»Doch, das muß ich. Ich muß mich bei dir bedanken.«
Ralph lehnte sich an den Türrahmen und machte einen Moment die Augen zu. Er war erleichtert, wußte aber nicht, wie er antworten sollte. Er hatte mit seiner ruhigsten Stimme sagen wollen: Tut mir leid, Helen, daß du so denkst, so sicher war er gewesen, daß sie ihn als erstes fragen würde, warum er sich nicht um seine eigenen Angelegenheiten kümmerte.
Und als hätte sie seine Gedanken gelesen und wollte ihn wissen lassen, daß er nicht völlig danebenlag, sagte Helen : »Den größten Teil der Fahrt und hier in der Notaufnahme, und die erste Stunde hier im Zimmer war ich schrecklich wütend auf dich. Ich habe Candy Shoemaker angerufen, meine Freundin von der Kansas Street, und die ist hergekommen und hat Nat geholt. Sie behält sie die Nacht über bei sich. Sie wollte wissen, was passiert ist, aber ich habe es ihr nicht gesagt. Ich wollte nur hier liegen und wütend auf dich sein, weil du 911 angerufen hast, obwohl ich es dir verboten hatte.«
»Helen…«
»Laß mich ausreden, damit ich meine Tablette nehmen und schlafen kann, okay?«
»Okay.«
»Kurz nachdem Candy mit dem Baby gegangen war - Nat hat Gott sei Dank nicht geweint, ich weiß nicht, wie ich damit fertiggeworden wäre -, kam eine Frau herein. Zuerst dachte ich, sie müßte im falschen Zimmer sein, weil ich sie nicht von Eve kannte, und als mir endlich in den Kopf ging, daß sie mich sehen wollte, sagte ich ihr, daß ich keine Besucher wünschte. Sie hörte nicht auf mich. Sie machte die Tür zu und hob den Rock, damit ich ihren linken Schenkel sehen konnte. Eine tiefe Narbe verlief daran entlang, fast ganz von der Hüfte bis zum Knie.
Sie sagte, ihr Name sei Gretchen Tillbury, sie sei Beraterin für mißhandelte Ehefrauen bei Woman-Care, und ihr Mann habe ihr 1978 mit einem Küchenmesser das Bein aufgeschlitzt. Sie sagte, wenn der Mann aus der Wohnung unter ihr keinen Druckverband angelegt hätte, wäre sie verblutet. Ich sagte ihr, das täte mir sehr leid, ich wollte aber erst über meine eigene Situation sprechen, wenn ich Gelegenheit gehabt hätte, darüber nachzudenken.« Nach einer Pause fuhr Helen fort: »Aber weißt du, das war eine Lüge. Ich hatte genügend Zeit gehabt, darüber nachzudenken, denn Ed hatte mich zum erstenmal vor zwei Jahren geschlagen, lange bevor ich mit Nat schwanger wurde.
Ich habe es einfach… verdrängt.«
»Ich verstehe, daß man das tun kann«, sagte Ralph.
»Diese Frau… nun, sie müssen Leuten wie ihr Unterricht geben, wie man die Abwehrhaltung anderer überwindet.«
Ralph lächelte. »Ich glaube, darin besteht ihre halbe Ausbildung.«
»Sie sagte, ich könnte es nicht hinausschieben, ich befände mich in einer schlechten Lage und müßte mich auf der Stelle damit auseinandersetzen. Ich sagte, was immer ich tun würde, ich müßte es nicht vorher mit ihr besprechen oder mir ihren Mist anhören, nur weil ihr Mann sie einmal geschnitten hatte. Ich hätte fast gesagt, daß er es wahrscheinlich getan hatte, weil sie nicht aufhörte zu reden und ihn in Frieden ließ, kannst du dir das vorstellen? Aber ich war echt sauer, Ralph. Verletzt… verwirrt… beschämt… aber zum größten Teil einfach wütend.«
»Ich glaube, das ist eine ziemlich normale Reaktion.«
»Sie fragte mich, was ich von mir halten würde - nicht von Ed, sondern von mir -, wenn ich die Beziehung fortsetzen und Ed mich wieder verprügeln würde. Und sie fragte mich, was ich von mir halten würde, wenn Ed dasselbe mit Nat machen würde. Das machte mich wütend. Es macht mich noch wütend. Ed hat ihr nie auch nur ein Haar gekrümmt, und das habe ich ihr gesagt. Sie nickte und antwortete: >Das heißt nicht, daß er es nicht einmal tun könnte, Helen. Ich weiß, Sie wollen nicht darüber nachdenken, aber Sie müssen. Nehmen wir einmal an, Sie haben recht. Angenommen, er gibt ihr niemals auch nur einen Klaps auf die Hand. Möchten Sie, daß sie aufwächst und zusehen muß, wie er Sie schlägt? Soll sie aufwachsen und so etwas mit ansehen, was sie heute mit ansehen mußte?< Und das brachte mich zur Besinnung. Eiskalt. Ich erinnerte mich, wie Ed ausgesehen hatte, als er hereinkam… daß ich wußte, als ich sein weißes Gesicht sah… wie er den Kopf bewegte…«
»Wie ein Hahn«, murmelte Ralph.
»Was?«
»Nichts. Sprich weiter.«
»Ich weiß nicht, was ihn zur Raserei gebracht hat… heutzutage weiß ich das nie, aber ich wußte, er würde es an mir auslassen. Wenn ein bestimmter Punkt überschritten wurde, kann man nichts mehr tun oder sagen. Ich lief zum Schlafzimmer, aber er packte mich an den Haaren… er hat mir ein ganzes Büschel ausgerissen… ich schrie… und Natalie saß da in ihrem Hochstuhl… saß da und beobachtete uns… und als ich schrie, schrie sie auch… «
Da brach Helen zusammen und schluchzte hemmungslos. Ralph wartete und lehnte die Stirn an den Rahmen der Tür zwischen Küche und Wohnzimmer. Mit dem Geschirrtuch, das er über der Schulter hängen hatte, wischte er sich, fast ohne es zu merken, selbst die Tränen weg.
»Wie auch immer«, sagte Helen, als sie wieder sprechen konnte, »ich redete schließlich fast eine Stunde mit dieser Frau. Sie nennen es Opferberatung, und sie verdient ihren Lebensunterhalt damit, kannst du dir das vorstellen?«
»Ja«, sagte Ralph, »das kann ich. Es ist eine gute Sache, Helen.«
»Ich werde mich morgen wieder mit ihr treffen, bei Woman-Care. Weißt du, es ist reine Ironie, daß ich dorthin gehe. Ich meine, wenn ich die Petition nicht unterschrieben hätte…«
»Wenn es die Petition nicht gewesen wäre, dann etwas anderes.«
Sie seufzte. »Ja, das wird wohl wahr sein. Es ist wahr. Wie auch immer, Gretchen sagt, ich kann Eds Probleme nicht lösen, aber ich kann anfangen, einige meiner eigenen zu lösen.« Helen fing wieder an zu weinen, dann holte sie tief Luft. »Tut mir leid - ich habe heute so oft geweint, daß ich nie wieder weinen möchte. Ich habe ihr gesagt, daß ich ihn geliebt habe. Ich habe mich geschämt, es zu sagen, und ich bin nicht einmal sicher, ob es wahr ist, aber es scheint wahr zu sein. Ich sagte, ich wollte ihm noch eine Chance geben. Sie sagte, das würde bedeuten, daß ich auch Natalie verpflichten würde, ihm noch eine Chance zu geben, und da mußte ich daran denken, wie sie da in der Küche saß, pürierten Spinat überall im Gesicht, und sich die Seele aus dem Leib schrie, während Ed mich geschlagen hat. Herrgott, ich hasse es, wie Leute wie sie einen in die Ecke treiben und nicht mehr herauslassen.«
»Sie versucht nur, dir zu helfen, mehr nicht.«
»Das stinkt mir auch. Ich bin sehr verwirrt, Ralph. Wahrscheinlich hast du das nicht gewußt, aber es ist so.« Ein müdes Kichern drang aus dem Telefonhörer.
»Schon gut, Helen. Kein Wunder, daß du verwirrt bist.«
»Kurz bevor sie gegangen ist, hat sie mir von High Ridge erzählt. Im Augenblick hört es sich an, als wäre das genau der richtige Ort für mich.«
»Was ist das?«
»Eine Art Reha-Zentrum - sie hat immer wieder darauf bestanden, daß es ein Haus ist, kein Asyl - für mißhandelte Frauen. Was ich jetzt wohl offiziell bin.« Diesmal hörte sich das müde Kichern gefährlich nach einem Schluchzen an. »Ich kann Nat mitnehmen, wenn ich hingehe, und das macht einen Großteil des Reizes aus.«
»Wo liegt es?«
»Auf dem Land. Richtung Newport, glaube ich.«
»Ja, ich glaube, ich habe davon gehört.«
Natürlich wußte er es; Harn Davenport hatte es ihm während seines Vertrags über Woman-Care gesagt. Sie machen Familienberatung, sie kümmern sich um mißbrauchte Frauen und Kinder, und sie leiten ein Frauenhaus drüben an der Stadtgrenze von Newport. Auf einmal schien Woman-Care überall in seinem Leben zu sein. Ed hätte zweifellos eine bedrohliche Verschwörung darin gesehen.
»Diese Gretchen Tillbury ist ein zähes Stück«, sagte Helen. »Kurz bevor sie ging sagte sie mir, es wäre in Ordnung, daß ich Ed liebe - >Es muß in Ordnung sein<, sagte sie, >denn Liebe kommt nicht aus einem Hahn, den man auf-und zudrehen kann, wann man will< -, aber ich dürfte nicht vergessen, daß meine Liebe ihn nicht heilen könnte, daß nicht einmal Eds Liebe zu Natalie ihn heilen könnte, und daß keine noch so große Liebe mich meiner Verantwortung für mein Kind entheben würde. Ich habe im Bett gelegen und darüber nachgedacht. Ich glaube, im Bett zu liegen und wütend zu sein, hat mir besser gefallen. Es war auf jeden Fall einfacher.«