Er betrachtete das Bild ein paar Sekunden fasziniert, fast hypnotisiert, dann wandte er den Blick mühsam ab und kroch hinter Lois her.
Ralph hatte Angst, sie würden wertvolle Zeit vergeuden, wenn sie versuchten, den Rückweg durch das Labyrinth der Gänge zu finden, die sich kreuz und quer durch Atropos Lagerhalle der Andenken zogen, aber wie sich herausstellte, war das kein Problem. Ihre eigenen Fußspuren, die zwar verblaßten, aber immer noch sichtbar waren, wiesen ihnen den Weg.
Als sie die schreckliche kleine Kammer hinter sich gelassen hatten, fühlte er sich ein wenig kräftiger, aber jetzt machte Lois beinahe schlapp. Als sie den Torbogen zwischen der Lagerhalle und der schmutzigen Behausung von Atropos erreichten, mußte sie sich auf ihn stützen. Er fragte sie, ob sie es schaffen würde. Lois brachte ein Schulterzucken und ein kleines, müdes Lächeln zustande.
[»Mein größtes Problem ist dieser Ort. Es spielt keine Rolle, wie weit wir emporsteigen, er ist und bleibt schrecklich, und ich hasse ihn. Ich glaube, wenn ich etwas frische Luft bekommen habe, geht es mir besser. Ehrlich.«]
Ralph hoffte, daß sie recht hatte. Als er sich unter dem Torbogen hindurch in Atropos’ Zimmer duckte, versuchte er, sich einen Vorwand auszudenken, unter dem er Lois voraus schicken konnte. Das würde ihm die Möglichkeit geben, die Behausung rasch zu durchsuchen. Wenn er die Ohrringe nicht finden konnte, mußte er davon ausgehen, daß Atropos sie noch trug.
Er bemerkte, daß ihr Slip wieder unter dem Rocksaum hervorhing, wollte sie darauf ansprechen und sah eine Bewegung aus dem linken Augenwinkel. Ihm wurde bewußt, daß sie auf dem Rückweg längst nicht so vorsichtig gewesen waren - was teilweise an ihrer Erschöpfung lag -, und daß sie jetzt möglicherweise einen hohen Preis für diese Sorglosigkeit zahlen mußten.
[»Lois, paß auf!«]
Zu spät. Ralph spürte, wie Lois Arm von ihm weggerissen wurde, als die Kreatur im schmutzigen Gewand sie an der Taille packte und rückwärts zog. Atropos’ Kopf reichte nur bis zu ihrer Achselhöhle, aber das genügte, daß er das rostige Skalpell über sie halten konnte. Als Ralph sich instinktiv auf ihn stürzen wollte, ließ Atropos die scharfe Klinge sinken, bis sie die perlgraue Schnur berührte, die von ihrem Scheitel emporschwebte. Er entblößte die Zähne zu einem unsäglichen Grinsen.
[Keinen Schritt weiter, Kurzer… keinen einzigen!]
Nun, jetzt mußte er sich zumindest keine Gedanken wegen Lois’ fehlender Ohrringe mehr machen. Sie funkelten trübe rötlich-rosa an Atropos Ohrläppchen. Ihr Anblick bewirkte mehr als die Aufforderung, daß Ralph stehenblieb.
Das Skalpell wurde ein wenig zurückgezogen… aber nur ein wenig.
[Also gut, Kurzer - du hast etwas genommen, was mir gehört, richtig? Versuch nicht, es zu leugnen; ich weiß es. Und jetzt wirst du es mir wiedergeben.]
Das Skalpell kehrte zu Lois’ Ballonschnur zurück; Atropos liebkoste sie mit der flachen Seite der Schneide.
[Du gibt es mir zurück, oder dieses Flittchen hier wird vor deinen Augen sterben - du kannst da stehen und zusehen, wie ihre Aura schwarz wird. Also, was sagst du, Kurzer? Her damit!]
Kapitel 26
Atropos’ Lächeln leuchtete regelrecht, erfüllt von widerlichem Triumph, erfüllt von -
Von Angst. Er hat dich kalt erwischt, er hält das Skalpell an Lois’ Ballonschnur und die Hand um ihre Kehle, und trotzdem hat er Todesangst. Warum?
[Komm schon! Hör auf, meine Zeit zu vergeuden, Pißkopf Gib mir den Ring!]
Ralph griff langsam in die Tasche und ergriff den Ring, während er sich fragte, warum Atropos Lois nicht gleich getötet hatte. Sicher hatte er nicht vor, sie - sie beide - gehen zu lassen.
Er hat Angst, ich könnte ihn mit einem dieser telepathischen Karateschläge umhauen. Und das ist nur der Anfang. Ich glaube, er hat auch Angst davor, daß er es vermasselt. Er hat Angst vor dem Ding - der Wesenheit -, die ihn dirigiert. Angst vor dem Scharlachroten König. Du hast Angst vor dem Boss, oder nicht, mein schmutziger kleiner Freund?
Er hielt den Ring zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand und sah wieder durch.
[»Komm und hol ihn dir, ja? Nicht so schüchtern.«]
Atropos verzerrte das Gesicht vor Wut. Der Ausdruck machte aus seinem nervtötenden, gemeinen Grinsen eine Zeichentrickgrimasse.
[Ich töte sie, Kurzer, hast du nicht gehört? Willst du das etwa?]
Ralph hob langsam und mit Bedacht die linke Hand. Er machte eine sägende Bewegung damit in der Luft und nahm dankbar zur Kenntnis, wie Atropos zusammenzuckte, als die Handkante kurz in seine Richtung zeigte.
[»Wenn du ihr auch nur einen Kratzer mit der Klinge zufügst, verpasse ich dir dermaßen eine, daß du deine Zähne mit dem Taschenmesser aus der Wand klauben mußt. Das ist ein Versprechen.«]
[Gib mir einfach den Ring, Kurzer!]
Sie können nicht lügen, dachte Ralph plötzlich. Ich weiß nicht mehr, ob mir das tatsächlich jemand gesagt hat oder ob ich es intuitiv geahnt halte, alter ich bin sicher, daß es stimmt - sie können nicht lügen, aber ich kann es.
[»Ich will dir was sagen, Mr. A. - versprich mir, daß wir einen Pakt geschlossen haben, und ich gebe ihn dir.«]
Atropos sah ihn mit einem verkniffenen Ausdruck von Argwohn und Zweifel an.
[Einen Pakt? Was meinst du mit einem Pakt?]
[•»Ralph, nein!«]
Er sah sie an, dann wieder Atropos. Er hob die linke Hand und kratzte sich am Kinn, ohne zu überlegen, wie die Geste für den kleinen kahlköpfigen Arzt wirken mußte. Das Skalpell wurde wieder gegen Lois’ Ballonschnur gepreßt, diesmal so fest, daß die Schnur eingedrückt wurde und sich ein kleiner dunkler Fleck an der Stelle des Kontakts bildete. Er sah wie eine Blutblase aus. Dicke Schweißperlen standen auf Atropos’ Stirn, und er sprach mit einem schrillen Unterton der Panik in der Stimme.
[Wage es nicht, welche von deinen Miniblitzen nach mir zu schleudern! Die Frau stirbt, wenn du das tust!]
Ralph ließ hastig beide Hände sinken und verschränkte sie hinter dem Rücken wie ein bußfertiges Kind. Eds Ring hielt er immer noch in der rechten, aber nun steckte er ihn fast ohne nachzudenken in die Gesäßtasche seiner Hose. Erst da war er vollkommen überzeugt, daß er den Ring nicht hergeben würde. Selbst wenn es Lois das Leben kosten würde - wenn es sie beide das Leben kosten würde - würde er ihn nicht hergeben.
Aber vielleicht würde es gar nicht soweit kommen.
[»Ein Pakt heißt, wir gehen beide unserer Wege, Mr. A. - ich gebe dir den Ring, du gibst mir meine Freundin zurück. Du mußt mir nur versprechen, daß du ihr nichts tust. Was meinst du?«]
[»Nein, Ralph, nein!«]
Atropos sagte nichts. Seine Augen sahen Ralph tückisch und vor Ohnmacht funkelnd an. Wenn er sich jemals in seinem langen Leben gewünscht hatte, er könnte lügen, dann mußte er es jetzt wünschen. Er müßte nur sagen: Abgemacht, ich bin einverstanden, und Ralph wäre wieder in Zugzwang. Aber das konnte er nicht sagen, weil er es nicht tun konnte.
Er weiß, daß er in einer Zwickmühle steckt, dachte Ralph. Es spielt eigentlich keine Rolle, ob er ihre Schnur durchschneidet oder sie gehenläßt - er wird denken, daß ich ihn so oder so rösten werde, und damit hat er nicht unrecht.
Wie sehr kannst du ihm wirklich schaden, Liebling? fragte Carolyn zweifelnd von dem Platz, den sie in seinem Kopf beanspruchte. Wieviel Saft hast du noch in dir, nachdem du das Leichentuch um den Ehering herum aufgeschnitten hast?
Die Antwort lautete unglücklicherweise: nicht viel. Vielleicht genug, um seinen Glatzkopf zu versengen, aber wahrscheinlich nicht genug, um ihn zu grillen. Und -
Dann sah Ralph etwas, das ihm gar nicht gefiel: Die Panik in Atropos’ Grinsen wich einer zaghaften Zuversicht. Und er spürte, wie diese irren Augen ihn eingehend studierten - sein Gesicht, seinen Körper, aber am meisten seine Aura. Ralph sah plötzlich als deutliche Vision einen Mechaniker, der mit einem Prüfstab nachsah, wieviel Getriebeöl sich noch in einem Auto befand.