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»Ja«, sagte er, »das kann ich mir vorstellen. Helen, warum nimmst du nicht einfach deine Tablette und läßt es eine Weile dabei bewenden?«

»Mach ich, aber vorher wollte ich mich bedanken.« »Du weißt, daß das nicht nötig ist.«

»Ich glaube nicht, daß ich das weiß«, sagte sie, und Ralph war froh, die Gefühlsregung in ihrer Stimme zu hören. Es bedeutete, daß die eigentliche Helen Deepneau immer noch da war. »Ich bin immer noch wütend auf dich, Ralph, aber ich bin froh, daß du nicht auf mich gehört hast, als ich dich gebeten habe, nicht die Polizei zu rufen. Es ist nur so, daß ich Angst hatte, weißt du? Angst.«

»Helen, ich…« Seine Stimme klang belegt und brach fast. Er räusperte sich und versuchte es noch einmal. »Ich wollte nur nicht, daß du noch schlimmer verletzt werden würdest, als du es schon warst. Als ich dich mit dem blutigen Gesicht über den Parkplatz kommen sah, hatte ich solche Angst…«

»Sprich nicht mehr davon. Bitte. Ich müßte weinen, und ich kann nicht mehr weinen.«

»Okay.« Er hatte tausend Fragen über Ed, aber dies war eindeutig nicht der Zeitpunkt, sie zu stellen. »Kann ich dich morgen besuchen kommen?«

Nach kurzem Zögern sagte Helen : »Ich glaube nicht. Vorerst nicht. Ich muß viel nachdenken, mir über vieles klar werden, und das wird nicht leicht. Ich melde mich bei dir, Ralph. Okay?«

»Natürlich. Wie du willst. Was machst du mit dem Haus?«

»Candys Mann geht hin und schließt es ab. Ich habe ihm meine Schlüssel gegeben. Gretchen Tillbury sagt, Ed darf um nichts auf der Welt hingehen, nicht einmal, um sein Scheckbuch zu holen oder frische Unterwäsche anzuziehen. Wenn er etwas braucht, gibt er eine Liste und den Hausschlüssel einem Polizisten, und der Polizist geht es holen. Ich vermute, er geht nach Fresh Harbor. Dort gibt es eine Menge Unterkünfte für Laborangestellte. Diese kleinen Hütten. Irgendwie sind sie niedlich… « Das kurze Aufflackern des Feuers in ihrer Stimme, das er gehört hatte, war längst erloschen. Jetzt hörte sich Helen deprimiert, verloren und sehr, sehr müde an.

»Helen, es freut mich, daß du angerufen hast. Und ich bin erleichtert, das muß ich sagen. Und jetzt geh schlafen.«

»Was ist mit dir, Ralph?« fragte sie unerwartet. »Schläfst du neuerdings?«

Der abrupte Themenwechsel verblüffte ihn so, daß er so aufrichtig antwortete, wie es ihm andernfalls vielleicht nicht möglich gewesen wäre. »Etwas… aber vielleicht nicht soviel, wie ich brauche. Wahrscheinlich nicht soviel, wie ich brauche.«

»Nun, gib auf dich acht. Du warst heute sehr tapfer, wie ein Ritter in einer Geschichte von König Artus, aber ich glaube, selbst Sir Lancelot mußte sich ab und zu einmal ausruhen.«

Das rührte ihn und amüsierte ihn gleichzeitig. Im Geiste sah er kurz ein überaus deutliches Bild vor sich: Ralph Roberts in Rüstung und auf einem schneeweißen Pferd, während Bill McGovern, sein getreuer Knappe, in Lederwams und mit seinem kecken Panamahut auf einem Pony hinter ihm ritt.

»Danke, mein Schatz«, sagte er. »Ich glaube, so etwas Liebes hat mir keiner mehr gesagt, seit Lyndon Johnson Präsident war. Schlaf so gut du kannst, okay?«

»Okay. Du auch.«

Sie legte auf. Ralph betrachtete das Telefon einen oder zwei Augenblicke nachdenklich, dann legte auch er den Hörer auf. Vielleicht würde er ja tatsächlich gut schlafen. Nach allem, was heute passiert war, hatte er das mit Sicherheit verdient. Aber vorerst beschloß er, nach unten zu gehen, auf der Veranda zu sitzen und einfach abzuwarten, was sich später ergeben würde.

5

McGovern war wieder da und fläzte sich in seinen Lieblingssessel auf der Veranda. Er beobachtete irgend etwas weiter oben auf der Straße und drehte sich nicht gleich um, als sein Hausgenosse die Veranda betrat. Ralph folgte seinem Blick und sah einen blauen Kleinbus einen halben Block entfernt am Bordstein der Harris Avenue auf der Seite des Red Apple parken. DERRY MEDICAL SERVICE stand in großen weißen Buchstaben auf der Hecktür.

»Hi, Bill«, sagte Ralph und ließ sich auch in einen Sessel fallen. Der Schaukelstuhl, auf dem Lois Chasse immer saß, wenn sie herüberkam, stand zwischen ihnen. In der Abenddämmerung war eine leichte Brise aufgekommen und wirkte erfrischend nach der Hitze des Nachmittags; der Schaukelstuhl bewegte sich wie von selbst träge hin und her.

»Hi«, sagte McGovern und sah Ralph an. Er wollte sich abwenden, fuhr aber noch einmal herum. »Mann, du solltest besser die Tränensäcke unter deinen Augen hochstecken. Wenn nicht, wirst du bald drauftreten.« Ralph vermutete, das sollte sich wie eines der galligen kleinen Bonmots anhören, für die McGovern in der ganzen Straße berühmt war, aber in seinen Augen stand aufrichtige Besorgnis geschrieben.

»War ein Scheißtag«, sagte er. Er erzählte McGovern von Helens Anruf, ließ aber alles weg, was ihr McGovern gegenüber vielleicht peinlich sein konnte. Bill hatte nie zu ihren besten Freunden gehört.

»Freut mich, daß es ihr gutgeht«, sagte McGovern. »Ich will dir was sagen, Ralph - du hast mich heute nachmittag schwer beeindruckt, als du die Straße entlanggegangen bist wie Gary Cooper in Zwölf Uhr mittags. Vielleicht war es Wahnsinn, aber es war auch ziemlich cool. Um die Wahrheit zu sagen, ich war schwer beeindruckt von dir.«

Zum zweitenmal innerhalb von fünfzehn Minuten bezeichnete jemand Ralph fast als Helden. Er fühlte sich unbehaglich. »Ich war so wütend auf ihn, daß mir erst später klargeworden ist, wie dumm ich war. Wo bist du gewesen, Bill, ich hab vor einer Weile nach dir gerufen.«

»Ich war auf der Extension spazieren«, sagte McGovern. »Hab versucht, meinen Motor etwas abzukühlen, denke ich. Mir war schlecht, und ich hatte Kopfweh seit Johnny Leydecker und der andere Ed mitgenommen haben.«

Ralph nickte. »Ich auch.«

»Wirklich?« McGovern sah ihn überrascht und ein wenig skeptisch an.

»Wirklich«, antwortete Ralph mit einem knappen Lächeln.

»Wie auch immer, Faye Chapin war draußen beim Picknickgelände, wo die alten Tattergreise normalerweise herumhängen, wenn es warm ist, und hat mich zu einer Partie Schach eingeladen. Das ist vielleicht eine Marke, Ralph - er hält sich für die Reinkarnation von Ruy Lopez, dabei spielt er Schach mehr wie Soupy Sales… und hält nicht eine Sekunde lang den Mund.«

»Aber Faye ist in Ordnung«, sagte Ralph leise.

McGovern schien ihn nicht gehört zu haben. »Und dieser gruselige Dorrance Marstellar war auch dort«, fuhr er fort. »Wenn wir alt sind, dann ist der ein Fossil. Er steht einfach mit einem Gedichtband in der Hand am Zaun zwischen dem Picknickplatz und dem Flughafen und schaut den Flugzeugen beim Starten und Landen zu. Was meinst du, liest er die Bücher wirklich, die er herumträgt, oder sind sie nur Requisiten?«

»Gute Frage«, sagte Ralph, aber er dachte über das Wort nach, das McGovern benutzt hatte, um Dorrance zu beschreiben -gruselig. Er selbst hätte es nicht benützt, aber es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß der alte Dor ein Original war. Er war nicht senil (jedenfalls glaubte Ralph das nicht); es war mehr, als wären seine wenigen Bemerkungen das Produkt eines leicht verschrobenen Geistes und einer leicht gekrümmten Wahrnehmung.

Er erinnerte sich, daß Dorrance letzten Sommer dabeigewesen war, als Ed mit dem Fahrer des Lastwagens aneinandergeraten war. Damals hatte er geglaubt, daß Dorrance’ Ankunft den Festivitäten die Krone des Irrsinns aufsetzte. Und Dorrance hatte etwas Komisches gesagt. Ralph versuchte, sich daran zu erinnern, konnte es aber nicht.

McGovern sah wieder die Straße entlang, wo ein pfeifender junger Mann im Overall gerade aus dem Haus gekommen war, vor dem der Kleinbus von Medical Services parkte. Dieser junge Mann, der aussah, als wäre er höchstens vierundzwanzig und hätte in seinem ganzen Leben noch keinen medizinischen Beistand gebraucht, schob einen Wagen, auf den eine lange grüne Gasflasche geschnallt war.

»Das ist die leere«, sagte McGovern. »Du hast verpaßt, wie sie die volle reingebracht haben.«

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