Sag nein, Ralph, dachte sie. Sag NEIN!
Ralph: [»… bereit.«]
Lachesis: [Verstehen… seine Bedingungen… und den Preis?] Ralph, jetzt sichtlich ungeduldig: [»Ja, ja. Können wir jetzt bitte«]
Klotho, mit großem Ernst: [Nun gut, Ralph. So sei es.]
Lachesis legte einen Arm um Ralphs Schultern; er und Klotho führten ihn ein Stück weiter bergab zu der Stelle, wo die jüngeren Kinder im Winter ihre Schlittenfahrten begannen. Dort befand sich eine flache, kreisrunde Stelle, etwa so groß wie die Bühne eines Nachtclubs. Als sie dort angekommen waren, hielt Lachesis Ralph auf, dann drehte er ihn herum, so daß er und Klotho einander gegenüberstanden.
Plötzlich wollte Lois die Augen schließen, stellte aber fest, daß sie es nicht konnte. Sie konnte nur zusehen und beten, daß Ralph wußte, was er tat.
Klotho unterhielt sich murmelnd mit ihm. Ralph nickte und zog den Pullover aus. Er faltete ihn zusammen und legte ihn ordentlich auf das laubbedeckte Gras. Als er sich wieder aufrichtete, ergriff Klotho seinen rechten Arm am Handgelenk und hielt ihn starr ausgestreckt. Dann nickte er Lachesis zu, der Ralphs Manschettenknopf öffnete und mit drei raschen Bewegungen den Ärmel bis zum Ellbogen hochkrempelte. Als das geschehen war, drehte Klotho Ralphs Arm so, daß das Handgelenk nach oben zeigte. Die feinen blauen Adern dicht unter der Haut des Unterarms waren deutlich zu sehen und von feinen Schnörkeln der Aura betont. Das alles kam Lois schrecklich vertraut vor: als würde sie sehen, wie ein Patient in einer Krankenhausfernsehserie für die Operation vorbereitet wurde.
Aber dies war nicht das Fernsehen.
Lachesis beugte sich nach vorne und sagte wieder etwas. Sie konnte die Worte immer noch nicht hören, aber Lois wußte, er sagte Ralph, daß dies seine letzte Chance war.
Ralph nickte, und obwohl seine Aura Lois verriet, daß er große Angst vor dem hatte, was ihm bevorstand, brachte er sogar ein Lächeln zustande. Als er sich zu Klotho umdrehte und auf ihn einsprach, schien er keine Beruhigung zu suchen, sondern tatsächlich ein Wort des Trostes zu sprechen. Klotho versuchte, Ralphs Lächeln zu erwidern, aber ohne Erfolg.
Lachesis legte eine Hand um Ralphs Handgelenk, allerdings (so kam es Lois jedenfalls vor) mehr um den Arm zu stützen, als um ihn tatsächlich reglos zu halten. Er erinnerte sie an eine Schwester, die einem Patienten beisteht, der eine schmerzhafte Injektion bekommt. Dann sah er seinen Partner mit ängstlichen Augen an und nickte. Klotho nickte ebenfalls, holte tief Luft und beugte sich dann über Ralphs Unterarm mit dem geisterhaften Baum blauer Venen, die unter der Haut zu sehen waren. Er hielt einen Moment inne, dann klappte er langsam die Schere auf, mit der er und sein alter Freund das Leben gegen den Tod eintauschten.
Lois kam schwankend auf die Füße und stand unsicher auf Beinen, die sich wie toter Ballast anfühlten. Sie wollte die Lähmung überwinden, die sie in diesem schrecklichen Schweigen gefangenhielt, wollte Ralph zurufen, daß er aufhören sollte - ihm sagen, daß er nicht wußte, was sie mit ihm vorhatten.
Aber er wußte es. Sie sah es an seinem blassen Gesicht, den halb geschlossenen Augen, den schmerzlich zusammengepreßten Lippen. Am deutlichsten aber sah sie es an den schwarzen und roten Flecken, die durch seine Aura rasten wie Meteore, und an der Aura selbst, die sich zu einer harten, blauen Hülle zusammengezogen hatte.
Ralph nickte Klotho zu, der die Schere senkte, bis sie Ralphs Unterarm dicht unter dem Knick des Ellbogens berührte. Einen Augenblick wurde die Haut nur eingedrückt, dann bildete sich eine glatte, dunkle Blutblase, wo die Falte gewesen war. Die Schneide glitt in diese Blase. Als Klotho die Finger spannte und die Scherenblätter zusammendrückte, schnellte die Haut auf beiden Seiten des Längsschnitts zurück wie Jalousien. Das Unterhautfettgewebe glänzte wie schmelzendes Eis im grellen blauen Leuchten von Ralphs Aura. Lachesis hielt Ralphs Handgelenk fester, aber soweit Lois sehen konnte, unternahm Ralph nicht einmal ansatzweise den Versuch, sie zurückzuziehen, er senkte nur den Kopf und ballte die linke Hand zur Faust wie ein Mann, der den Black-Power-Gruß ausführt. Sie konnte die Sehnen an seinem Hals wie Kabel hervortreten sehen. Aber kein Laut kam über seine Lippen.
Jetzt, wo der schreckliche Vorgang tatsächlich begonnen hatte, handelte Klotho mit einer Schnelligkeit, die barmherzig und brutal zugleich war. Er führte rasch einen Schnitt an Ralphs Arm entlang bis zum Handgelenk aus, so wie ein Mann ein fest zugeklebtes Päckchen mit einer Schere öffnen würde, wobei er die Schneide mit den Fingern führte und mit dem Daumen niederdrückte. In Ralphs Arm glänzten Sehnen wie die Schnittflächen von Steaks. Blut lief in Rinnsalen herab, und jedesmal, wenn eine Ader durchschnitten wurde, spritzte es auf. Bald verunzierten Spritzer die weißen Kittel der beiden kleinen Männer, wodurch sie mehr denn je wie kleine Ärzte aussahen.
Als die Schere schließlich die Bänder an Ralphs Handgelenken durchschnitt (die »Operation« dauerte keine drei Sekunden, kam Lois aber wie eine Ewigkeit vor), nahm Klotho die tropfende Schere weg und gab sie Lachesis. Ralphs nach oben gedrehter Arm war vom Ellbogen bis zum Handgelenk aufgeschnitten worden, eine dunkle Furche. Klotho preßte die Hand auf den Ursprung dieser Furche, und Lois dachte: Jetzt wird der andere Ralphs Pullover aufheben und einen Druckverband daraus machen. Aber Lachesis tat nichts dergleichen; er hielt nur die Schere und sah zu.
Einen Augenblick floß das Blut noch zwischen Klothos Fingern hervor, dann hörte es auf. Er zog langsam die Hand an Ralphs Arm hinunter, und die Haut, die unter seinem Griff hervorkam, war unversehrt und fest, aber von einem dicken, weißen Strang Narbengewebe verunziert.
[Lois… Lo-isssss…]
Diese Stimme kam weder aus ihrem Kopf noch von der Stelle bergab; sie kam von hinter ihr. Eine leise Stimme, fast einschmeichelnd. Atropos? Nein, ganz und gar nicht. Sie sah nach unten und erblickte ein grünes und irgendwie versunkenes Licht, das um sie herum schwebte - es strahlte zwischen ihren Armen und Beinen, sogar zwischen ihren Fingern hindurch. Es versetzte ihren hageren und irgendwie verzerrten Schatten in wallende Bewegung, wie den Schatten einer Gehenkten. Es liebkoste sie mit kalten Fingern, die die Farbe von graugrünen Flechten hatten.
[Dreh dich um, Lo-isss… ]
In diesem Augenblick wollte sich Lois als allerletztes auf der Welt umdrehen und die Quelle dieses grünen Lichts ansehen.
[Dreh dich um, Lo-isss… sieh mich an, Lo-isss… komm ins Licht, Lo-isss… komm ins Licht… sieh mich an und komm ins Licht… ]
Es war unmöglich, der Stimme zu widerstehen. Lois drehte sich so langsam wie eine Ballerina um, deren Gelenke eingerostet sind, und in ihren Augen schien Elmsfeuer zu flackern.
Lois kam ins Licht.
Kapitel 28
Klotho: [Jetzt haben Sie Ihr sichtbares Zeichen, Ralph-sind Sie zufrieden?]
Ralph betrachtete seinen Arm. Die Schmerzen, die ihn verschluckt hatten, wie der Wal Jonas verschluckt hatte, kamen ihm bereits wie ein Traum oder ein Trugbild vor. Er vermutete, daß derselbe Akt der Distanzierung es Frauen ermöglichte, viele Babys zu bekommen, weil sie nach jeder vollbrachten Geburt die starken Schmerzen und Anstrengungen vergaßen. Die Narbe sah wie eine unregelmäßige weiße Kordel aus, die sich über die Wölbungen seiner kümmerlichen Muskeln spannte.
»Ja. Ihr wart tapfer und sehr schnell. Für beides danke ich euch.«]
Klotho lächelte, sagte aber nichts.
Lachesis: [Ralph, sind Sie bereit? Die Zeit wird jetzt sehr knapp.]
[»Ja, ich bin -«]
[»Ralph! Ralph!«]
Das war Lois, die oben auf dem Hügel stand und ihm winkte. Einen Augenblick hatte ihre Aura den normalen taubengrauen Farbton verloren und eine andere, dunklere Tönung angenommen, aber dann verschwand der Eindruck, der zweifellos von dem Schock und seiner Müdigkeit herrührte. Er stapfte den Hügel hinauf zu ihr.