Tu etwas, flehte Lois ihn mit Blicken an. Bitte, Ralph.
Aber er wußte nicht, was er tun sollte. Er hatte nicht die geringste Ahnung.
Atropos’ Lächeln bekam einen gönnerhaften, gemeinen Beigeschmack.
[Keine Munition mehr, Kurzer, was? Das ist aber ein Jammer.]
[»Wenn du ihr wehtust, wirst du es herausfinden, du abgesägter Scheißkerl.«]
Atropos’ Grinsen wurde immer breiter.
[Du könntest mit deinem kümmerlichen Rest keiner Ratte eins überbraten. Warum bist du kein guter Junge und gibst mir den Ring, bevor ich -]
[»Oh, du Dreckskerl!«]
Das war Lois. Sie sah Ralph nicht mehr an, sie sah durch das Zimmer in den Spiegel, wo Atropos zweifellos Sitz und Aussehen seiner neuesten Modeaccessoires überprüfte -Rosalies Halstuch oder Bill McGoverns Panama. Ihre Augen waren groß und voller Wut, und Ralph wußte genau, was sie sah.
[»Die gehören MIR, du elender kleiner Dieb!«]
Sie warf sich heftig nach hinten und drückte Atropos mit ihrem größeren Gewicht gegen den Torbogen. Er stieß ein verblüfftes Grunzen aus. Die Hand, die das Skalpell hielt, flog in die Höhe; die Schneide löste trockene Schuppen Schmutz von der Wand. Lois drehte sich zu ihm um und verzerrte das Gesicht zu einer wütenden Grimasse - eine Grimasse, die so wenig dem Bild von »unserer Lois« entsprach, daß McGovern bei dem Anblick wahrscheinlich vor Schreck ohnmächtig geworden wäre, wenn er sie gesehen hätte. Sie zerkratzte ihm mit den Händen das Gesicht und griff nach den Ohrringen. Einer ihrer Finger grub sich in seine Wange. Atropos kläffte wie ein Hund, dem jemand auf die Pfote getreten war, dann packte er sie wieder an den Handgelenken und wirbelte sie herum.
Er drehte die Schneide des Skalpells nach innen und holte zum Stoß aus. Ralph streckte den Zeigefinger wie beim Schimpfen danach aus. Ein so kümmerlicher Lichtstrahl, daß er fast unsichtbar war, schoß aus dem Fingernagel, traf die Spitze des Skalpells und stieß es vorübergehend von Lois’ Ballonschnur weg. Und das war alles; Ralph spürte, daß seine persönlichen Reserven damit verbraucht waren.
Atropos fletschte die Zähne über die Schulter von Lois, die sich in seinen Armen wand und zappelte, in seine Richtung. Sie versuchte nicht, ihm zu entkommen; sie wollte sich umdrehen und ihn angreifen. Ihre Füße vollführten einen wilden Tanz, als sie sich wieder mit ihrem ganzen Gewicht gegen ihn warf und versuchte, ihn hinter sich an die Wand zu quetschen, und Ralph warf sich ohne die geringste Ahnung zu haben, was er tun wollte, nach vorne, fiel auf die Knie und breitete die Arme aus. Er sah wie ein leidenschaftlicher Freier aus, der einen theatralischen Heiratsantrag macht, und Lois hätte mit einem wilden Fußtritt fast seine Kehle getroffen. Er zog am Saum ihres Slips, der sich mit einem gleitenden Rauschen von rosa Nylon löste. Derweil kreischte Lois immer noch. [»Elender kleiner Dieb! Da hast du’sl Wie gefällt dir das?«] Atropos stieß einen Schmerzensschrei aus, und als Ralph aufschaute, konnte er sehen, daß Lois die Zähne in sein rechtes Handgelenk gegraben hatte. Mit der linken Hand, in der er das Skalpell hielt, schlug er blindlings nach ihrer Ballonschnur und verfehlte sie nur um einen knappen Zentimeter. Ralph sprang auf die Füße und zog, obwohl er immer noch keine klare Vorstellung davon hatte, was er tat, Lois’ rosa Slip über Atropos’ um sich schlagende Hand… und seinen Kopf. [»Weg von ihm, Lois! Lauf!«]
Sie spie seine kleine weiße Hand aus und stolperte auf den Faß-Tisch in der Mitte des Zimmers zu, während sie sich Atropos’ Blut mit einer atavistischen Gebärde des Ekels vom Mund wischte… aber ihr vorherrschender Gesichtsausdruck war immer noch Wut. Atropos selbst, momentan nur eine plärrende, sich windende Gestalt unter dem rosa Slip, tastete mit der freien Hand nach ihr. Ralph schlug sie weg und schob ihn unter den Torbogen zurück. [»Nein, mein Freund, das wirst du nicht-keinesfalls.«] [Laß mich los, Dreckskerl! Das kannst du nicht machen!] Und das Unheimliche daran ist, daß er das selbst glaubt, dachte Ralph. Es ist schon so lange alles nach seinem Willen gegangen, daß er völlig vergessen hat, was Kurzfristige tun können. Ich glaube, das kann ich ändern.
Ralph erinnerte sich, wie Atropos Rosalies Ballonschnur durchgeschnitten hatte, obwohl der Hund ihm die Hand leckte, und sein Haß auf diese großspurige, höhnische, auf eine selbstgefällige Art verrückte Kreatur explodierte plötzlich in seinem Kopf wie eine fäulnisgrüne Leuchtkugel. Er ergriff eine Seite von Lois’ Slip und drehte die Faust zweimal mit einer brutalen Geste herum, als wollte er etwas aufziehen, und zog dabei den Stoff so straff, daß sich Atropos’ Gesichtszüge wie unter einer rosa Nylontotenmaske abzeichneten.
Als die Schneide des Skalpells durch den Stoff stieß und ihn aufzuschlitzen begann, wirbelte Ralph Atropos herum, wobei er den Slip wie eine Schlinge durch die Luft schwang, mit der man einen Stein schleudert, und stieß ihn durch den Torbogen. Der Schaden wäre geringer gewesen, wenn Atropos gestürzt wäre, aber er stürzte nicht; seine Füße stießen zusammen, ohne sich jedoch zu überkreuzen. Er prallte klatschend gegen den Stein des Torbogens, stieß einen gedämpften Schmerzensschrei aus und sank auf die Knie. Blutflecken erblühten auf Lois’ Nylonslip wie Blumen. Das Skalpell war wieder in den Schlitz hineingezogen worden, den es in den Stoff geschnitten hatte. Ralph sprang zu Atropos, als das Skalpell gerade wieder erschien und den ursprünglichen Schnitt vergrößerte, so daß das bestürzte, glotzäugige Gesicht der kahlköpfigen Kreatur sichtbar wurde. Seine Nase blutete; ebenso die Stirn und die rechte Schläfe. Bevor er sich aufrichten konnte, packte Ralph ihn an den schlüpfrigen rosa Ausbuchtungen seiner Schultern.
[Aufhören! Ich warne dich, Kurzer! Es wird dir leid tun, daß du je gebo-]
Ralph achtete nicht auf diese sinnlosen Drohgebärden und stieß Atropos mit aller Kraft nach vorn. Der Arm des Zwergs war immer noch in dem Slip verstrickt, und er landete voll auf dem Gesicht. Sein Schrei war teils Erstaunen, aber überwiegend Schmerz. Unglaublicherweise spürte Ralph Lois in seinem Hinterkopf, die ihm sagte, genug sei genug, er solle ihm nicht wehtun - solle dem kleinen Psychopathen nicht wehtun, der gerade versucht hatte, sie zu töten. Atropos versuchte, sich umzudrehen. Ralph rammte ihm das Knie zwischen die Schulterblätter und zwang ihn wieder nach unten.
[»Keine Bewegung, mein Freund. Ich mag dich genau da, wo du bist.«]
Er sah Lois an und stellte fest, daß ihr überraschender Wutanfall so schnell verschwunden war, wie er gekommen war wie ein seltsames Wetterphänomen. Ein Tornado vielleicht, der aus heiterem Himmel herabstößt, das Dach einer Scheune herunterreißt und dann wieder verschwindet. Aber ihr Finger zitterte nicht, als sie auf Atropos deutete.
[»Er hat meine Ohrringe, Ralph. Der gemeine kleine Dieb hat meine Ohrringe. Und er trägt sie auch noch!«]
[»Ich weiß. Ich habe es gesehen.«]
Eine Seite von Atropos’ verzerrter Fratze ragte aus dem Schlitz im Nylon heraus wie das Gesicht des häßlichsten Babys der Welt im Augenblick der Geburt. Ralph konnte spüren, wie die Rückenmuskeln der kleinen Kreatur unter seinem Knie zitterten, und da fiel ihm ein altes Sprichwort ein, das er irgendwann einmal gelesen hatte… möglicherweise auf dem Etikett eines Teebeutels von Salada: Wer einen Tiger am Schwanz packt, sollte besser nicht loslassen. In dieser ungewöhnlichen unterirdischen Behausung, wo er sich vorkam wie der Held eines Märchens, das sich ein Irrer ausgedacht hatte, glaubte Ralph, daß er zu einem geradezu überirdischen Verständnis dieses Sprichworts gelangt war. Durch das Zusammenwirken von Lois’ Wutanfall und schlichtem Scheißglück, war es ihm zumindest vorübergehend gelungen, den widerlichen kleinen Scheißer unterzubuttern. Die Frage - eine ziemlich drängende obendrein - war nun, wie es weitergehen sollte.
Die Hand mit dem Skalpell schnellte in die Höhe, aber der Schlag war schwach und wurde blind geführt. Ralph konnte ihm mühelos ausweichen, zuckte aber vor dem Geruch zurück, den die Schneide verströmte: alte Fleischfetzen, die in vergessenen Ecken eines alten Schlachthauses verfaulten. Der schluchzende und fluchende, keineswegs ängstliche, aber eindeutig verletzte und von rasender, ohnmächtiger Wut erfüllte Atropos holte wieder aus.