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Lachesis, geduldig: [Ja, aber er ist nicht sicher vor Ed Deepneau, denn Deepneau hat weder im Plan noch im Zufall eine Bestimmung. Von allen Menschen auf der Welt kann nur Deepneau ihm ein Leid zufügen, bevor seine Zeit gekommen ist. Wenn Deepneau scheitert, ist der Junge wieder sicherer, wird seine Zeit ruhig verbringen, bis sein Augenblick gekommen ist und er die Bühne betritt, um seine kurze aber bedeutende Rolle zu spielen.]

[»Demnach bedeutet ein Leben so viel?«]

Lachesis: [Ja. Wenn dieses Kind stirbt, wird der Turm der gesamten Existenz fallen, und die Folgen dieses Falls übersteigen Ihre Vorstellungskraft. Und unsere ebenfalls.]

Ralph betrachtete einen Moment seine Schuhe. Sein Kopf schien tausend Pfund zu wiegen. Er hatte es hier mit einer Ironie zu tun, die er trotz seiner Müdigkeit mühelos begreifen konnte. Atropos hatte Ed in Bewegung gesetzt, indem er einen möglicherweise bereits latent vorhandenen Messiaskomplex zu hellen Flammen entfacht hatte. Ed sah nicht - und würde es auch nicht glauben, wenn man es ihm sagen würde -, daß Atropos und seine Bosse auf den höheren Ebenen ihn nicht benutzen wollten, um den Messias zu retten, sondern um ihn zu töten.

Er sah wieder in die ängstlichen Gesichter der beiden kahlköpfigen Ärzte.

[»Okay, ich habe keine Ahnung, wie ich Ed aufhalten soll, aber ich werde es versuchen.«]

Klotho und Lachesis sahen einander an und ließen beide dasselbe (und ausgesprochen menschliche) Lächeln der Erleichterung sehen. Ralph hob mahnend einen Finger.

[»Moment. Ihr habt noch nicht alles gehört.«]

Das Lächern erlosch.

[»Ich will etwas von euch zurück. Ein Leben. Ich tausche das Leben eures vierjährigen Jungen gegen -«]

Sie hörte das Ende davon nicht mehr; seine Stimme sank einen Augenblick unter die Schwelle des Hörbaren, aber als Lois sah, wie zuerst Klotho und dann Lachesis die Köpfe senkten, verließ sie der Mut.

Lachesis: [Ich verstehe Ihre Zwickmühle, zumal Atropos ganz sicher tun kann, was er angedroht hat. Aber Sie müssen einsehen, daß dieses eine Leben kaum so bedeutend ist wie -]

Ralph: [»Aber für mich schon, begreift ihr nicht? Für mich schon. Ihr Jungs müßt in die Köpfe bekommen, daß für mich beide Leben gleich wichtig sind -«]

Sie verstand wieder nicht alles, aber Klotho konnte sie deutlich verstehen; er war dermaßen verzweifelt, daß er fast winselte.

[Aber das ist etwas anderes! Das Leben dieses Jungen ist etwas anderes!]

Jetzt hörte sie Ralph deutlich sprechen (wenn man es überhaupt als sprechen bezeichnen konnte), und zwar mit einer furchtlosen, unerbittlichen Logik, bei der Lois an ihren Vater denken mußte.

[»Alle Leben sind verschieden. Alle sind wichtig oder keines ist wichtig. Das ist selbstverständlich nur meine engstirnige Kurzfristigenansicht, aber ich denke, ihr Jungs werdet euch damit abfinden müssen, da ich derjenige mit dem Hammer bin. Es läuft darauf hinaus: Ich mache einen Tausch. Das Leben, das euch wichtig ist, gegen das Leben, das mir wichtig ist. Ihr müßt mir nur euer Wort geben, dann sind wir uns einig.«]

Lachesis: [Ralph, bitte! Bitte verstehen Sie doch, daß wir das wirklich nicht dürfen!]

Es folgte ein langer Augenblick des Schweigens. Als Ralph wieder das Wort ergriff, war seine Stimme leise, aber trotzdem hörbar. Es war allerdings das letzte völlig deutlich Verständliche, das Lois von der Unterhaltung mitbekam.

[»Es besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen nicht können und nicht dürfen, meint ihr nicht auch?«]

Klotho sagte etwas, aber Lois verstand nur den zusammenhanglosen Ausdruck:

[Handel könnte möglich sein.]

Lachesis schüttelte heftig den Kopf. Ralph antwortete, und Lachesis antwortete mit einer grimmigen knappen Schneidegeste mit den Fingern.

Überraschenderweise reagierte Ralph darauf mit einem Lachen und einem Nicken.

Klotho legte seinem Kollegen eine Hand auf den Arm und unterhielt sich ernst mit ihm, bevor er sich wieder an Ralph wandte.

Lois verschränkte die Hände im Schoß und wünschte sich, sie würden zu einer Art Einigung gelangen. Irgendeiner Einigung, die Ed Deepneau daran hindern würde, die vielen Menschen zu töten, während sie hier nur herumstanden und redeten.

Plötzlich wurde der Hügel von gleißendem weißen Licht erhellt. Zuerst glaubte Lois, es käme vom Himmel herab, aber das lag nur daran, daß Mythos und Religion ihr beigebracht hatten zu glauben, daß der Himmel Ursprung aller übernatürlichen Erscheinungen war. In Wirklichkeit schien es von überall zu kommen - den Bäumen, dem Himmel, dem Boden, sogar aus ihr selbst, es strömte wie ein helles Nebelband aus ihrer Aura.

Dann ertönte eine Stimme… oder besser gesagt, eine STIMME. Sie sprach nur drei Worte, aber die hallten in Lois’ Kopf wie eherne Glocken.

[SO SEI ES.]

Sie sah Klotho, dessen kleines Gesicht eine Maske des Grauens und der Ehrfurcht war, in die Tasche greifen und die Schere herausholen. Er zitterte und ließ sie fast fallen, ein Zeichen von Nervosität, bei dem sich Lois richtig mit ihm verbunden fühlte. Dann hielt er sie aufgeklappt hoch, in jeder Hand einen Griff.

Die drei Worte ertönten wieder:

[SO SEI ES.]

Diesmal folgte aber ein so grelles Leuchten, daß Lois einen Moment glaubte, sie wäre blind geworden. Sie schlug die Hände vor die Augen, sah aber - im letzten Augenblick, als sie noch etwas sehen konnte -, daß sich das Licht in der Schere sammelte, die Klotho wie einen zweizackigen Blitzableiter hochhielt.

Es gab kein Entrinnen vor diesem Licht; es verwandelte ihre Lider und ihre erhobenen, die Augen abschirmenden Hände in Glas. Das Leuchten zeichnete die Knochen ihrer Finger wie bei einer Röntgenaufnahme ab, als es durch ihre Hand strömte. Weit entfernt hörte sie eine Frau, die sich verdächtig nach Lois Chasse anhörte, innerlich mit lauter Stimme sprechen:

[»Abschalten! Mein Gott, bitte schaltet es ab, bevor es mich umbringt!«]

Und als sie glaubte, sie könne es nicht mehr länger aushalten, begann das Licht endlich zu verblassen. Als es erloschen war -abgesehen von einem leuchtenden blauen Phantombild, das in der Dunkelheit schwebte wie eine Geisterschere -, schlug sie langsam die Augen auf. Einen Augenblick sah sie nichts als das gleißende blaue Kreuz und dachte, sie wäre wirklich erblindet. Dann kehrte die Welt zurück, zuerst vage wie bei einer Fotografie, die gerade entwickelt wird. Sie sah Ralph, Klotho und Lachesis, die ebenfalls die Hände sinken ließen und sich mit der blinden Bestürzung von Maulwürfen umsahen, deren Bau von einer Pflugschar freigelegt worden ist.

Lachesis betrachtete die Schere in der Hand seines Kollegen, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen, und Lois wäre jede Wette eingegangen, daß er sie noch nie wie jetzt gesehen hatte. Die Scherenblätter leuchteten immer noch und verströmten geisterhaften Feenschimmer von Licht wie Nebeltröpfchen.

Lachesis: [Ralph! Das war…]

Den Rest bekam sie nicht mit, aber er sprach im Tonfall eines gewöhnlichen Bauern, der zur Tür geht, weil es geklopft hat, und feststellt, daß der Papst auf ein Gebet und eine kleine Beichte vorbeigekommen ist.

Klotho starrte immer noch die Blätter seiner Schere an. Ralph ebenfalls, aber sein Blick wanderte zu den kleinen Ärzten.

Ralph: [»… die Schmerzen?«]

Lachesis, wie ein Mann, der aus einem tiefen Traum erwacht: [Ja… wird nicht lange dauern, aber… Schmerzen werden gewaltig sein… Meinung geändert, Ralph?]

Plötzlich hatte Lois Angst vor dieser leuchtenden Schere. Sie wollte Ralph zurufen, er solle sein Leben vergessen und den beiden einfach ihres geben, den kleinen Jungen, den sie unbedingt haben wollten. Sie wollte ihm sagen, daß er alles tun sollte, was sie wollten, damit sie die Schere wieder wegsteckten.

Aber weder aus ihrem Mund noch aus ihrem Geist kamen Worte.

Ralph: [»… im geringsten… wollte nur wissen, was ich zu erwarten habe.«]

Klotho: [… fertig?… muß sein…]

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