Lois’ Augen waren distanziert und benommen, als hätte sie gerade ein erstaunliches Wort vernommen, das ihr Leben verändern würde.
[»Lois, was ist denn? Was hast du? Ist es mein Arm? Wenn ja, mußt du dir keine Sorgen machen. Schau her! So gut wie neu!«]
Er hielt ihn hoch, damit sie sich selbst vergewissern konnte, aber Lois sah ihn nicht an. Statt dessen sah sie ihm ins Gesicht, und er erkannte das Ausmaß ihres Schocks.
[»Ralph, ein grüner Mann ist gekommen.«]
Ein grüner Mann? Er ergriff sofort besorgt ihre Hände.
[»Grün? Bist du sicher? War es nicht Atropos oder -«]
Er führte den Gedanken nicht zu Ende. Es war nicht nötig.
Lois schüttelte langsam den Kopf.
[»Es war ein grüner Mann. Wenn es in diesem Spiel Seiten gibt, weiß ich nicht, auf welcher dieser… diese Person… steht. Er schien gut zu sein, aber ich könnte mich irren. Ich konnte ihn nicht sehen. Seine Aura war zu grell. Er sagte mir, daß ich dir die hier wiedergeben soll.«]
Sie streckte die Hand aus und ließ zwei kleine, glitzernde Gegenstände auf seine Handfläche fallen: ihre Ohrringe. Er konnte auf einem einen kastanienfarbenen Fleck sehen und vermutete, daß das Atropos’ Blut war. Er wollte die Hand darum schließen, zuckte aber zusammen, als er einen stechenden Schmerz verspürte. Er betrachtete seine Fingerspitze und sah wieder Blut - diesmal sein eigenes.
[»Du hast die Verschlüsse vergessen, Lois.«]
Sie sprach langsam und nuschelnd, wie eine Frau in einem Traum.
[»Nein, habe ich nicht - ich habe sie weggeworfen. Der grüne Mann hat es gesagt. Sei vorsichtig. Er schien… gütig…zu sein, aber ich bin mir nicht sicher, oder? Mr. Chasse hat immer gesagt, ich wäre die leichtgläubigste Frau auf der Welt und immer bereit, von allen nur das Beste zu denken. Von jedem.«]
Sie streckte langsam die Hand aus und ergriff seine Handgelenke, während sie ihm ununterbrochen ernst ins Gesicht sah.
»Ich weiß es einfach nicht.«
Daß sie den Gedanken laut aussprach, schien sie aufzuwecken, und sie schaute ihn blinzelnd an. Ralph vermutete, es wäre möglich - gerade noch denkbar -, daß sie tatsächlich geschlafen, daß sie diesen sogenannten »grünen Mann« geträumt hatte. Aber vielleicht wäre es klüger, einfach die Ohrringe zu nehmen. Sie bedeuteten vielleicht nichts, aber andererseits konnte es auch nicht schaden, Lois’ Ohrringe in der Tasche zu haben… das heißt, wenn er sich nicht daran piekste.
Lachesis: [Ralph, was ist denn? Stimmt etwas nicht?]
Er und Klotho waren langsam nachgekommen und hatten daher Ralphs Gespräch mit Lois nicht mitbekommen. Ralph schüttelte den Kopf und drehte die Hand, um die Ohrringe vor ihnen zu verbergen. Klotho hatte seinen Pullover aufgehoben und strich die wenigen bunten Blätter weg, die daran klebten. Dann hielt er ihn Ralph hin, der unauffällig Lois’ Ohrringe ohne die Verschlüsse in der Tasche verschwinden ließ, bevor er ihn wieder anzog.
Es wurde Zeit zu handeln, und die warme Linie in der Mitte seines Arms - entlang der Narbe - sagte ihm, womit er anfangen mußte.
[»Lois?«]
[»Ja, Darling?«]
[»Ich muß von deiner Aura nehmen, und zwar eine Menge. Verstehst du das?«]
[»Ja.«]
[»Ist das in Ordnung?«]
[»Ja, selbstverständlich.«]
[»Sei tapfer - es wird nicht lange dauern.«]
Er legte die Arme um ihre Schultern und verschränkte die Hände hinter ihrem Nacken. Sie wiederholte die Geste, dann beugten sie sich langsam zueinander, bis sie sich mit der Stirn berührten und ihre Lippen keine drei Zentimeter mehr auseinander waren. Er konnte noch Parfüm an ihr riechen -möglicherweise aus den dunklen, süßen Vertiefungen hinter ihren Ohren.
[»Bist du bereit, Liebste?«]
Was sie antwortete, fand er seltsam und tröstlich zugleich.
[»Ja, Ralph. Sieh mich an. Komm ins Licht. Komm ins Licht und nimm das Licht.«]
Ralph schürzte die Lippen und begann einzuatmen. Ein breites Band rauchigen Lichts strömte aus ihrem Mund und ihrer Nase in ihn. Seine Aura wurde augenblicklich heller, so lange, bis sie eine grelle, wolkige Korona um ihn herum bildete. Und immer noch inhalierte er weiter, atmete etwas jenseits des Atems und spürte, wie die Narbe an seiner Hand immer heißer und heißer wurde, bis sie einem unter seiner Haut begrabenen Starkstromkabel glich. Er hätte nicht aufhören können, selbst wenn er gewollt hätte… aber er wollte nicht.
Sie taumelte einmal. Er sah, wie ihr Blick verschwamm, und spürte, sie sich der Griff ihrer Hände in seinem Nacken kurz lockerte. Dann sah sie ihn wieder mit ihren großen, glänzenden Augen voll Vertrauen an, und ihr Griff wurde wieder fest. Als sich sein titanisches Einatmen schließlich dem Höhepunkt näherte, stellte er fest, daß ihre Aura so blaß geworden war, daß er sie kaum noch sehen konnte. Ihre Wangen waren leichenblaß, und ihr Haar so grau, daß das Schwarz fast nicht mehr zu sehen war. Er mußte aufhören, mußte, oder er würde sie umbringen.
Es gelang ihm, die linke Hand von der rechten zu lösen, und das schien gleichsam den Stromkreis zu unterbrechen; nun konnte er von ihr zurückweichen. Lois schwankte und wäre beinahe gestürzt, aber Klotho und Lachesis, die große Ähnlichkeit mit den Liliputanern aus Gullivers Reisen hatten, hielten sie an den Armen und ließen sie vorsichtig auf die Bank sinken.
Ralph ließ sich vor ihr auf ein Knie nieder. Er war außer sich vor Angst und Schuldgefühlen, gleichzeitig aber von einem so gewaltigen Gefühl der Macht durchdrungen, daß er den Eindruck hatte, als könnte ihn ein heftiger Ruck wie eine Flasche Nitroglyzerin zur Explosion bringen. Jetzt hätte er mit der Karateschlag-Geste ein Gebäude zum Einsturz bringen können - möglicherweise eine ganze Reihe davon.
Dennoch hatte er Lois verletzt. Möglicherweise schwer.
[»Lois! Lois, kannst du mich hören? Es tut mir leid!«]
Sie sah benommen zu ihm auf, eine vierzigjährige Frau, die innerhalb von Sekunden sechzig Jahre alt geworden war… und dann immer älter bis weit über Siebzig, wie eine Rakete, die über ihr anvisiertes Ziel hinausschießt. Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht besonders gut.
[»Lois, es tut mir leid. Ich wußte es nicht, und als ich es merkte, konnte ich nicht mehr aufhören.«]
Lachesis: [Wenn Sie überhaupt noch eine Chance haben wollen, Ralph, dann müssen Sie jetzt gehen. Er ist fast da.]
Lois nickte zustimmend.
[» Geh, Ralph - ich bin nur schwach, das ist alles. Ich komme schon wieder auf die Beine. Ich bleibe einfach hier sitzen, bis ich wieder bei Kräften bin.«]
Ihre Augen sahen nach links, und Ralph folgte ihrem Blick. Er sah den Penner, den sie vorhin in die Flucht getrieben hatten. Er war zurückgekehrt und suchte in den Abfalleimern auf dem Hügel weiter nach Pfandflaschen und -dosen, und auch wenn seine Aura nicht ganz so gesund aussah wie die des Burschen, den sie vorhin bei den alten Gleisen getroffen hatten, schätzte Ralph, daß er es für den Notfall tun würde… und für Lois war das eindeutig ein solcher.
Klotho: [Wir werden dafür sorgen, daß er hierher kommt, Ralph wir haben nicht viel Einfluß auf die stofflichen Aspekte der Welt der Kurzfristigen, aber ich denke, soviel werden wir schaffen.]
[»Sicher?«]
[Ja.]
[»Okay. Gut.«]
Ralph warf einen raschen Blick auf die beiden kahlköpfigen Männer, bemerkte ihre ängstlichen, furchtsamen Augen und nickte. Dann bückte er sich und küßte Lois’ kalte, runzlige Wange. Sie schenkte ihm das Lächeln einer müden alten Großmutter.
Ich habe ihr das angetan, dachte er. Ich.
Dann solltest du gefälligst dafür sorgen, daß es nicht umsonst war, sagte Carolyns Stimme brüsk.
Ralph sah die drei - Klotho und Lachesis flankierten Lois mittlerweile schützend auf der Bank - ein letztesmal an, dann ging er wieder den Hügel hinab.
Als er die Toiletten erreichte, stand er einen Moment dazwischen, dann lehnte er den Kopf an die mit der Aufschrift FRAUEN. Er hörte nichts. Aber als er den Kopf an die blaue Plastiktür der mit der Aufschrift MÄNNER legte, hörte er eine leise, hallende, singende Stimme: