielten sich miteinander, und Ralph hob das Fernglas erneut, damit er sie besser sehen konnte. Er war ziemlich sicher, daß es sich bei dem jüngeren der beiden um den uniformierten Beamten handelte, der mit Leydecker bei Ed gewesen war, als sie Ed festgenommen hatten. Knoll? War das sein Name gewesen?

»Nein«, murmelte Ralph. »Nell. Chris Nell. Oder vielleicht Jess.«

Nell und sein Partner schienen ein ernstes Gespräch über etwas zu führen - viel ernster als das der beiden kahlköpfigen Ärzte, bevor sie fortgegangen waren. Das Gespräch endete damit, daß die beiden Polizisten ihre Schußwaffen zogen und dann nacheinander die schmale Treppe von Mrs. Lochers Haus hinaufgingen, Nell voraus. Er läutete an der Tür, wartete, läutete noch einmal. Diesmal hielt er den Knopf gute fünf Sekunden lang gedrückt. Sie warteten noch einen Moment, dann drängte sich der zweite Polizist an Nell vorbei und versuchte selbst sein Glück an der Klingel.

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