Ein zweiter junger Mann, ebenfalls in einen Overall gekleidet, kam zur Eingangstür des kleinen Hauses heraus, das gelbe Farbe und dunkelrosa Verzierungen auf unschöne Weise miteinander verband. Er blieb einen Moment auf der Stufe stehen, Hand auf dem Türknauf, und sprach offenbar mit jemand im Inneren. Dann zog er die Tür zu und lief leichtfüßig den Fußweg entlang. Er kam gerade rechtzeitig, daß er seinem Kollegen helfen konnte, den Wagen, auf dem noch die festgeschnallte Flasche lag, ins Heck des Kleinbusses zu heben.
»Sauerstoff?« fragte Ralph.
McGovern nickte.
»Für Mrs. Locher?«
McGovern nickte wieder und sah zu, wie die Arbeiter von Medical Services die Tür des Kleinbusses zuschlugen und dann davor stehenblieben und sich im Dämmerlicht leise unterhielten. »Ich war in der Grundschule und der Junior High mit May Locher zusammen. Drüben in Cardville, Heimat der Tapferen und Land der Kühe. Nur fünf von uns waren in der Abschlußklasse. Damals, in den alten Zeiten, galt sie als ein toller Käfer, und Burschen wie mich nannte man >einen fröhlichen Stutzer.< In dieser heiteren alten Zeit gebrauchte man den Ausdruck >gay< für den Weihnachtsbaum, wenn er geschmückt war, und nicht für Schwule.«
Ralph betrachtete nervös und befangen seine Hände. Er wußte selbstverständlich, daß McGovern homosexuell war, das wußte er schon seit Jahren, aber bis zum heutigen Abend hatte er es nie laut ausgesprochen. Er wünschte sich, Bill hätte es sich für einen anderen Tag aufgehoben… vorzugsweise einen, an dem Ralph selbst sich nicht fühlte, als wäre der größte Teil seines Gehirns durch Watte ersetzt worden.
»Das war vor schätzungsweise tausend Jahren«, sagte McGovern. »Wer hätte gedacht, daß wir einmal beide ans Ufer der Harris Avenue gespült werden würden.«
»Sie hat ein Emphysem, ist es nicht so? Habe ich jedenfalls gehört.«
»Jawohl. Eine dieser Krankheiten, von denen man immer etwas hat. Alt zu werden ist sicher nichts für Memmen, oder?«
»Ganz bestimmt nicht«, sagte Ralph, und dann erkannte sein Verstand die Wahrheit mit plötzlicher Wucht. Er dachte an Carolyn, an die Angst, die er verspürt hatte, als er in seinen durchnäßten Converse-Turnschuhen ins Apartment geputscht kam und sie halb in und halb außerhalb der Küche liegen sah… genau an der Stelle, wo er den größten Teil seines Gesprächs mit Helen gestanden hatte. Ed Deepneau gegenüberzutreten war nichts verglichen mit der Angst, die er in dem Augenblick verspürte, als er glaubte, Carolyn wäre tot.
»Ich kann mich erinnern, als sie May alle zwei Wochen oder so Sauerstoff brachten«, sagte McGovern. »Jetzt kommen sie jeden Dienstag-und Donnerstagabend, wie ein Uhrwerk. Ich gehe sie besuchen wenn ich kann. Manchmal lese ich ihr vor -die langweiligste Frauenzeitschriftenscheiße, die du dir vorstellen kannst -, und manchmal sitzen wir nur da und reden. Sie sagt, es fühle sich an, als würden sich ihre Lungen mit Seetang füllen. Es wird nicht mehr lange dauern. Eines Tages werden sie kommen, und statt einer leeren Sauerstoffflasche werden sie May auf ihren Wagen laden. Sie werden sie ins Derry Home bringen, und das ist das Ende.«
»Waren es Zigaretten?« fragte Ralph.
McGovern bedachte ihn mit einem Ausdruck, der dem schmalen, sanften Gesicht so fremd war, daß Ralph einige Augenblicke brauchte, bis ihm klar wurde, daß es sich um Verachtung handelte. »May Perrault hat in ihrem ganzen Leben keine einzige Zigarette geraucht. Sie bezahlt hier für zwanzig Jahre Arbeit in der Färberei einer Fabrik in Corinna, und weitere zwanzig am Webstuhl einer Fabrik in Newport. Sie versucht, durch Baumwolle, Wolle und Nylon zu atmen, nicht durch Seetang.«
Die beiden jungen Männer von Derry Medical Services stiegen in ihren Kleinbus ein und fuhren davon.
»Maine ist der nordöstliche Anker der Appalachen, Ralph das ist vielen Leuten nicht klar, aber es stimmt - und May stirbt an einer typischen Appalachenkrankheit. Die Ärzte nennen sie Textillunge.«
»Eine Schande. Ich glaube, sie bedeutet dir viel.«
McGovern lachte reumütig. »Nee. Ich besuche sie, weil sie das letzte sichtbare Überbleibsel meiner mißratenen Jugend ist. Manchmal lese ich ihr vor, und ich bringe es immer fertig, einen oder zwei ihrer trockenen alten Weizenschrotkekse runterzuwürgen, aber das ist auch schon alles. Ich versichere dir, mein Mitgefühl ist selbstredend selbstsüchtiger Natur.«
Selbstredend selbstsüchtig, dachte Ralph. Was für ein wirklich seltsamer Ausdruck. Was für ein typischer McGovem-Ausdruck.
»Vergessen wir May«, sagte McGovern. »Die Frage, die Amerikanern allerorten unter den Nägeln brennt, ist die: Was sollen wir deinetwegen unternehmen, Ralph? Der Whiskey hat nicht funktioniert, was?«
»Nein«, sagte Ralph. »Leider nicht.« »Hast du ihm auch eine echte Chance gegeben?«
Ralph nickte.
»Nun, etwas mußt du gegen die Tränensäcke unter den Augen unternehmen, sonst wirst du nie bei der reizenden Lois landen.« McGovern studierte Ralphs Mienenspiel darauf und seufzte. »Nicht besonders komisch, hm?«
»Nee. Es war ein langer Tag.«
»Entschuldige.«
»Macht nichts.«
Sie blieben eine Zeitlang in behaglichem Schweigen sitzen und betrachteten das Kommen und Gehen in ihrem Abschnitt der Harris Avenue. Drei kleine Mädchen spielten auf der anderen Straßenseite Hüpfkästchen auf dem Parkplatz vor dem Red Apple. Mrs. Perrine stand aufrecht wie ein Wachtposten in der Nähe und beobachtete sie. Ein Junge, der seine Red Sox-Baseballmütze verkehrt herum aufgesetzt hatte, ging vorbei und wippte zur Musik seines Walkmans. Zwei Kinder warfen vor Lois’ Haus einen Frisbee hin und her. Ein Hund bellte. Irgendwo rief eine Frau, daß Sam sich seine Schwester schnappen und hereinkommen sollte. Die übliche Serenade des Straßenlebens, nicht mehr und nicht weniger, aber Ralph kam alles seltsam falsch vor. Er vermutete, es lag daran, daß er sich in letzter Zeit so sehr daran gewöhnt hatte, die Harris Avenue verlassen zu sehen.
Er drehte sich zu McGovern um und sagte: »Weißt du, was ich als erstes dachte, als ich dich heute nachmittag auf dem Parkplatz des Red Apple gesehen habe? Obwohl soviel los war?«
McGovern schüttelte den Kopf.
»Ich habe mich gefragt, wo du bloß deinen Hut hast. Den Panama. Ohne ihn bist du mir ziemlich seltsam vorgekommen. Fast nackt. Also rück raus damit - wo hast du ihn gelassen, Junge?«
McGovern berührte seinen Kopf, wo die verbliebenen Strähnen seines feinen weißen Babyhaars sorgsam von links nach rechts über den rosa Schädel gekämmt waren. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich habe ihn heute morgen vermißt. Ich denke fast immer daran, daß ich ihn auf den Tisch neben der Eingangstür werfe, wenn ich reinkomme, aber dort ist er nicht. Ich vermute, ich habe ihn diesmal anderswo abgelegt, und der exakte Standort ist mir vorübergehend entfallen. Laß mir noch ein paar Jahre Zeit, dann werde ich in der Unterwäsche herumlaufen, weil mir nicht mehr einfällt, wo ich meine Hosen gelassen habe. Gehört alles zum wunderbaren Erlebnis des Alterns, richtig, Ralph?«
Ralph nickte und lächelte und dachte bei sich, daß von allen älteren Menschen, die er kannte - und er kannte mindestens drei Dutzend auf einer oberflächlichen Spaziergang-im-Park-, Hallo-wie-geht’s-Basis -, McGovern sich am meisten darüber beschwerte, wie es war, in die Jahre zu kommen. Er schien seine entschwundene Jugend und die mittleren Jahre, die er hinter sich gelassen hatte, so zu betrachten wie ein General ein paar Soldaten, die am Vorabend einer großen Schlacht desertiert sind. Aber das hätte er selbstverständlich niemals zugegeben. Jeder hatte seine kleinen exzentrischen Macken; das theatralisch morbide Gehabe wegen des Älterwerdens war einfach die von McGovern.
»Hab ich was Komisches gesagt?« fragte McGovern.
»Pardon?«
»Du hast gelächelt, daher dachte ich, ich müßte etwas Komisches gesagt haben.« Er hörte sich ein bißchen empfindlich an, besonders für einen Mann, dem es so großen Spaß machte, seinen Hausgenossen wegen einer hübschen Witwe aufzuziehen, aber Ralph dachte daran, daß es auch für McGovern ein langer Tag gewesen war.